LV. Die zwölf Räuber.

[228] Lbs 536 4 to. Von Páll Pálsson in Árkvörn nach der Erzählung der alten Frau Guðríður Eyolfsdóttir 1863/4 niedergeschrieben.


(Steingrímur Thorsteinsson, der bekannte neuisländische Lyriker und Übersetzer der Märchen aus 1001 Nacht ins Isländische, sagte mir, dass auch er ein ähnliches Märchen in seiner Kindheit von einer alten Frau erzählt bekommen habe.)


Es waren einmal zwei Brüder, der eine äusserst reich, der andere sehr arm. Der arme ging an jedem Tage in den Wald, um durch die Jagd etwas zu verdienen. – – – Einmal ist er auch in der Nacht draussen im Walde. Da sieht er zwölf[228] Männer auf lichten Pferden in roten Kleidern vorbeireiten und bei einem Felsen Halt machen. Einer von ihnen klopft mit der Gerte auf den Stein und sagt: »Tu dich auf, mein Stein.« Darauf öffnet sich der Felsen, und alle gehen hinein. Am andern Morgen kommen sie alle wieder heraus. Derselbe Mann, der nun als Letzter hinausgeht, schlägt wieder an den Stein und sagt: »Schliesse dich zu, mein Stein.« Darauf schliesst sich der Felsen, und die Männer reiten fort. Sowie sie nicht mehr zu sehen sind, geht der Mann, der den ganzen Vorgang beobachtet hat, an den Felsen, schlägt auf ihn und spricht die gleichen Worte. Darauf öffnet sich dieser, so dass er hineingehen kann. Drinnen findet er vier Räume. Der erste ist ein Pferdestall, der zweite ist angefüllt mit Leichen, der dritte enthält sechs Betten, und der vierte ist voll von Gold und Kostbarkeiten. Hiervon nimmt er, soviel er nur tragen kann, beladet draussen sein Pferd, lässt dann den Felsen sich schliessen und reitet heim. Auf diese Weise holt er sich dreimal, nachdem er sich allemal vorher sorgfältig davon überzeugt hat, dass die Räuber fortgeritten sind, grosse Reichtümer aus dem Felsen. Einmal kommt seine Frau zu der reichen Schwägerin und leiht sich von ihr ein Mass. Diese ist neugierig, was die Frau mit ihm messen will, und bestreicht die Bodenritzen mit Pech. Wie sie das Mass zurückerhält, ist ein Golddukaten in ihm hängen geblieben. Nun stachelt sie ihren Mann auf, dass er in Erfahrung bringen müsse, woher der arme Bruder solchen Reichtum habe. Der geht dann auch und dringt so lange in ihn, bis er ihm alles erzählt. Zweimal nimmt er nun den reichen Bruder mit sich, damit auch dieser sich Schätze dort holen kann. Der Reiche ist aber so habgierig, dass er noch mehr haben will, und so geht er dann das dritte Mal in den Felsen, ohne dem Bruder etwas davon zu sagen. Wie er wieder hinaus will, hat er die Zauberformel zum Öffnen des Steines vergessen. Als das nächste Mal der Arme in den Felsen geht, findet er unter den Leichen auch seinen erschlagenen Bruder. Er nimmt ihn nun mit sich und bringt ihn zur Schwägerin, schärft dieser aber aufs strengste ein, keinem etwas davon zu sagen, dass ihr Mann getötet sei. – – – Nach einiger Zeit kommen zu ihm zwei Männer, die volle[229] Ölschläuche auf ihren Pferden haben. Sie bitten für sich um Nachtquartier und bitten auch darum, die Schläuche in ein leeres Haus legen zu dürfen. – Eine Dienstmagd wacht noch spät in der Nacht. Da ihr Öl mangelt, will sie den Schläuchen Öl entnehmen. Als sie einen Schlauch anzapft, hört sie aus ihm eine Stimme fragen »sollen wir sogleich kommen?« »Noch nicht«, sagt sie schnell gefasst. Nun läuft sie ins Haus und berichtet ihrem Herrn das Vorgefallene. Dieser erhitzt Pech und lässt es siedend in die Schläuche hinein. Ein Schrei ertönt, dann wird alles still. Nun weckt der Hausherr seine beiden Graste und lässt sie sogleich mit ihren Schläuchen weiterziehen. Er selbst aber bleibt Von dieser Zeit an unbehelligt und ist ein schwerreicher Mann.

Dieses Märchen enthält in bedeutend verkürzter Form die bekannte Geschichte »Ali Bâbâ und die vierzig Räuber« aus 1001 Nacht (7. Bd. XXI S. 59 ff.). Auch in anderen Märchensammlungen ist diese Erzählung vertreten, aber auch dort wird wie im Isländischen nur von zwölf Räubern berichtet. (Grimm 142 »Simeliberg« II S. 193 ff. und Gonz 79 »Die Geschichte von den zwölf Räubern« II S. 122 ff.). Ob man als Quelle für dieses Märchen 1001 Nacht ansehen muss, oder ob alle die Märchen, die dieses Thema behandeln, auf einen anderen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen sind, lässt sich nicht genau entscheiden. Der Umstand, dass in allen drei europäischen Märchen gleichmässig von zwölf Räubern erzählt wird, während in 1001 Nacht ihre Zahl vierzig beträgt, lässt fast vermuten, dass eine andere Quelle als die arabische Erzählung ihnen zu Grunde liegt.

Der für isländische Verhältnisse durchaus unmögliche Schluss mit den Ölschläuchen fehlt dem deutschen wie dem sizilianischen Märchen, findet sich aber in 1001 Nacht. Dieser Zug lässt wohl mit Sicherheit wenigstens auf eine orientalische Erzählung als Quelle schliessen.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 228-230.
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