LXXIX. Die Augensalbe der Elben.

[303] Árn. I S. 13–15. Nach dem Manuskripte des Parlamentsmitgliedes Jón Sígurðsson auf Gautlönd.


Die Frau eines Sysselmannes auf Bustarfell im Vopnarfjörður war gewöhnt, im Winter immer ihren Leuten ein Zeichen zu geben, wenn sie morgens aufstehen sollten. Eines Tages schläft sie länger wie gewöhnlich, wird aber auf den Wunsch ihres Mannes nicht geweckt, damit sie nicht in einem Traum vielleicht gestört werde. Endlich erwacht sie und erzählt, dass ein unbekannter Mann zu ihr gekommen sei und sie gebeten habe, seiner Frau bei ihrer Entbindung beizustehen. Der Mann sei darauf mit ihr zu einem ihr bekannten Felsen in der Nähe des Gehöftes gewandert. Dort sei er dreimal rund um ihn gegangen, und da sei der Felsen zu einem kleinen, aber hübschen Hause geworden. Drinnen habe eine Frau in schweren Nöten gelegen. Wenn diese nicht Hilfe von einem Menschen bekomme, so müsse sie sterben, habe der Mann zu ihr gesagt. Darauf sei sie ans Bett getreten und habe gesagt »der gute Herr Jesus helfe dir!« Kurze Zeit danach habe die Frau zur Freude aller denn auch ein Kind geboren. Eine alte Frau, die auch anwesend gewesen sei, habe jedoch nach ihrem Ausspruche das ganze Haus sorgfältig gereinigt. Während sie das Kind gewaschen habe, habe sie auch eine Salbe bekommen, um diese ihm ins Auge zu streichen. Ganz unbemerkt habe sie nachher auch von dieser Salbe ein wenig an ihr rechtes Auge gebracht,[303] da sie diese Salbe für heilkräftig gehalten habe. Wie ihre Arbeit fertig gewesen sei, habe ihr die Wöchnerin zum Danke ein schönes Tuch geschenkt, und der Mann habe sie dann wieder nach Hause geführt. – – – Da nun die Frau tatsächlich das ihr geschenkte Tuch zum Vorschein bringt, ist in die Wahrheit ihrer Aussagen kein Zweifel zu setzen. Von dieser Zeit an bemerkt jedoch die Frau eine seltsame Veränderung mit ihrem rechten Auge. Sie vermag mit demselben jetzt alles das zu sehen, was ihr früher verborgen war. Sie bemerkt jetzt z.B., dass die scheinbaren Klippen und Hügel in der Nähe in Wahrheit Bauernhöfe sind, und dass dort ein Volk genau auf dieselbe Weise lebt wie die Menschen. Nur sind diese Leute in Bezug auf das Wetter viel erfahrener, und infolgedessen richtet sich die Sysselmannsfrau mit dem Trocknen und Einbringen des Heus genau nach ihren sonst unsichtbaren Nachbarn. – – – Einige Zeit nachher geht sie einmal mit ihrem Mann in die Kaufstadt. Hier sieht sie wie die Frau, der sie damals bei der Entbindung geholfen hatte, beim Kaufmann eine Menge schöner Waren sich zusammensucht, ohne dass sie und ihr Tun von den Leuten dort bemerkt werden kann. Sie geht auf die Elbin zu und begrüsst sie freundlich. Diese dreht sich aber wütend nach ihr um und speit ihr, ohne ein Wort zu sagen, in ihr rechtes Auge. Von diesem Augenblicke an kann die Sysselmannsfrau die Elbin nicht mehr sehen, ebenso sind auch die Wohnungen der Elben und ihr Tun und Treiben für immer wieder vor ihren Augen verborgen.

Árn. berichtet in den vier folgenden Erzählungen das ziemlich gleiche Erlebnis von vier anderen Frauen (Árn. I S. 15–19), von einem jungen Mädchen, das von der Wäsche weggeholt wurde, von einer älteren Bauernfrau, zu der der Elbe in die Küche kam, von einer Hebamme, die nachts aus ihrem Bette zur Hilfe gerufen wurde und von einer jung verheirateten Frau, die gerade beschäftigt war, für Weihnachten Speise Vorräte herauszugeben. Von dieser letzteren wird erzählt, dass sie viele Jahre hintereinander der Elbin in ihren Nöten beigestanden habe, bis diese endlich bei der letzten Geburt gestorben sei. Als sie dann nach einiger Zeit in der Kaufstadt mit ihrem einen Auge den verwitweten Gatten zu sehen vermochte und ihn begrüsste,[304] stiess er ihr schweigend einen Finger in dieses Auge, und von Stunde an war sie auf diesem Auge blind. –

Ich habe diese Erzählung aus den Elbensagen herausgegriffen, weil Jacobs eine Erzählung gleichen Inhalts in seine Sammlung englischer Märchen aufgenommen hat (Jac. I »Fairy Ointmont« S. 211 ff.). Eine Hebamme wird von einem seltsam aussehenden Manne eines Nachts geholt. Auf einem kohlschwarzen Pferde reiten sie lange Zeit, bis sie zu einer kleinen Hütte kommen. Drinnen liegt eine Frau im Bette und neben ihr ein kleines Kind. Auf die Bitte der Mutter bestreicht die Hebamme die Augen des Kindes mit einer Salbe. Sowie sie sich unbemerkt weiss, salbt sie dann gleichfalls ihr eigenes rechtes Auge. Nun erkennt sie auf einmal, dass die vermeintliche Hütte mit grosser Pracht ausgestattet ist, und dass die junge Mutter eine schöne Dame ist, die in weisse Seide gekleidet im Bette liegt. Sie sorgt nun, ohne von ihrer Entdeckung etwas zu sagen, für Mutter und Kind und wird dann von dem Manne wieder heimgebracht. – – – Am folgenden Tage sieht sie ihn auf dem Markte, wie er von den Leuten unbemerkt von den verschiedenen Verkäufern allerhand wegstiehlt. Sie begrüsst ihn freundlich, er schlägt ihr jedoch zum Danke ins Auge, sodass es erblindet. – – – – –

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 303-305.
Lizenz:
Kategorien: