LVII. Der dankbare Tote.

[232] Lbs. 537 4 to.


Ein Kaufmannssohn, namens Vilhjálmur, der allzu gutmütig und freigebig war, verliert hierdurch kurze Zeit nach dem Tode seines Vaters sein ganzes Vermögen. Er bezahlt noch all' seine Schulden, dann geht er fort, von allen Freunden im Stiche gelassen. Beim Ausgange aus der Stadt bettelt ihn noch ein armes Weib mit zwei Kindern um eine Gabe an. Er gibt ihnen seine letzten neun Goldstücke, so dass er nun nichts mehr besitzt. Nachdem er lange Zeit durch einen[232] tiefen Wald gegangen ist, kommt er an ein Haus. Er geht hinein und findet drinnen zwölf Betten. Er säubert das Haus, macht alle Betten zurecht und bereitet das Abendbrot. Am Abend kommen zwölf Räuber nach Hause. Vilhjálmur erzählt, er sei ein Kaufmannssohn, der wegen eines Diebstahls habe fliehen müssen. Er wolle gern hier bei den Zwölfen bleiben, nur wolle er nicht mit ihnen auf Raub ausziehen, denn er könne kein Blut sehen. Die Räuber nehmen ihn nun zur Besorgung des Haushaltes an und sind mit ihm auch sehr zufrieden. Eines Abends sieht er am Halse des Räuberhauptmanns, wie dieser sich auskleidet, ein kleines Schlüsselchen hängen. Als in der Nacht alle schlafen, nimmt er heimlich den Schlüssel, macht sich einen Abdruck von ihm und bringt ihn dann wieder an Ort und Stelle. Am folgenden Tage verfertigt er sich nun einen gleichen Schlüssel. Dann sucht er im ganzen Hause nach einer Türe, in die der Schlüssel passt. Endlich findet er eine solche im Bette des Räuberhauptmanns unter allem Bettzeug. Er öffnet sie, kommt in einen Erdgang und schliesslich in ein Erdhaus. Hier findet er eine Jungfrau an den Haaren gebunden und die Hände auf dem Rücken gefesselt. In ihrem Schosse steht eine Schüssel mit Speise. Vilhjálmur löst sie, gibt ihr zu essen und fragt, wer sie sei. Sie ist eine Königstochter, namens Ása. Der Räuberhauptmann hat sie von ihrem Vater geraubt und will sie nun zwingen, ihn zu heiraten. Vilhjálmur verspricht, sie zu retten, sowie sie zur Flucht kräftig genug geworden sei. Als dieser Zeitpunkt gekommen ist, reiten sie fort. Nach einer Weile werden sie von sechs Räubern verfolgt, und Vilhjálmur versteckt sich mit Ása in eine Höhle. Von hier aus tötet er einen Teil der Räuber durch Steinwürfe, die anderen erschlägt er mit dem Schwerte. Nun reiten sie weiter. Aber schon sind die sechs übrigen Räuber herangekommen. Trotz seiner Übermüdung muss Vilhjálmur auch gegen sie kämpfen. Ása steht ihm tapfer bei, indem sie sich ihrer Obergewänder entledigt und diese über die Räuber wirft. Endlich sind alle getötet, aber Vilhjálmur ist nun auch so schwer verwundet, dass die beiden in die Räuberherberge zurückkehren müssen, damit Ása ihn dort pflegen kann. Endlich nach einem halben Jahre ist er wieder reisefähig. Sie[233] packen nun alle Kostbarkeiten der Räuber auf Pferde und reiten aus dem Walde. In einer Stadt am Meeresstrande lassen sie sich nieder, um darauf zu warten, dass ein Schiff einmal in Ásas Heimat fährt. Eines Tages sieht Vilhjálmur, wie eine Leiche aus dem Kirchhofe ausgegraben und mit Stockhieben misshandelt werden soll, weil der Mann, ein Fremder, starb, ehe er seine Schulden bezahlen konnte. Vilhjálmur bezahlt diese für ihn und geht nicht eher vom Kirchhofe, bis die Leiche wieder ins Grab gelegt und alles in Ordnung gebracht ist. – – – Rauður, der Minister von Ásas Vater, der schon seit drei Jahren vergeblich nach der Königstochter suchte, kommt mit seinem Schiffe zum Hafen der Stadt. Das junge Paar erhält für sich auf dem Schiffe Fahrgelegenheit. Ása wird nun von Rauður erkannt und freudig begrüsst. Auf hohem Meere setzt der Minister Vilhjálmur in einem Boote ohne Ruder aus, und der Königstochter wird mit dem Tode gedroht, falls sie nicht einen Eid schwört, den Aussagen Rauðurs nie widersprechen zu wollen. Das gleiche Versprechen muss auch die Schiffsmannschaft leisten. Beim Könige gibt sich der Minister als den Retter der Tochter aus und bekommt nun ihre Hand zugesprochen. Auf Bitten Ásas wird jedoch die Hochzeit noch um ein halbes Jahr verschoben. – – – – Vilhjálmur treibt auf hohem Meere hilflos umher und hat Hunger und Durst zu leiden. Da erscheint ihm im Traume ein unbekannter Mann. Dieser sagt, er sei der Tote, den er vor Misshandlung geschützt, und für den er einst die Schulden bezahlt habe. Dafür wolle er sich jetzt dankbar erweisen und das Boot zum Königreiche von Ásas Vater bringen. Dort am Hofe solle er Pferdeaufseher werden. Im Stalle an einer bezeichneten Stelle würde er einen grossen Schatz finden. Den solle er zum Lohne für seine Gutmütigkeit behalten. Ása würde ihn wiedererkennen, und dann könnten sie gemeinsame Schritte zu ihrer Vereinigung unternehmen. – Alles geht nun so in Erfüllung. – Nachdem Ása mit ihrem wiedergefunden Retter das Nötige verabredet hat, erklärt sie dem Vater, dass sie nun mit der Hochzeit mit Rauður einverstanden sei. Aber nur unter der Bedingung, dass der Pferdewächter auch zum Feste geladen werde ...... Als beim Mahle die Freude am höchsten ist,[234] wird Vilhjálmur durch Ása aufgefordert, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Nach ihm soll dann Rauður das gleiche tun. Dieser will erst lügen, wird dann aber zur Wahrheit gezwungen. Zur Strafe seiner Untaten wird er an den höchsten Galgen gehängt, und Vilhjálmur feiert mit Ása vergnügt seine Hochzeit.

Bei Árn. findet sich das Märchen vom »dankbaren Toten« in ziemlich ähnlicher Weise behandelt (Árn. II S. 473–9. Nach dem Manuskripte vom Pastor Sveinbjörn Guðmundsson in Móar auf Kjalarnes). Der Held ist hier der Königssohn Þorsteinn, der durch seine leichtsinnige Verschwendung sein Königreich verliert. Auf einem Bauernhofe sieht er, dass der Bauer mit seinem Gesinde auf einen Hügel losschlägt, weil drinnen ein Mann begraben ist, der seine Schulden nicht bezahlt hat. Um dem Toten Ruhe zu verschaffen, zahlt der Königssohn die ausstehenden 200 Reichstaler. Nun kommt er zu einem Bauernhofe, der von Männern bewohnt wird, die mehr das Aussehen von Riesen wie von Menschen haben. Er besorgt ihnen fünf Jahre zu ihrer Zufriedenheit das Hauswesen. Um einen Abdruck des kleinen Schlüssels, den der Anführer immer bei sich trägt, zu erlangen, schlägt er eines Morgens heftig an die äussere Türe und schreckt dadurch die Räuber aus ihren Betten. Mit Kuchenteig an den Händen geht er in der Zwischenzeit zum Bette des Anführers und nimmt hier einen Abdruck von dem Schlüssel, den dieser in der Eile vergessen hatte. Auf diese Weise kann er sich einen Schlüssel anfertigen, der eine verschlossene Türe öffnet. Das sechste Jahr will er den Räubern dann nur unter der Bedingung dienen, dass er zum Lohne das mitnehmen dürfe, was in dem von ihnen verschlossenen Zimmer sei. Nach langem Sträuben wird ihm das dann auch versprochen. Er reitet nun nach sechsjährigem Dienste mit der in diesem Zimmer verborgenen Königstochter weg, wird aber verfolgt und muss sich verteidigen. Mit Hilfe der Königstochter besiegt er die Riesen. Sie kehren dann ins Räuberhaus zurück und warten hier auf ein Schiff. – Dem auf dem Meere ausgesetzten Königssohne hilft dann der dankbare Tote, dessen Grabhügel er einst beschützt hatte, in derselben Weise, wie es im vorhergehenden Märchen erzählt wird.[235]

Ich habe das noch ungedruckte Märchen hier an erste Stelle gesetzt und die bei Árnason gedruckte Erzählung nur als Variante behandelt, weil in der Geschichte des »Kaufmannssohnes Vilhjálmur« das Märchen »vom dankbaren Toten«, wie es in der Märchenliteratur ausserordentlich vieler Völker überliefert ist, besser erhalten ist, wie in der Geschichte von dem »Königssohne Þorsteinn«. Über dieses Märchen existiert eine sehr reichhaltige Literatur. Simrock hat in seinem Buche »der gute Gerhard und die dankbaren Toten« (Bonn 1856) diese Märchen mit der Dichtung Rudolfs von Ems in Zusammenhang gebracht. Zu den Nachweisen Simrocks bringt dann Köhler (Kl. Schr. I S. 5 ff. etc.) weitere interessante Ergänzungen. – – – Es handelt sich in all' diesen Märchen darum, dass ein Jüngling (Kaufmannssohn, Ritter, Königssohn) die Leiche eines verschuldeten Mannes vor den Misshandlungen seiner Gläubiger schützt, indem er – meist mit dem letzten Rest seines Geldes – die Schulden des Toten bezahlt und für die Beerdigung desselben sorgt. Nachher gerät dieser Jüngling in irgend eine Gefahr. Der dankbare Tote errettet ihn und vereinigt ihn durch seine Hilfe wieder mit der verlorenen Geliebten.

In den hier zur Vergleichung herangezogenen Schriften findet sich die älteste Bearbeitung dieses Themas in den »Gesamtabenteuern« (VI Rittertreue I S. 101 ff.). Hier ist der Schuldner in Mist vergraben und wird von einem Grafen mit seinem letzten Gelde ausgelöst. Der Tote kommt als Ritter auf prächtigem Rosse. Er überlässt es dem Grafen zum Turniere, wenn er ihm nachher die Hälfte des Gewinnes geben wolle. Da dieser in einer schönen und reichen Jungfrau mit all' ihrem Hab und Gut besteht, so glaubt der Graf, um nicht wortbrüchig zu werden, auf die Forderung des Ritters hin ihm die junge Gattin überlassen zu müssen, doch nun gibt sich der vermeintliche Ritter als der dankbare Tote zu erkennen, der nur noch seine Treue prüfen wollte. – – – Von der Hagen führt diese Erzählung auf ein altfranzösisches Rittergedicht von Herzog Herpin von Bruges zurück, das uns allerdings nur durch eine Übersetzung ins Deutsche und ins Isländische bekannt ist (Gesamt. I S. XCVI). – – – –[236]

Bei Strap. (11. Nacht 2. Fabel II S. 284 ff.) ist der Held ein Kaufmann, der zuerst für alles Gold, das er gerade besitzt, einen Leichnam und dann eine Prinzessin loskauft. Der Tote in der Gestalt eines Ritters hilft ihm hier in ähnlicher Weise wie in der altdeutschen Erzählung bei einem Turniere und verzichtet dann nachher gleichfalls auf die durch seinen Beistand gewonnene Prinzessin. – – – –

Zingerle behandelt dieses Thema in zwei verschiedenen Fassungen. Im »toten Schuldner« (3 S. 444 ff.) wird ein Leichnam, den er unterwegs misshandeln sieht, dann eine Prinzessin von einem Jüngling gekauft. Der dankbare Tote rettet ihn dann später von einer einsamen Insel und vereinigt ihn wieder mit seiner Gattin. Im folgenden Märchen (4 »der blinde König« S. 446 ff.) kommt der Geist des Verstorbenen zu einem Prinzen, der für seinen blinden Vater den Vogel Phönix holen will, und fordert ihn auf, einem Wirte seine Schulden zu bezahlen und seinem Leichnam ein ehrliches Begräbnis zu verschaffen. In der Gestalt eines Wolfes vereinigt er sich dann später mit dem Jüngling, um ihm bei der Erlangung des Vogel Phönix etc. zur Seite zu stehen. Im weiteren Verlaufe geht dann das Märchen in ein anderes Thema über, das uns hier nicht weiter beschäftigen kann. – –

Auch in dem zweiten Bande der norwegischen Märchen finden sich zwei Bearbeitungen dieses Themas. In dem einen Märchen (Asbj. 99 »Krambodgutten med Gammelostlasten« S. 198 ff.) ist der Held ein junger Kaufmann, der zuerst eine Leiche aus der Misshandlung, dann eine Prinzessin aus der Sklaverei befreit. Durch den Bruder und früheren Verlobten der Prinzessin wird er auf einer öden Insel ausgesetzt, doch durch den dankbaren Toten gelangt er ins Königreich zu seiner Geliebten. – – In dem anderen Märchen (Asbj. 100 »Følgesvenden« S. 201 ff.) kauft ein Bauernbursche den Leichnam eines Weinfälschers, um ihn vor weiterer Beschimpfung zu bewahren. Der Tote gesellt sich als Reisekamerad zu ihm und leistet ihm Hilfe, so dass er die drei Fragen einer Prinzessin beantworten kann und sie heiratet.

Bei Cosquin (19 »Le petit bossu« I S. 208 ff.) bezahlt ein Prinz gleichfalls die Schulden eines unbeerdigten Toten und[237] sorgt für sein Begräbnis. Dass jedoch der Tote sich dankbar erwiesen hätte, wird in dem Märchen nicht erzählt. –

In einem englischen Märchen (Jac. I »Jack the Giant-killer« S. 99 ff.) ist es nicht der Tote selbst, der sich für die Bezahlung seiner Schulden und die Beerdigung dem Sohne des Königs Arthur dankbar beweist, sondern ein Dritter, völlig Unbeteiligter, übernimmt die Rolle des dankbaren Toten und hilft dem Jüngling, alle Gefahren siegreich zu bestehen.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 232-238.
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