2. Snotra.

[318] Árn. I 115/6. Vom Bauern Jón Sigurðsson in Njarðvík in der Múlasýsla erzählt.


In grauer Vorzeit kommt einmal eine vornehme Frau, von der niemand weiss, woher sie stammt, nach Nes im Borgarfjörður und lässt sich hier nieder. Sie wird Eigentümerin eines prächtigen Bauerngutes, zu dessen Bewirtschaftung sie einen Verwalter mietet. Diesem stellt sie die Bedingung, dass er ihr nach Weihnachten sagen müsse, wo sie während der Festtage gewesen sei. Könne er das, so verspreche sie ihm hohen Lohn – könne er das nicht, so koste es sein Leben. Da der Verwalter nach Weihnachten nichts zu sagen weiss, verschwindet er spurlos. So geht es mehrere Jahre hindurch, bis endlich einer sich wachsamer erzeigt. Er folgt seiner Herrin Snotra, wie sie zu Weihnachten das Gehöft verlässt. Sie geht zum Seestrande und nimmt ein lichtfarbiges Tuch, das sie sich über den Kopf zieht. Dem Verwalter, den sie bemerkt, reicht sie schweigend ein gleiches Tuch. Dann stürzt sie sich in das Wasser, und der Verwalter folgt kühn ihrem Beispiel. Sie gelangen in ein schönes Land, das sie durchwandern, bis sie zu einer prächtigen Burg kommen. Snotra weist hier ihrem Gefährten durch Zeichen seinen Aufenthalt in einem Nebengebäude an, von wo er durch ein Fenster beobachten kann, dass ein König mit seinem Hofstaat in einem Prunksaale versammelt ist, und dass Snotra königlich geschmückt neben ihm den Hochsitz einnimmt. Im Saale herrscht Abend für Abend Lust und Fröhlichkeit, Tanz und Musik. Dem Verwalter wird täglich durch eine junge Frau Speise gebracht, sonst kümmert sich niemand um ihn. Am letzten Abend sieht[318] er, wie streitende Leute vor den König kommen, einige Männer und zwei Frauen, von denen jede der andern vorwirft, am Tode eines neugeborenen Kalbes schuld zu sein. Schliesslich erhebt sich ein solches Gezänk, dass der König über die Streitenden wütend wird und vor Zorn sich kaum zu lassen weiss. – – Wie Snotra sich von den Ihrigen verabschiedet hat, folgt ihr der Verwalter auf dem gleichen Wege heimwärts und legt sich dann schlafen. Am folgenden Morgen tritt die Herrin vor sein Bett und fragt ihn, ob er ihr sagen könne, wo sie die Weihnachtstage zugebracht habe. Er behauptet zuerst, das nicht zu wissen, fügt dann aber folgenden Vers hinzu:


»Deildu tvær um dauðan kálf,

Drottning mín það veiztu sjálf;

Ogurlegt var það orðagjálfur,

Ýfrið reiður varð kongurinn sjálfur.«


»Es zankten sich, zwei Frauen über ein totes Kalb;

Frau Königin, das weisst du selbst.

Scheusslich war das Wortgezänk,

Sehr böse wurde sogar der König.«


Wie Snotra das hört, erklärt sie, nun endlich aus ihrer Verwünschung erlöst zu sein. Sie dürfe jetzt zu ihrem Manne zurückkehren, zum Dank wolle sie aber dem Verwalter das ganze Bauerngut zum Geschenk machen.

Während in den bisherigen beiden Erzählungen nicht erwähnt wird, aus welchem Grunde die Elbenkönigin in dieser Weise verwünscht wurde, gibt das Märchen

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 318-319.
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