LXIV. Diggur und Ódiggur.

[254] Lbs. 537 4 to.


Ein Bauernpaar hatte zwei Söhne, Diggur und Ódiggur. Der letztere war der Liebling der Eltern und brauchte keine Arbeit zu tun, während Diggur immer draussen das Vieh hüten musste. Dort hinaus brachte ihm der Bruder täglich das Essen, nahm aber vorher für sich noch extra alle guten Bissen heraus. Eines Tages kommt er bei dieser Gelegenheit ganz nahe an den Bruder heran, ist ungewöhnlich zärtlich gegen ihn und streichelt ihn sogar. Dann plötzlich, ehe Diggur es sich versieht,[254] sticht er ihm beide Augen aus und läuft hohnlachend davon. – – Der Blinde tappt sich mühsam vorwärts in den Wald, bis er an eine Höhle kommt, in der er sich versteckt. Am Abend kommen drei Riesinnen nach Hause. Wie sie schon im Bette liegen, prahlt eine jede von ihnen mit einem Kleinod, das sie ihr eigen nennt. Die erste hat unter ihrem Kopfkissen ein Tuch, das jedem das verlorene Augenlicht wiederzugeben vermag. Die zweite hat das Schwert, durch das allein sie und ihre Schwestern getötet werden können. Und die dritte hat ein Horn voll vom besten Heiltrank. Jeder, der ihn trinkt, wird gesund, stark und kräftig wie nie zuvor. Nachdem die Riesinnen fest eingeschlafen sind, hält Diggur zuerst das Tuch vor die Augen und wird dadurch wieder sehend. Dann trinkt er einen langen Schluck aus dem Horne, so dass er grosse Stärke erlangt. Und schliesslich schlägt er den Riesinnen mit dem Schwerte den Kopf ab. Dann verbrennt er die Leichen und hält Umschau in der Höhle. Er findet hier neben vielen Gold- und Edelsteinen den Stier Gullhyrningur, der dem Könige jüngst gestohlen worden war. Da dieser bekannt gegeben hatte, dass derjenige, der ihn wiederbrächte, sein Eidam werden sollte, so heiratet Diggur die Prinzessin. – Wie Ódiggur von dem Glück seines Bruders hört, sticht er sich selbst beide Augen aus, um des gleichen Glückes teilhaftig zu werden. Aber in seiner Blindheit stürzt er einen steilen Felsen hinunter und kommt jämmerlich um.

Dieses Märchen, das, wie schon erwähnt, mit dem vorhergehenden Märchen manche gemeinsame Züge hat, ist ausserordentlich weit verbreitet. Schon im »Pantschatantra« (Benf. II S. 256 ff.) hört eine Frau, die mit einem schwerkranken Manne verheiratet ist, durch das Gespräch zweier Schlangen, wodurch ihr Mann zu heilen ist, und wie ein Schatz gehoben werden kann. – – In der Schwanksammlung von Pauli »Schimpf und Ernst« (S. 285 ff.) findet sich eine Erzählung von einem Herrn und seinem Diener. Der Herr behauptet, dass Falschheit und Untreue in der Welt regierten, während der Diener an die Redlichkeit der Welt glaubt. Beide wetten miteinander, und da die Ansicht des Herrn durch drei andere Leute bestätigt wird, so sticht der Herr dem Diener die Augen aus, die dieser als[255] Pfand gesetzt hatte. Der Geblendete verbringt die Nacht unter einem Baume im Walde. Er belauscht die Reden dreier Teufel und erfährt aus ihnen, dass unter dem Baume ein Kraut wächst, das Blindheit heilt. Durch dieses Kraut wird er dann wieder sehend. Er gebraucht nun auch das gleiche Mittel für die blinde Tochter eines vornehmen Herrn, die er zum Danke dann als Gattin heimführen darf. Sowie sein ehemaliger Herr von seinem Glück erfährt, verbringt er auch eine Nacht unter dem Baume. Die Teufel entdecken ihn aber und stechen ihm zur Strafe beide Augen aus. – – –

In der gleichen Weise wird im griechischen Märchen (Hahn 30 »Gilt Recht oder Unrecht?« I S. 209 ff.) erzählt, dass zwei Brüder sich darüber zankten, ob Recht oder Unrecht in der Welt regierten. Der infolge der verlorenen Wette Geblendete behorcht auf einem Baume das Gespräch von Teufeln und erfährt dadurch, wodurch er sehend wird etc. Wie sein älterer Bruder ihn später in Glück und Reichtum wiederfindet, wird er so neidisch, dass er tot zu Boden stürzt.

Bei Grimm (107 »Die beiden Wanderer« II S. 77 ff.) wird der gutmütige Schneider, der aber in seinem Leichtsinne zu wenig Proviant mitgenommen hatte, unterwegs für einige Stücke Brod von seinem bösen Kameraden, dem Schuster, geblendet. Durch die Unterhaltung zweier Krähen auf dem Galgen (vergl. Nr. LXIII) hört er, dass der Morgentau am Fusse des Galgens ihm das Augenlicht zurückgeben wird. Wie er wieder sehend geworden ist, verschont er trotz seines Hungers auf ihre Bitten eine Anzahl von Tieren, und diese helfen ihm dann später bei der Ausführung schwerer Aufgaben. – – Im norwegischen Märchen (Asbj. 48 »Tro og Utro« S. 248 ff.) handelt es sich um zwei Brüder auf der Wanderschaft. Der böswillige Utro isst zuerst des Bruders Reisevorräte auf, dann sticht er ihm beide Augen aus und verlässt ihn. Tro klettert auf einen Lindenbaum und belauscht hier das Gespräch vom Bär, Wolf, Fuchs und Hasen. Er erfährt dadurch, dass der Morgentau des Lindenbaumes seine Blindheit heilt, und dass das gleiche Mittel auch für den schon halbblinden König von England angewendet werden kann. Ferner hört er, dass des Königs taubstumme Tochter wieder gesund wird, wenn sie das Brod,[256] das sie einst vor dem Altare ausspuckte und das eine Kröte verschluckte, zu essen bekommt, dass durch Graben unter einem Steine im Garten eine Wasserquelle hervorsprudeln wird, und dass nach Entfernung einer schweren Goldkette, die in der Erde verborgen liegt, der Fruchtgarten des Königs die schönsten Früchte trägt. Tro macht sich das Gehörte zu Nutzen und wird zum Lohne der Schwiegersohn des Königs von England. Utro geht nun auch zu dem Lindenbaum, aber er erfährt nichts, da die Tiere, durch Schaden klug geworden, über ihre Geheimnisse nichts mehr einander erzählen wollen. – – –

Von den beiden abgedankten Soldaten (Cosquin 7 »Les deux soldats de 1689« I S. 84 ff.) sticht nach Übereinkommen der eine dem andern die Augen aus, damit sie besser betteln können. Bald wird er es aber leid, um den Blinden sich zu bekümmern und verlässt ihn. Dieser erfährt nun durch das Gespräch vom Fuchs, Wolf, Wildschwein und Reh, wie er wieder sehend wird, wie eine Prinzessin geheilt werden kann, und wie eine Stadt Wasser bekommt. Als später sein Kamerad ihn als Schwiegersohn des Königs wiederfindet, geht er zur gleichen Stelle, um die Tiere zu belauschen. Er wird aber von ihnen entdeckt und zerrissen. – – –

Einzelne Märchensammlungen haben sogar in mehreren Erzählungen dieses Thema behandelt. In 1001 Nacht findet es sich in der Geschichte »Der Neider und der Beneidete« (3. Bd. VII S. 160 ff.) und in der Geschichte von »Abū Nijje und Abū Nijjetein« (8. Bd. XXIV S. 33 ff.). In beiden Märchen kommt der gute Mensch durch die Böswilligkeit seines Kameraden in einen tiefen Brunnen. Durch das Gespräch von Dschinn oder Ifrîten hört er, wodurch die Tochter des Sultans zu heilen ist. In der zweiten Erzählung wird auch gesagt, auf welche Weise ein Schatz gehoben werden kann. In »Der Neider und der Beneidete« macht der Beneidete, der der Schwiegersohn des Sultans geworden war, seinem Neider grossmütigerweise noch allerhand Geschenke, in der zweiten Erzählung geht Abū Nijjetein zum gleichen Brunnen, der dann von den Ifrîten, während er drinnen sitzt, mit Steinen zugeschüttet wird. –[257]

Bei Schneller (11 »Der Blinde« S. 17 ff.) wird ein blinder Knabe von seinem Bruder, der ihn immer leiten soll, im Walde böswillig verlassen. Er hört durch ein Gespräch von Hexen, durch welches Mittel Blindheit zu heilen ist und Wasser in einem Brunnen wieder zum Hervorsprudeln gebracht werden kann. Er heilt sich und die Königstochter und wird dann der Schwiegersohn des Königs. – – In den beiden bei Schneller vorhergehenden Märchen (9 »Die zwei Reiter« S. 12 ff. und 10 »Die kranke Prinzessin« S. 14 ff.) wird gleichfalls von einem Manne das Gespräch von Hexen belauscht und dadurch in Erfahrung gebracht, wodurch ein Prinz bezw. eine Prinzessin von einer schweren Krankheit geheilt werden kann. – – – Auch Suterm. bringt in seiner Sammlung zwei Märchen, die dieses Thema behandeln. In der ersten Erzählung (43 »Der Wanderbursche auf der Tanne« S. 130 ff.) hört der eine von zwei Wanderern durch miteinander plaudernde Hexen, was getan werden muss, um eine Königstochter zu heilen. Sein Kamerad verlacht ihn, als er mit dieser Nachricht zum Königsschlosse sich aufmachen will. Nachdem ihm jedoch die Heilung der Prinzessin tatsächlich gelungen ist, begibt sich der zweite Wanderer auch auf die Tanne, wird aber entdeckt und von den Hexen zerrissen. – – In dem Märchen »Die zwei Brüder und die vier Riesen« (17 S. 142 ff.) belauscht ein Jüngling das Gespräch von Riesen und wird dadurch der Schwiegersohn des Königs. Sein älterer Bruder, der des gleichen Glückes teilhaftig werden will, wird von den Riesen in seinem Versteck gefunden und aufgefressen.

Dies sind die Parallelen, die ich zu diesen beiden isländischen Märchen in den verglichenen Sammlungen nachweisen kann. Bei Köhler (Kl. Schr. S. 282 ff.), bei Grimm III (S. 188 ff) und bei Cosquin (I S. 87 ff.) findet sich weitere Literatur zu diesem Märchen, das ausserordentlich weit verbreitet ist.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 254-258.
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