1. König Oddur.

[316] Lbs. 438 4 to. Von Margrét Jónsdóttir von Undirfell.


Einst lebte ein alter König, der weder Frau noch Kinder besass. Seinem Volke machte das grossen Kummer, denn man wusste nicht, wer nach ihm die Regierung übernehmen sollte. – – – Nun wird der alte König von einem fremden König, namens Oddur, mit einem grossen Heere überfallen. Es kommt zu einer Schlacht, in welcher der alte König getötet wird. König Oddur nimmt sein Reich in Besitz, und da er gerecht und milde regiert, gewinnt das Volk auch ihn bald lieb. Im ersten Herbste seiner Regierung kommt ein Mann zu ihm, der ihn um Aufnahme für den Winter bittet. Der König geht auf seinen Wunsch unter der Bedingung ein, dass er bis zum ersten Sommertage ihm etwas über ihn, den König, sagen könne, was sonst niemand von den Untertanen wisse. Könne er das nicht, so müsse er sterben. Der Mann geht auf diese Bedingung ein. Wie jedoch am ersten Sommertage König Oddur seinen Gast fragt, erklärt dieser, über den König nicht mehr zu wissen, wie alle übrigen. Darauf lässt Oddur, so schwer es ihm auch zu werden scheint, den Mann sofort töten. Auf diese Weise wird nun sechs Jahre hintereinander jedesmal der Wintergast auf Befehl des Königs am ersten Sommertage hingerichtet. Im siebenten Jahre kommt wieder ein Fremder und ersucht um Aufnahme für den Winter. Wie er die Bedingung hört, bittet er sich aus, während seines Aufenthaltes im gleichen Zimmer mit dem Könige schlafen zu dürfen. Das wird ihm zugestanden, und immer beobachtet er den König Tag und Nacht, ohne irgend etwas Auffälliges zu entdecken. So kommt die Weihnachtsnacht heran. Wie gewöhnlich stellt der Gast sich schlafend, um ungestört den König beobachten zu können. Als dieser glaubt, dass sein Gefährte fest eingeschlafen sei, schleicht er sich zum Zimmer hinaus. Ihm folgt der Wintergast und sieht nun, wie der König zu einem Sumpf eilt, in ihn sich hineinstürzt und untertaucht. Der Fremde folgt, ohne sich zu besinnen, seinem Beispiele. Fast zu gleicher[316] Zeit mit dem Könige gelangt er auf den Boden des Sumpfes in ein schönes, blühendes Gefilde, wo eine grosse Volksmenge sich belustigt. Sowie die Leute König Oddur erblicken, eilen sie ihm alle ehrerbietig zu seiner Begrüssung entgegen. Der Prächtigste von allen, augenscheinlich der König, umarmt und küsst sogar Oddur lange und innig mit besonderer Zärtlichkeit. Nun wandern alle dem Schlosse zu, in dem König Oddur mit dem fremden Könige für eine Weile verschwindet. Wie er zurückkehrt, ist er in prächtige Frauenkleider gehüllt und wandelt nun mit dem Herrscher des Reichs und dessen Hofstaat wie eine Königin zur Kirche. Auf den Gottesdienst folgt im Schlosse ein Festmahl, bei welchem König Oddur im Hochsitze neben dem fremden Könige Platz genommen hat. Er ist in dem festlichen Kreise trübe gestimmt. Auf Befragen erzählt er, dass er auch dieses Jahr wieder einen Wintergast angenommen habe. Dieser achte freilich sehr auf sein Tun und Treiben, aber wenn auch er am ersten Sommertage sein wahres Geschlecht nicht kenne und er ihn töten müsse, dann sei auch die letzte Frist verstrichen, dann dürfe er nimmer zum Gatten in die Unterwelt zurückkehren. – Alles dieses sieht und hört der Wintergast unbemerkt an. Sowie es ihm scheint, dass König Oddur zum Fortgehen sich anschickt, eilt er vor ihm ins Schloss zurück und liegt bei der Heimkehr des Königs wieder scheinbar im tiefsten Schlafe. – – In den nächsten Monaten wird König Oddur so niedergeschlagen und trübe gestimmt, dass ihn nichts mehr zu erfreuen vermag, und sogar die Regierung des Landes ihm gleichgültig ist. Er überlässt alles dem Wintergaste. Das Volk und die Edeln sind mit dessen Leitung auch so zufrieden, dass sie beschliessen, ihn zu schützen, falls König Oddur ihn wie die andern töten lassen wolle. So kommt der erste Sommertag herbei. König Oddur richtet nun wie gewöhnlich die Frage an den Wintergast, ob er etwas über ihn wisse, das den übrigen verborgen sei. Nicht viel, meint dieser, aber es wolle ihm nur scheinen, als wenn es passender für das Geschlecht des Königs sei, eine andere Art von Gewand zu tragen wie dasjenige, welches er auf der Oberwelt zu tragen pflege. Sowie Oddur dies hört, umarmt er seinen Gast und dankt ihm innig für diese Rede. Dann[317] beruft er eine Volksversammlung und überträgt hier dem Wintergast die Regierung, da er selbst beabsichtige, für immer seine alte Heimat aufzusuchen.

Unter den Elbensagen finden sich bei Árn. I S. 105–16 allein vier längere Erzählungen von der zu den Menschen verwünschten Elbin, die erst dann erlöst werden kann, wenn ihre wahren Lebensverhältnisse den Menschen bekannt werden.

Unserm Märchen am nächsten steht die Erzählung von

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 316-318.
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