XLI. Der von Riesinnen geraubte Königssohn.

[172] Árn. II S. 431–4. Nach der Erzählung des Schreiners Ebenezer in Flatey.


Ein Königssohn, namens Hlini, kommt auf der Jagd im Nebel seinem Gefolge abhanden und ist trotz allem Suchen auch später nicht mehr aufzufinden. Der trauernde Vater lässt bekannt machen, dass derjenige, der seinen Sohn wiederbrächte, das halbe Reich haben solle. Dies hört die Bauerntochter Signý, die in der Nähe des Schlosses mit ihren Eltern wohnt. Sie macht sich auf den Weg und kommt gegen Abend zu einer Höhle. Sie geht hinein und sieht drinnen zwei Betten stehen, das eine mit einem Silbertuche, das andere mit einem Goldtuche belegt. Wie sie näher hinschaut, entdeckt sie auf dem letzteren den Königssohn Hlini im tiefen Schlaf. Sie versucht ihn zu wecken, jedoch vergebens. Nun verbirgt sie sich sorgfältig, und kurz nachher kommen zwei Riesinnen in die Höhle. Die eine riecht, dass ein Mensch da ist, doch die andere meint, das käme nur von Hlini. Nun gehen sie ans Bett des Königssohnes und sagen:


»Sýngi, sýngi, svanir mínir,

Svo hann Hlini vakni.«


»Singet, singet, meine Schwäne,

Damit Hlini erwache.«


Darauf singen Schwäne, und Hlini schlägt die Augen auf. Nun fragt ihn die jüngere Riesin, ob er essen wolle. Er verneint es. Darauf fragt sie ihn, ob er sie heiraten wolle. Auch das verneint er entsetzt. Nun schläfert sie ihn wieder ein, indem sie sagt:


»Sýngi, sýngi, svanir mínir,

Svo hann Hlini sofni.«


»Singet, singet meine Schwäne,

Damit Hlini schlafe.«


Nachdem die Riesinnen gegessen haben, legen sie sich in dem Bette mit der Silberdecke zum Schlafe nieder. Am folgenden Morgen werden die gleichen Fragen an Hlini gestellt, und als er auf seiner Weigerung beharrt, schläfern sie ihn wieder ein und verlassen die Höhle. Kurze Zeit nachher kommt Signý aus ihrem Verstecke hervor und weckt den Königssohn auf die gleiche Weise, wie die Riesinnen es getan haben. Er begrüsst sie freudig. Das Mädchen gibt ihm nun einen guten Rat, wie er sich aus der Gewalt der Riesinnen befreien könne.[173] Er solle am Abend zur Hochzeit sich bereit erklären, wenn die Riesin ihm mitteilen wollte, was sie mit ihrer Schwester den Tag hindurch triebe, und was die Runen auf seinem Bette zu bedeuten hätten. – Bis zum Abend vertreiben sich die beiden darauf die Zeit mit Schachspiel, dann schläfert Signý den Prinzen wieder ein und versteckt sich. Bei der Heimkehr ist die Riesin sehr erfreut, den Königssohn zugänglicher zu finden. Auf seine Präge erzählt sie ihm, dass auf dem Bette folgendes Sprüchlein stände:


»Renni, renni, rekkja mín,

Hvert sem maður vill.«


»Renne, renne, mein Bett,

Wohin man dich haben will.«


Nun muss die Riesin ihm berichten, was sie den Tag hindurch im Walde treibe: Sie seien hauptsächlich auf der Jagd. Zur Erholung setzten sie sich dann unter eine Eiche und würfen, einander ihr Lebensei zu. Denn sie besässen zusammen ein Goldei, von dem ihr Leben abhinge. Sowie das zerbräche, wären sie beide tot. – Der Prinz dankt für die Auskunft und bittet dann, wieder eingeschläfert zu werden, da er sehr müde sei. – – Nachdem am folgenden Morgen die Riesinnen die Höhle verlassen haben, setzen sich Signý und Hlini aufs Bettchen, sprechen den Zauberspruch und fahren zur Eiche im Walde. Der Königssohn versteckt sich oben im Laube des Baumes, und wie die Unholdinnen lachend einander ihr Lebensei zuwerfen, durchbohrt er es mit seinem Spiesse. Im gleichen Augenblicke stürzen die beiden tot zu Boden. Nun fährt der Königssohn mit Signý zur Höhle zurück, sie beladen das Bett mit allen Kostbarkeiten, die sie finden und lassen sich dann zu den Eltern der Bauerntochter tragen. Nachdem Signý sich beim Könige vergewissert hat, dass sie den versprochenen Lohn für den Königssohn auch sicher bekommt, führt sie Hlini seinen Eltern wieder zu. Im Schlosse ist darauf grosse Freude, und der Prinz heiratet seine Retterin.

Die etwas länger ausgesponnene, bei Árn. folgende Erzählung »vom Königssohne Hlinik und der Bauerntochter Þóra« (Árn. II S. 434–40. Nach dem Manuskripte des Pastors Sveinbjörn Guðmundsson) ist eine Variante des obigen Märchens. Hier ist die Rede von drei Königssöhnen, von denen der älteste,[174] Hlinik, sich mit seiner Spielgefährtin, der Bauerntochter Þóra, schon früh heimlich verlobte. Wie nun der Prinz auf unerklärliche Weise abhanden kommt, macht sich seine Braut auf, ihn zu suchen. Sie geht zuerst zu ihrer zauberkundigen Pflegemutter, und diese teilt ihr mit, dass Hlinik in der Unterwelt von zwei Riesinnen gefangen gehalten würde. Damit Þóra den Weg dorthin finden kann, gibt sie ihr eine rotbraune Hündin mit – sowie es dunkel würde, solle sie sich an deren Schwanz halten. – Wie das Mädchen zum Prinzen kommt, sieht sie auf seinem Bette eine wunderbare Decke ausgebreitet. Über ihm hängt ein prachtvolles Schwert, und ferner liegen noch drei Steine, ein roter, schwarzer und weisser im gleichen Zimmer. – Auch hier stellt Hlinik die Bedingungen für seine Zustimmung zur Hochzeit, dass er erfahre, was die Decke, das Schwert und die Steine zu bedeuten haben. Die Decke ist nach Aussage der heiratslustigen Riesin ein Flugmantel, der einen nach jedem gewünschten Orte trägt. Mit dem Schwerte allein kann die Riesin und ihr Bruder Járnhaus getötet werden. Wenn man auf den schwarzen Stein sticht, so kommt Regen, durch den weissen Stein Schnee und durch den roten Stein Feuer. In dem letzteren müssten alle umkommen, ausgenommen sie, Járnhaus und diejenigen, die unter dem Flugmantel sich befänden. – Am folgenden Tage bringt Hlinik solch heftigen Feuerregen hervor, dass alle Unholde, die von den Schwestern zur Hochzeit geladen waren, in ihm umkommen. Nun fährt der Königssohn, reich beladen mit den Schätzen der Höhle, mit Þóra und der Hündin zu den Eltern zurück. Bald soll er denn auch mit seiner Retterin die Hochzeit feiern. Am Tage vorher gehen die beiden am Meeresstrande spazieren. Da sieht Hlinik ein wundervolles Schiff herankommen, und trotz der Warnungen seiner Braut geht er ihm entgegen. Er findet in ihm nur eine schöne Jungfrau, zu der er sogleich von Liebe ergriffen wird. Seine Braut und die Hochzeit hat er völlig vergessen. Er führt die Fremde zum Schlosse und bietet ihr Herz und Hand an. – – – Þóra erkennt sogleich, dass hierbei Zauberei im Spiele ist. Sie verkleidet sich als alter Bauer und weiss am Tage vor der Hochzeit mit der Fremden Hlinik zu überreden, seine neue Braut einmal zu[175] beobachten, wenn sie sich in ihrem Zimmer allein glaubt. Da sehen sie nun, wie das schöne Mädchen sich zur Riesin aus der Höhle verwandelt, wie der Bruder Járnhaus durch den Fussboden mit einem toten Hofherrn im Troge zu ihr ins Zimmer kommt, und wie sie beide zusammen den Mann verschlingen. – Nun weicht der Zauber von den Augen des Königssohnes. Er erinnert sich auch wieder an Þóra, die sich ihm nun in ihrer Verkleidung zu erkennen gibt. – – Am folgenden Tage hält Hlinik scheinbar Hochzeit. Wie die Braut auf dem Hochsitze neben ihm sitzt, tritt Þóra in den Saal. Bei ihrem Anblicke wechselt die Riesin die Farbe, doch ehe sie sich noch wehren kann, hat der Königssohn sie erschlagen. Als auf ihren Schrei durch den Fussboden ihr Bruder Járnhaus zur Hilfe eilt, wird auch er mit seinem eigenen Schwerte getötet. Hierauf feiern Hlinik und Þóra eine fröhliche Hochzeit.

Eine zweite Variante findet sich noch in einem Manuskripte der Landesbibliothek in Reykjavík (Lbs. 537 4 to). Es ist das Märchen von dem »Königssohn Sigurður und der Bauerntochter Helga«, das nach der Erzählung einer alten Frau im Skagafjörður aufgezeichnet wurde. – – Die zauberkundige Grossmutter, nicht Pflegemutter, gibt hier der Heldin Helga ein Knäuel, das ihr den Weg zeigen soll. Zugleich darf sie nur da übernachten und nur dort sich verstecken, wo das Knäuel es will. – In diesem Märchen ist von einer Riesin die Rede, die Sigurður nach drei Tagen zu töten droht, wenn er bis dahin nicht in die Heirat einwilligt. Auf den Rat seiner Jugendgespielin sagt nun am Abend der Königssohn, dass er sie wohl heiraten wolle, aber es nicht könne, denn sie seien dazu beide zu arm. Das will aber die Riesin nicht gelten lassen, und drum zeigt sie ihm alle ihre Schätze, zwei Kisten mit Gold und die dritte Kiste mit drei Kostbarkeiten, einem kleinen Goldbett, das aber jede beliebige Grösse annehmen kann, zweitens einem Flugmantel, und drittens einem Hut mit weissem, rotem und gelbem Rande. Wenn man mit der dazu gehörigen Stahlspitze den weissen Rand berührt, so entsteht ein furchtbares Unwetter. Beim Berühren des roten Randes kommt ein Feuerregen, und wenn der gelbe Rand bestrichen wird, so entsteht Wärme und Sonnenschein. – Am folgenden Morgen,[176] nachdem die Riesin gegangen ist, um alle Gäste zur Hochzeitsfeier zu laden, stellt sich Sigurður in den Höhleneingang und berührt abwechselnd den weissen und roten Rand des Hutes, so dass die Riesin mit ihren Genossen jämmerlich im Unwetter zu Grunde geht. Dann fährt das junge Paar ins Königreich zurück und hält Hochzeit.

Zu diesem Märchen weiss ich keine Parallelen nachzuweisen. Ich möchte auch fast vermuten, dass es isländischen Ursprungs ist, denn der Jüngling, der von Riesinnen geraubt wird, um eine von ihnen zu heiraten, ist im Isländischen ein beliebtes Thema der Riesensagen. Das Knäuel oder die Hündin, die den Weg weist, das Flugbett oder der Flugmantel, der Stein oder der Hut, durch den man ein Unwetter erzeugen kann, das den Riesen gemeinsame Lebensei, das Schwert, durch das allein die Riesin samt ihrem Bruder getötet werden kann – alles dieses findet sich auch schon in anderen Märchen verwandt.

Zu dem einschläfernden oder weckenden Gesang der Schwäne kann ich keine weiteren Belege anführen.

Die Fortsetzung in der zweiten Fassung, in der die Riesin in der Gestalt einer schönen Jungfrau den Prinzen zu berücken weiss, ist wenig motiviert. Ich möchte fast vermuten, dass diese Fortsetzung in Anlehnung an den Schluss der »vergessenen Braut« entstand. Dort haben wir ja auch das völlige Vergessen der Retterin – hier freilich durch den Kuss oder den Trunk erklärt – und die Heirat mit der fremden Jungfrau, die später als die Stiefmutter oder Grossmutter erkannt wird.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 172-177.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Müllner, Adolph

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Ein lange zurückliegender Jagdunfall, zwei Brüder und eine verheiratete Frau irgendwo an der skandinavischen Nordseeküste. Aus diesen Zutaten entwirft Adolf Müllner einen Enthüllungsprozess, der ein Verbrechen aufklärt und am selben Tag sühnt. "Die Schuld", 1813 am Wiener Burgtheater uraufgeführt, war der große Durchbruch des Autors und verhalf schließlich dem ganzen Genre der Schicksalstragödie zu ungeheurer Popularität.

98 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon