Vorwort.

[5] Indem ich dem deutschen Publikum eine Sammlung isländischer Märchen vorlege, möge es mir gestattet sein, einige Bemerkungen über das Volk, dem dieselben angehören, vorauszuschicken.

Das traurige, abgeschiedene Eisland im nördlichen Ocean lenkt ja nur selten die Blicke der übrigen Welt auf sich. Obwohl an Größe das Königreich Baiern übertreffend und in alter Zeit ein blühender Freistaat, spielt die merkwürdige, jetzt zu Dänemark gehörige Insel außerhalb Skandinaviens doch keinerlei Rolle im Weltverkehr. Den meisten Gebildeten ist Island nur bekannt und interessant wegen seiner Naturwunder, welche immer Gelehrte und Neugierige angelockt und beredte Schilderer gefunden haben. Allein die Aufmerksamkeit und das Interesse der Besucher blieb auch fast nur auf diese Phänomene allein concentrirt; die sonstige Beschaffenheit dieses Eilandes, die socialen, wirthschaftlichen und culturellen Verhältnisse auf demselben fanden nur selten gebührende Beachtung und ernstes Studium durch die Fremden. Die ungeheuren Gletscher und Eisfelder, welche einen großen Theil der Insel bedecken – der Vatnajökull oder Klofajökull im Südosten des Landes erstreckt sich allein über einen Flächenraum von 150 Quadrat-Meilen –, die Stein- und Lavawüsten, welche zusammen über 120 Quadrat-Meilen einnehmen, schrecken den hastenden Schritt des fremden Wanderers zurück oder hemmen ihn auch durch unüberwindliche Hindernisse. Schwer ist es auch für den Ausländer das Volksleben kennen zu lernen, da die einzelnen Gehöfte weit von einander entfernt sind und nur an[5] den wenigen Hauptorten und Handelsplätzen ein engeres Zusammenleben sich entfaltet. Ueberdies sind die Reisenden, welche Island besuchen, zumeist der Landessprache nicht mächtig und auch mit der geschichtlichen Entwicklung des Volkes nicht vertraut, und somit ganz außer Stande, die Nationaleigenschaften des letzteren und die weniger nach Außen sich zeigenden Seiten seines Lebens und Treibens richtig zu erkennen und zu beurtheilen. Die Berichte über Island und seine Bewohner leiden daher gewöhnlich an großer Unzuverläßlichkeit und lauten denn auch nicht selten widersprechend, so daß die wahren Verhältnisse des Landes unbekannt bleiben. Mir ist von neueren deutschen Islandfahrern nur ein Mann bekannt, der diesen Bedingungen ganz entsprochen hat; es ist dies der namhafte Münchener Rechtsgelehrte und ausgezeichnete Kenner der altnordischen Zustände: Professor Conrad Maurer. Derselbe hat die Insel zweimal zu wissenschaftlichen Zwecken bereist und Land und Leute wie kein Zweiter in neuerer Zeit kennen gelernt. Von ihm erfuhren wir denn auch, daß das Leben auf Island trotz der Armuth, Unwirthlichkeit und Traurigkeit des Landes keineswegs so freudlos, der Volkscharakter keineswegs so trüb sei, als Beides in den Berichten so mancher Reisenden dargestellt wird. Es ist wahr, das isländische Temperament ist cholerisch-melancholisch und Ruhe und Ernst ist ein Hauptzug des ganzen Volkes; der düstere Charakter des Landes und seines Klimas hat in Verbindung mit dem entschwundenen Ruhme der Vorfahren einen tiefen Eindruck auf den Geist der Isländer gemacht. Besonders den Fremden gegenüber legt der Bewohner Islands eine Verschlossenheit an den Tag, die oft mißverstanden wird, aber ganz natürlich erscheint, wenn man bedenkt, daß sich der Reisende fast nie mit den Leuten in ihrer Landessprache verständigen kann. Man hat oft auch in jüngster Zeit den Isländern aus diesem Grunde sogar den Vorwurf der Stumpfsinnigkeit gemacht – eine Ungerechtigkeit, welche den Kenner dieses intelligenten Volkes geradezu empören muß.

Ich will es versuchen, auf Grund und mit Benützung der Berichte C. Maurer's (vergl. Germania, Vierteljahrschrift für[6] deutsche Alterthumskunde, XIV. Bd., S. 97 ffg.) und der zuverläßlichsten neuesten Daten, die ich zumeist aus isländische Schriften selbst sowie aus brieflichen Mittheilungen isländischer Freunde schöpfe, eine flüchtige Skizze über das Leben und die Lebensbedingungen auf Island zu entwerfen.

Island, welches einen Flächenraum von 1867 Quadrat-Meilen umfaßt, ist jetzt von rund 70.000 Menschen bewohnt. (Die Volkszählung vom 1. October 1880 ergab eine Bevölkerungszahl von 72.440 Köpfen, während am 1. October 1870 nur 69.763 Seelen gezählt wurden). Trotz der immer sich mehrenden Auswanderungen nach Amerika hat also die Zahl der Bevölkerung in der letzteren Zeit um ein Beträchtliches zugenommen. In den zehn Jahren von 1870 bis 1880 sind beinahe um die Hälfte mehr Menschen geboren als gestorben. Der Grund dieser raschen Vermehrung liegt in der großen Heirathslust der Isländer, welche nachgerade zu einer Plage einzelner Gemeinden geworden ist, indem sich arme Leute verheirathen, die für ihre Nachkommenschaft wenig Sorge tragen können. Dennoch ist beinahe ein Fünftel aller Kinder unehelich geboren.

Die Hauptsubsistenzmittel der Isländer sind im Allgemeinen die Viehzucht und die Fischerei; beides ist so ergiebig, daß die Insel eine viel größere Volksmenge ernähren könnte. Den mit der Viehzucht verbundenen Landbau zur Gewinnung von Heu betreiben mehr als 50.000 Menschen; doch steht der Grasanbau, von dem das Wohl der Bauern fast allein abhängt, noch auf einer sehr niedrigen Stufe, obschon in den letzteren Jahren nach dieser Richtung hin einige Fortschritte gemacht wurden. Wenn man bedenkt, daß es nur beiläufig 20 Quadrat-Meilen Grasland gibt, und dieses nur schlecht bebaut ist, davon aber doch alles Vieh im Winter lebt, so kann man ersehen, daß bei einem rationellen Betriebe des Landbaues, und namentlich durch Urbarmachung weiteren Landes für den Grasanbau, noch viel mehr Vieh fortkommen und daher auch mehr Menschen auf der Insel leben könnten. Besondere Sorgfalt wird jetzt nur den Grasgärten vor den Höfen, den sogenannten »tún« zugewendet,[7] welche denn auch ausgezeichnetes, fettes Heu geben; dieselben umfassen jedoch zusammen nur 3–4 Quadrat-Meilen im ganzen Lande. Getreide, Hülsenfrüchte und so mancherlei andere Nahrungsmittel producirt das Land so gut wie gar nicht, und auch Gartenbau findet sich nur vereinzelt; am meisten baut man noch Kartoffeln, welche gut gedeihen, weniger Kohl. Der Kartoffelbau wird besonders im Südlande betrieben. Zierpflanzen u.dgl. werden außer in Reykjavík und in geringer Anzahl in Akureyri nur äußerst selten angetroffen. Die Anzahl der Hausthiere ist in neuerer Zeit viel geringer als im Alterthum. Es gibt jetzt nur wenig Höfe auf der Insel, wo sich zwanzig Kühe befinden, während in der alten Zeit 40, 60 ja oft über 100 Kühe auf einem einzigen Hofe nicht selten waren. Die Kinder werden immer mehr durch die Schafe verdrängt, was im Interesse der Bevölkerung umsomehr zu beklagen ist, als die Kühe auf Island wegen des guten fetten Futters eine vorzügliche Milch geben und überdies nicht so vielen ungünstigen Zufällen ausgesetzt sind wie die Schafe. Die Milch dient theils zur directen Nahrung, theils wird sie zur Bereitung von Butter, seltener auch von Käse verwendet. Den Haupternährungszweig der Isländer bildet aber, wie schon angedeutet, die Schafzucht. Das isländische Schaf gehört zu der im Norden Europas verbreitetsten Species: O, vis brachyura borealis; doch gibt es auf der Insel selbst wieder mehrere nicht wesentlich (hauptsächlich bezüglich der Qualität der Wolle) von einander verschiedene Arten. Die Gebirgsschafe z.B. haben in der Wolle langes, grobes, flachsähnliches Haar. Man zählte zuletzt nach der ausgeführten Wolle 800.000 Schafe auf Island. Die Schafzucht selbst ist in den verschiedenen Theilen des Landes verschieden und hängt von localen Verhältnissen ab. Das Galtvieh wird im Sommer auf die Hochweiden getrieben und hier sich selber überlassen. Nicht selten geschieht es denn, daß Thiere im Schnee zu Grunde gehen; aber auch die Fluth rafft manches Stück von den am Meeresstrande gelegenen Weiden hinweg. Diese Verluste sind jedoch noch gering im Vergleiche mit denjenigen, welche verschiedene[8] Krankheiten unter den Thieren verursachen. Nicht nur die Wolle, sondern auch die Bälge mit und ohne Wolle werden exportirt, desgleichen Talg. Die Schafmilch wird vorzüglich zur Bereitung von Butter und Käse verwendet. In den letzteren Jahren hat man auch begonnen lebende Schafe, zumeist nach England, auszuführen.

Von anderen häuslichen Nutzthieren sind noch zu nennen: Ziegen; sie kommen jedoch nur an einzelnen Orten vor; Schweine, in alter Zeit häufig, finden sich jetzt nur an den Hauptorten und Seeplätzen; Geflügel, besonders Hühner trifft man namentlich an den Handelsorten an. – Ueberreich ist Island an Pferden, welche nicht nur zum Reiten, sondern auch zu jeder Art von Transport verwendet werden. Die isländischen Pferde sind klein und zottig, gutmüthig, kräftig, ausdauernd, sicher und nicht freßgierig; sie bleiben Sommer wie Winter im Freien und gehen dann auch oft zu weit, so daß in harten Jahren viele verhungern.

Der zweitwichtigste Nahrungszweig der Isländer ist, wie schon erwähnt, die Fischerei in süßem wie in salzigem Wasser sammt dem Seehundsfange. Hierbei haben sie freilich an den Engländern, Dänen, Franzosen u.s.w. überlegene Concurrenten. Der Häringsfang wird an den Küsten Islands gegenwärtig besonders von den Norwegern eifrig betrieben. Die Isländer haben es nicht verstanden, diese reiche Hilfsquelle ergiebig auszunützen; doch hätten sie es auch nicht vermocht, da es ihnen an den hiezu nöthigen Capitalien fehlt. – Eine andere, wenngleich weit weniger ergiebige Erwerbsquelle bietet in verschiedenen Gegenden die Jagd auf Säugethiere wie auf Vögel. Die Schneehühner bilden sogar einen nicht unbedeutenden Exportartikel. Die industrielle Production beschränkt sich wesentlich auf die Verarbeitung der Schafwolle, sowie auf den Betrieb einiger weniger und auch nicht besonders ergiebiger Schwefelgruben. Handwerker gibt es, außer in den größeren Orten, auf der Insel nur wenige, was bei der Zerstreutheit der einzelnen Höfe, welche oft Meilen weit von einander entfernt sind, begreiflich ist. Der isländische Bauer muß daher auch sein eigener Zimmermann und Tischler,[9] Schmied und Sattler u.s.w. sein. Der Handel, welcher so lange Zeit fast ganz darniederlag und in den Händen der Dänen war, beginnt sich jetzt doch allmählig zu heben. Ausgeführt werden: Wolle, Talg, Butter, Fleisch, Felle, Fische, Federn, Dunen, Schafe, Pferde, Schneehühner u.s.w.; eingeführt: Getreide, Salz, Steinkohlen, Theer, Eisen und Eisenwaaren, Bauholz, Kleider, Leinwand, Putzwaaren, Branntwein, Tabak, Kaffee, Zucker und viele andere nothwendige oder überflüssige Dinge.

Der wirthschaftliche Betrieb des isländischen Bauern ist demnach ein sehr abwechselnder, aber auch oft ein sehr beschwerlicher. So ist z.B. die Heuarbeit, welche in die zweite Hälfte des Juli und die erste Hälfte des August zu fallen pflegt, eine überaus mühsame, zumal wo der Boden naß oder nicht gut geebnet ist, oder wo die Wiesen weit abliegen und somit ein langer Transport auf Pferdesrücken erforderlich wird; höchst beschwerlich und zugleich gefährlich ist ferner der Betrieb der Fischerei in den Zeiten, da die großen Fischzüge an der Süd- und Westküste ankommen (beiläufig vom Anfange Februar bis Anfangs Juni reichend); endlich ist auch der Dienst des Schafhirten das ganze Jahr hindurch ein harter, da er gerade im schlimmsten Unwetter, im Winter wie im Sommer, seinen Thieren am meisten nachzugehen hat. Noch schlimmere Beschwerden legt den Isländern die Unbill des Klimas auf, indem durch lange, harte Winter oft Mißernten, durch Eisblockaden Abschließung einzelner Gegenden von jedem Verkehr mit anderen Orten, durch Kälte und Stürme Verluste am Viehstand und in Folge dessen, wie es erst kürzlich wieder der Fall war, Hungersnoth und epidemische Krankheiten herbeigeführt werden.

Da es der Insel gänzlich an Bauholz fehlt, desgleichen an Lehm zur Bereitung von Ziegeln, ja selbst an Kalk zu Mörtel, ist es begreiflich, daß auch die Wohnungen der Isländer äußerst primitiv beschaffen sind. Die meisten Gebäude sind denn auch einzig aus wechselnden Lagen von Rollsteinen und Rasenstreifen aufgebaut, und da auch Brennholz auf Island so gut wie gar nicht vorhanden ist – bekanntlich gibt es auf dieser Insel keine[10] Waldungen, sondern nur Birken- oder Weidengebüsche –, so muß beim Bau der Hütten darauf gesehen werden, daß dieselben durch möglichst hermetischen Verschluß nach Außen hin im Vereine mit der Körperwärme der eng zusammengepreßten Bewohner die Erwärmung eines Ofens ersetzen. Denn außer den Einwohnern der Haupt- und Handelsorte können nur Wenige sich den kostspieligen Luxus eines Ofens, etwa gar eines eisernen, erlauben.

So ist denn das Leben auf der Insel nicht gerade angenehm und freundlich – nach unseren Begriffen nämlich. Der Isländer selbst ist hingegen ganz anderer Ansicht. Er fühlt sich mit den elenden Hütten zwischen rauhen Lavaströmen, an der tobenden See und auf schwarzen Klippen bei der dürftigsten Nahrung so zufrieden, daß er getrost im Sprichworte behauptet: »Island ist das beste Land, welches die Sonne bescheint« (Ísland er hiđ besta land sem sólin skínŭr upp á). In der Fremde befällt ihn ebenso wie den Schweizer das schmerzlichste Heimweh. Die isländischen Dichter werden nicht müde, in den schwungvollsten Liedern und kunstreichsten Gedichten ihr Vaterland zu besingen, »das uralte Eisland, die geliebte Muttererde, das schöne Felsenweib« zu feiern. Auch fehlt es den Isländern durchaus nicht an verschiedenen Annehmlichkeiten des Lebens – natürlich wieder in ihrem Sinne. Abgesehen von dem höchsten Maße individueller Freiheit, dessen man auf Island wie nirgends sonst in einem civilisirten Lande genießt, gibt es im Leben der Isländer allerlei Vergnügungen, welche ihnen das beschwerdenvolle Dasein freudvoll und heiter gestalten. Da gibt es Festlichkeiten aller Art bald für den häuslichen Kreis, bald für die ganze Gemeinde, und der genügsame Sinn dieses Volkes weiß die verschiedensten Verrichtungen und Arbeiten mit Scherzen und munteren Gebräuchen zu würzen. Die in alter Zeit so beliebten einheimischen Tänze (víkivakar) sind freilich bereits verschwunden und auch der eigenartige Ringkampf (glíma) ist nur mehr an einigen Orten im Gebrauch. Dagegen bildet noch immer das Wettreiten, wie auch schon das Spazierreiten, ein besonderes Vergnügen der Isländer. In neuester Zeit wendet man auch dem Gesange, der früher nur selten zu hören war, und, da Jeder auf eigene Faust und ohne[11] auf die Uebrigen zu achten fortsang, nichts weniger als melodisch klang, eine größere Pflege zu. Das Volkslied, zumal das einheimische, ist im Ganzen nur wenig gepflegt; hingegen sind auf Island eine Menge von Volkssagen, Märchen, Schwänken und Reimen in Umlauf, in denen sich ein gesunder Sinn und frischer Humor ausspricht. Eine Reihe der verschiedenartigsten Spiele verschafft Kurzweil in müßigen Stunden und bei Zusammenkünften, so z.B., wenn man von den aus dem Auslande importirten Karten- und Brettspielen absehen will, auch manche sehr alte, specifisch isländische, wie das Godenzabel (gođatafl), welches aus zwei Würfeln und 32 Steinen besteht, und das St. Olafszabel (»tafl Ólafs konungs helgaf«), welches mit 30 Steinen, 15 schwarzen und 15 weißen, gespielt wird. Auch das bereits in sehr alter Zeit im Norden und besonders auf Island beliebte Schachspiel, welches die Isländer stets mit großer Meisterschaft spielten, wird noch heutzutage, wenn auch nicht mehr so allgemein, getrieben, und es gibt noch jetzt sehr viele und zwar ganz eigenthümliche, zumeist höchst complicirte Arten, von denen nur die bemerkt werden mag, daß man den König so viel Mal matt setzt, als es geht. Ueberhaupt sind die hervorragendsten Vergnügungen und Spiele geistiger Natur. Schon die Kinder üben sich in geistigen Turnieren. So ist es, nur um ein Beispiel anzuführen, ein beliebtes Kinderspiel, daß man sich in der Kenntniß und schlagfertigen Anwendung einer möglichst großen Anzahl von Liedern zu überbieten versucht. Aber auch die Erwachsenen finden noch immer, wenn auch vielleicht nicht mehr in demselben Maße wie früher, ein Vergnügen darin, schier endlose Reimdichtungen (Rímur) zu recitiren. Eine beliebte Unterhaltung der Isländer ist ferner das Improvisiren von Versen, worin dieses Volk, wie wir aus den alten Sagas ersehen können, von jeher ein besonderes Geschick besaß.1 Das Leben ist also für die eingeborenen[12] Bewohner Islands durchaus nicht reizlos und auch die Gemüthsart und der Volkscharakter der Isländer zeigt sich bei genauer und aufmerksamer Beobachtung ihrer Aeußerungen und ihrer Gewohnheiten keineswegs so verschlossen und melancholisch, als man bis auf die neueste Zeit so oft behaupten gehört hat. Im Gegentheile, man findet bei näherer Bekanntschaft mit ihnen einen hohen Grad von Frohsinn und Lebhaftigkeit vorherrschend und zwar nicht selten unter Umständen, wo sie von nicht geringem äußeren Mangel und großer Trübsal gedrückt werden. Ihr Charakter ist der einer arglosen Offenheit, einer frommen Ergebenheit und einer steten Munterkeit des Gemüthes, verbunden mit einer Stärke des Verstandes und einer Schärfe des Geistes, wie man sie selten in anderen Gegenden der Welt antrifft.

Geradezu als ein culturgeschichtliches Phänomen muß der wissenschaftliche Sinn und literarische Geist der Isländer bezeichnet werden – ein Erbe ihrer weltberühmten Vorfahren, deren staunenerregende literarische Leistungen wohl jedem Gebildeten bekannt sind. Man dürfte auf Island kaum ein Kind von neun Jahren finden, welches nicht mit Fertigkeit lesen und schreiben, ja auch rechnen kann. Die meisten jungen Leute, besonders die Knaben, erhalten eine höhere, nicht wenige sogar eine gelehrte Ausbildung, und zwar im Lande selbst. Wo die localen Verhältnisse des Wohnortes den Besuch einer Schule unmöglich machen, übernimmt der Hausvater den Elementarunterricht der Kinder und die Unterweisung der Dienstleute in nützlichen Kenntnissen. Was in der Schule nicht gelernt werden konnte, wird durch Selbststudium erworben. Schon der Engländer Henderson, welcher sich in den Jahren 1814 und 1815 in Island aufhielt und die ganze Insel bereiste, erzählte, daß es dort gar nichts Ungewöhnliches sei, junge Leute, welche sich nie mehr als einige Meilen von ihrem Geburtsorte entfernt hatten, Stellen aus griechischen und lateinischen Schriftstellern hersagen zu hören; auch sei er kaum je in eine Hütte gekommen, wo er nicht irgend Jemand angetroffen hätte, der fähig war, sich mit ihm über Gegenstände zu unterhalten, welche man in anderen Gegenden[13] von Europa als weit über die Fassungskraft von Leuten desselben Standes ansehen würde, und gemeine Isländer verriethen bei vielen Gelegenheiten eine Bekanntschaft mit der Geschichte und Literatur anderer Völker, die wirklich Erstaunen errege. Neuere Reisende berichten von gleichen Beobachtungen. Die liebste Zerstreuung ist dem Isländer noch immer, vornehmlich in der traurigen Winterszeit, das Lesen und Abschreiben der alten Sagas. In Folge der letzteren Beschäftigung besitzen viele Isländer eine Handschrift, die an Schönheit mit der der besten Kalligraphen in anderen Theilen Europas wetteifern könnte. Wie groß aber die Vorliebe und Freude an dem Lesen der alten Erzählungen ist, mag unter Anderm die Thatsache beweisen, daß, als vor etwa 50 Jahren die Kopenhagener Gesellschaft für altnordische Literatur zur Herausgabe einer Sammlung solcher Erzählungen aus dem Mittelalter (der »Fornmannasögur«) schritt, sich unter den Bauern, Fischern, Knechten und Mägden auf Island eine so große Theilnahme durch Subscription auf das zwölfbändige, kostspielige Werk kundgab, daß man eine entsprechende Erscheinung kaum bei den vermöglichen und gebildeten Bewohnern irgend eines andern Landes finden dürfte. Noch rührender beweist diese Liebe zum Lesen und Anhören der alten Geschichten bei den Isländern, daß sie bis in die letzten Jahrhunderte die Feier- und Fasttage dadurch für besonders ernst und für Zeiten der Enthaltsamkeit von weltlichem Genusse bezeichneten, daß sie an ihnen keine Sagas lasen. Da die isländische Sprache sich bekanntlich seit tausend Jahren fast unverändert erhalten hat, macht sie die Lectüre der alten Schriften selbst denen, die nur Elementarunterricht genossen haben, möglich. Viele, selbst die schlichtesten Leute, besitzen daher oft eine Kenntniß der reichen heimischen Literatur, welche unglaublich ist; ja man kann unter den gesellschaftlich unansehnlichsten Persönlichkeiten nicht selten geradezu gelehrte Männer finden. Als Professor Maurer auf Island nach Abschriften einer Saga suchte, wurde er an den »als Dichter weit herum bekannten Zimmermeister«, den »hochbegabten Olafr Briem«, und später an einen Buchbinder, Jon[14] Borgfirdingr, einen »in der Geschichte und Literatur seiner Heimat sehr bewanderten Mann«, gewiesen, der nachher bei all seinem sonstigen Ansehen einen Posten als Polizeidiener in Reykjavik bekleidete. Auf seiner weiteren Suche nach Handschriften der betreffenden Saga kam Maurer auch auf die kleine Insel Flatey im Breidifjördr und traf dort den alten Gisli Konradsson, den Vater des berühmten Gelehrten Conrad Gislason. Er erzählt von ihm: »Von Haus aus ein schlichter Bauer, hatte derselbe doch durch fleißige Arbeit ein ungewöhnliches Maß von Kenntnissen sich erworben, zufolge deren er sich bei seinen Landsleuten eines hohen Ansehens erfreute. Eine Reihe von Werken hatte er verfaßt oder doch aus dem Dänischen übersetzt oder nach dänischen Vorlagen bearbeitet; er hatte aber auch über isländische Geschichte, Stammtafeln, Volkssagen u.dgl. Vieles gesammelt, und zumal eine große Zahl von Sagen und anderen Quellenschriften eigenhändig abgeschrieben.«

Ein glänzendes Zeugniß für den wissenschaftlichen Sinn der Isländer sind deren öffentliche Bildungsanstalten. Das, wie schon gesagt, rund 70.000 Seelen zählende, zum größten Theile aus Bauern, Fischern und Dienstknechten bestehende und auf einen Flächenraum von 1867 Quadratmeilen vertheilte Völkchen besitzt außer mehreren Volksschulen (darunter drei ausschließlich für Mädchen) eine Realschule, eine sechsclassige Lateinschule, (»gelehrte Schule«), eine theologische Anstalt und eine medicinische Schule. Die beste von diesen Schulen ist die Lateinschule, welche ausgezeichnete einheimische Lehrkräfte besitzt und gegenwärtig unter der Leitung des trefflichen Gelehrten Jón Thorkelsson steht. Die in jüngster Zeit mit besonderer Sauberkeit ausgestatteten Jahresberichte enthalten außer den Schulnachrichten regelmäßig eine höchst werthvolle wissenschaftliche Publication (seit 1879 ein »Supplement zu isländischen Wörterbüchern« vom Director Thorkelsson). Dem vergangenen Sommer ausgegebenen Programme zufolge wurden an dieser Anstalt im Schuljahre 1882/83 folgende Gegenstände gelehrt: Isländisch, Dänisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Latein, Griechisch, Religion, Geschichte,[15] Geographie, Mathematik, Physik, Naturgeschichte, Gesang, Zeichnen und Turnen. Die jungen wohlhabenderen Leute, welche sich dem höheren Lehrfach oder dem Jus widmen oder auch gediegenere medicinische und theologische Kenntnisse, als die Anstalten der Insel solche vermitteln können, erwerben wollen, gehen nach absolvirter Lateinschule an die Universität Kopenhagen, zuweilen auch nach Deutschland, wo sie sich fast immer durch die Schnelligkeit ihrer Auffassung, ihren unermüdlichen Fleiß und ihre unersättliche Wißbegierde vor allen ihren Mitschülern auszeichnen. Wie ich aus den Verhandlungen des im Sommer 1881 versammelten Althings ersehe, wollen die Isländer jetzt auch eine förmliche »Hochschule« haben, eine Quasi-Universität für Juristen, Theologen und Mediciner, welche die neuzuschaffende juridische Facultät mit dem Pastoral-Seminar als theologische und der Aerzteschule als medicinische Facultät vereinigen soll. Es ist freilich sehr zweifelhaft, ob die dänische Regierung auf diesen Wunsch eingehen wird. An weiteren Bildungsanstalten befinden sich auf Island mehrere öffentliche Bibliotheken. Die größte davon ist die Stiftsbibliothek zu Reykjavik, welche 15.000 Bände besitzt; dieselbe gehört der ganzen Insel, denn deren Bewohner haben sämmtlich zu ihrer Entstehung und Bereicherung beigetragen, indem die Regierung eine Subscription eröffnete und die Einwohner Bücher und Geld gaben. Sie ist wöchentlich an einem bestimmten Tage geöffnet und sämmtliche Bewohner der Insel können daraus auf mehrere Monate und selbst auf ein Jahr Werke entlehnen, wodurch die Anstalt zu einer reichlich fließenden Quelle zur Verbreitung intellectuellen Lebens auch für die entlegensten Gegenden der Insel wird. Die nächstgrößte Bibliothek besitzt die Lateinschule, welche auch andere wissenschaftliche Sammlungen hat; kleinere Bibliotheken befinden sich in Akureyri und Isafjördur. Außerdem gibt es an verschiedenen Orten Lesevereine.

Eine wichtige Rolle im geistigen Leben auf Island spielen auch mehrere Vereine zur Verbreitung gediegener Schriften und nützlicher Kenntnisse. Der wichtigste, schon im Jahre 1816 gegründete[16] Verein ist die »Isländische Literaturgesellschaft«, welche den Zweck verfolgt, »durch Herausgabe isländischer Werke die Sprache und Literatur der Isländer zu sichern und dadurch den geistigen Interessen des isländischen Volkes nicht minder als seinem nationalen Selbstgefühle eine kräftige Förderung zu verleihen«. Die Gesellschaft besteht aus zwei Abtheilungen, von denen die eine ihren Sitz in Kopenhagen, die andere in Reykjavik auf Island hat, und publicirte bereits eine stattliche Anzahl der trefflichsten Werke aus der alten und modernen isländischen Literatur. Eine sehr ersprießliche Thätigkeit entwickelt ferner der noch junge »Verein der Volksfreunde«, welcher es sich zur Aufgabe macht, populär-wissenschaftliche Schriften zur Bildung und Aufklärung des Volkes herauszugeben. Endlich ist noch der »Alterthumsverein« zu nennen, welcher sich vor zwei Jahren constituirte und die Auffindung und Erhaltung isländischer Antiquitäten bezweckt; derselbe steht in Verbindung mit dem archäologischen Museum zu Reykjavik und hat erst jüngst ein interessantes Jahrbuch veröffentlicht.

Natürlich hat Island auch seine Zeitungen, und zwar dermalen nicht weniger als sechs (darunter eine medicinische!), welche in der Regel zweimal monatlich in sauberer Ausstattung erscheinen. Dieselben sind von großer Wichtigkeit für die heimische Literatur, da durch sie so manche kostbare Arbeit von dichterischem oder wissenschaftlichem Werthe publicirt wird, die sonst nie das Tageslicht erblicken würde. Den Druck besorgen die fünf Buchdruckereien der Insel, aus denen außer den gelehrten auch die dichterischen und schöngeistigen Werke hervorgehen, die alljährlich die moderne National-Literatur der Isländer bereichern; denn das winzige Völkchen besitzt seine eigene originelle, an glänzenden Erzeugnissen reiche Literatur, welche nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ die literarische Production so manchen europäischen Volkes von 20- bis 70facher Ueberzahl übertrifft. Gleichwohl ist diese Literatur, deren Hauptstärke in der Lyrik liegt, in Deutschland, wie überhaupt außerhalb Islands, beinahe unbekannt. Ich habe die neue isländische Literatur in der[17] kurzen Einleitung zu meiner Uebersetzung der Erzählung »Jüngling und Mädchen« von Jón Thórdarson Thóroddsen mit einigen Strichen skizzirt und gedenke demnächst ausführlicher darüber zu handeln. Die Uebersetzung der genannten Erzählung ist der erste Versuch, der in Deutschland gewagt wurde, die neuisländische Literatur auch bei uns bekannt zu machen, und ich kann bereits mit Freuden constatiren, daß derselbe nicht mißlungen ist.

Immer war Island auch eine Heimstätte der Volksdichtung, insbesondere der Sagen- und Märchendichtung, für die ja die Geschichte, sowie die localen und socialen Verhältnisse des Landes einen ausgezeichneteren Boden als irgend anderswo darbieten. Das Anhören und Erzählen der alten Sagen und Märchen, die bald in der kräftigen, knappen Prosa, bald in kunstreichen Versen und Reimen vorgetragen werden, bildet ja, wie schon oben bemerkt nebst der Lectüre der Sagas noch immer die Lieblingsunterhaltung der Isländer an den langen Winterabenden. Das Märchen ganz besonders ist auf Island so alt wie die Geschichte der Insel selbst, welche mit dem Jahre 874, dem Zeitpunkt der beginnenden Besiedlung Islands durch Norweger, ihren Anfang nimmt.

Die Vorliebe der Isländer für das Märchenhafte macht sich denn auch schon frühzeitig in der Literatur geltend, und wir besitzen eine ganze Reihe isländischer Erzählungen (Sagas), welche theils märchenhafte Episoden und Verschleierungen geschichtlicher Verhältnisse enthalten, theils geradezu als reine Märchen erscheinen. Ich erinnere diesbezüglich nur an die Örvaroddssaga, an die Sagas von Ketill Haeng Grim und Lodinkinni, an die Kjalnesingasaga, an die Saga von Bard Snaefellsaß u.A. Obwohl uns von den in frühester Zeit auf Island umlaufenden eigentlichen Volksmärchen keine genauen Proben erhalten sind, wissen wir doch, welches die beliebtesten Stoffe von solchen waren – dieselben nämlich, welche noch heute in den meisten isländischen Märchen behandelt sind. Die Sverrissaga, welche vom Abte Karl Jónsson († 1212) zu Ende des[18] 12. Jahrhunderts begonnen und von Styrmir dem Weisen um die Mitte des 13. Jahrhunderts überarbeitet und vollendet wurde, vergleicht die Schicksale ihres Helden (des Königs Sverrir † 1202 auf seiner Fahrt nach Vermaland mit den Erzählungen alter Sagen über die Geschichte von Königskindern, welche von ihren Stiefmüttern verhext waren (Fornmannasögur VIII. S. 18.). In dem Prologe, welchen ungefähr um dieselbe Zeit der Mönch Oddur zu seiner Lebensgeschichte des Königs Olaf Tryggvason schrieb, heißt es, es sei besser, diese Geschichte zu hören, als die Stiefmuttermärchen, wie sie die Hirtenbuben einander erzählen, von denen Niemand wisse, was Wahres daran sei, und in denen immer der König am Uebelsten wegkomme. Stiefmuttermärchen (stjúpusögur) sind auch die meisten Märchen, welche noch heute auf der Insel sich im Umlauf befinden und unverkennbar das Gepräge hohen Alterthums an sich tragen. Die Stiefmütter der isländischen Märchen sind in der Regel menschenfressende Unholdinnen, welche in wunderschöner Gestalt – zumeist als Königswitwen auftreten, deren Gemahl von Vikingern erschlagen wurde, und auf diese Weise einen verwitweten König dahin bringen, sie zu heirathen, worauf sie dann die Kinder des Königs – gewöhnlich die Königstochter – verfolgen, aussetzen, ermorden oder verzaubern, um dem eigenen Kinde an deren Stelle zu verhelfen. Die böse Stiefmutter wird schließlich immer entlarvt und der gerechten Strafe zugeführt. Die Märchen von den Königen und Königskindern könnten auf den ersten Blick als fremdländische und erst später importirte Producte erscheinen, da es ja auf Island niemals Könige gegeben hat; bei genauerem Zusehen ergibt sich jedoch gerade dieses Vorkommen von großen und kleinen Königen in den Märchen als ein triftiges Moment für die Constatirung des hohen Alters derselben. Die Ansiedler Islands kamen aus Norwegen, wo es zahlreiche »Kleinkönige« (smákonungr; dasselbe Wort begegnet in den Märchen!) gab, bis Harald der Haarschöne im Jahre 872 der Herrlichkeit derselben für immer ein Ende machte, und eben dadurch den Anlaß zur Besiedelung Islands gab, indem die norwegischen Großen[19] und wohlhabenden Bauern sich nicht dem Usurpator beugen wollten. Aus Norwegen also nahmen die Besiedler Islands mit ihren sonstigen Erinnerungen an die alten Verhältnisse und Sagen der Heimat auch die Märchen von den Königen und Königskindern mit hinüber auf die abgelegene Insel, wo dieselben sich durch Ueberlieferung bis auf den heutigen Tag – wenn auch natürlich nicht mehr in ihrer ursprünglichen Gestalt, sondern mit neuen, oft genug fremden Zügen durchsetzt – erhalten haben. Auch das stereotype Auftreten der Vikinger sowie mannigfache andere echt altnordische Züge in diesen Märchen sind Beweise des hohen Alters derselben.

Außer den Stiefmuttermärchen gibt es noch eine ziemliche Anzahl anderer Märchen, namentlich solcher, welche sich dem Schwanke nähern. Auch in diesen finden sich gar manche alterthümliche Züge bewahrt. Auffallend ist es hingegen, daß in den isländischen Märchen verhältnißmäßig wenig Anklänge an die specifisch altnordischen Mythen vorkommen, obschon es deren geradezu frappirende gibt. Häufiger finden wir Verwandtschaft mit deutschen Märchenstoffen, ohne daß von einer Uebertragung weder nach der einen noch nach der anderen Seite hin zu denken ist, so daß also die Quelle ursprünglich eine gemeinsame, urgermanische, beziehungsweise indogermanische war. Ueber die Verwandtschaft einzelner isländischer Märchen oder Züge aus denselben einerseits mit altnordischen Mythen, andererseits mit deutschen Märchenstoffen hat Konrad Maurer ausführlicher gehandelt in seinem vortrefflichen, jedem Freunde Islands auf das Nachdrücklichste zu empfehlenden Werke: »Isländische Volkssagen der Gegenwart« (Leipzig 1860), S. 276. ff. und in »Germania« IX. Bd., S. 241 ff.

Später haben auf Island auch fremde Märchen Eingang und Aufnahme beim Volke gefunden (so z.B. unsere Sage von der getreuen Griseldes), nachdem bereits im 14. Jahrhundert gelehrte Männer wieder norwegische Bischof Jón Haldórsson (der in Paris studirt und in den Jahren 1322–1339 das Bisthum Skálholt auf Island inne hatte) und Andere ausländische Märchen, Schwänke und Ritterromane durch Uebersetzung aus dem Lateinischen,[20] Griechischen und Französischen schriftlich nach Island verpflanzt hatten. Diese Märchen, die in Hugo Gering einen vortrefflichen kritischen Herausgeber gefunden2, kommen für uns nicht in Betracht.

Die vorliegende Sammlung enthält nur isländische Originalmärchen, die noch heute im Munde des Volkes leben; mit einziger Ausnahme von Nr. XVIII (das Pferd Gullfaxi und das Schwert Gunnfjödur), welches ich der Güte meines isländ. Freundes Prof. Steingrimr Thorsteinsson verdanke, habe ich dieselben Jón Arnason's zweibändigem Sammelwerke isländischer Volkssagen und Märchen (Íslenzkar þjóđsögur og Æfintýri. 2 Bde. Leipzig 1862–64) und zwar dem 8. Abschnitte entnommen. Jón Arnason gewährte mir freundlichst die Benützung seiner Sammlung, die ja ein Gemeingut aller Isländer ist. Es konnten indessen nicht alle Märchen des Abschnittes in die deutsche Sammlung herübergenommen werden, da einige derselben oft nichts Anderes sind als Variationen eines und desselben Stoffes, andere deutlich fremden Ursprung verrathen. Auch sonst mußte öfter freier vorgegangen werden, z.B. gleich bei dem ersten Märchen (Fertram und Isol, die lichte), von dem Arnason mehrere Varianten mittheilt, aus denen die Lücken der Hauptrecension ergänzt werden mußten, u.dgl. mehr. Da dem Sammler die Märchen aus den verschiedensten mündlichen wie schriftlichen Quellen zuflossen, entstand eine gewisse Ungleichheit in der Art der Erzählung, die sich zuweilen störend bemerkbar macht; in solchen wie in mehreren anderen Fällen wäre wohl freiere, vielleicht poetischere Bearbeitung am Platze gewesen; ich wagte es indessen nicht, andere als die allernothwendigsten Veränderungen vorzunehmen; denn freiere oder poetische Bearbeitungen der Volkssagen geschehen nur zu häufig auf Kosten der Natürlichkeit und des frischen Reizes des Originals.[21]

Auch in anderer Hinsicht glaubte ich mich an der Ursprünglichkeit der Märchen nicht vergreifen zu dürfen. Es geht nämlich einerseits ein kindlich-naiver anderseits ein derb-humoristischer, aber gesunder Zug durch alle diese Märchen; ungescheut und mit kindlicher Offenheit wird darin über Verhältnisse und Dinge gesprochen, die wir verfeinerte Menschen nur zart anzudeuten pflegen. Diese Ehrlichkeit und Geradheit des Ausdruckes tilgen oder auch nur verblümen zu wollen, hieße nicht nur den Märchen einen guten Theil ihrer charakteristischen Eigenart rauben, sondern sich an dem gesunden, beneidenswerthen Natursinn eines braven Volkes versündigen. Ueber ausdrücklichen Wunsch der Verlagshandlung habe ich es unterlassen, die einzelnen Märchen mit Anmerkungen zu begleiten. Es hätten sich deren eine solche Fülle ergeben, daß sie den Text ungebührlich belastet und dem ganzen Buche ein gelehrtes Aussehen gegeben haben würden, was gegen den Zweck dieser Publication gewesen wäre. Vielleicht finde ich anderwärts Gelegenheit die überreichliche Ausbeute, welche die isländischen Märchen für die Culturgeschichte des Nordens und die vergleichende Märchenkunde gewähren, passend zu verwerthen.

Was die Uebersetzung der vorliegenden Märchen betrifft, so war dieselbe mit nicht geringen Schwierigkeiten verbunden. Arnason hat dieselben größtentheils nach der mündlichen Erzählung von Bauern, Fischern, Knechten, Mägden, überhaupt Leuten aus der niedrigsten Volksklasse, aufgezeichnet und nachträglich nur wenig oder gar nicht verändert; obwohl nun alle Isländer ziemlich gut sprechen, haben sich in diese Erzählungen doch Ausdrücke eingeschlichen, die in der Schriftsprache nicht gebräuchlich und grammatikalisch wie syntaktisch ziemlich gewagt sind. Für einen Fremden, der wie ich die ohnehin ungemein schwierige isländische Sprache in der Studierstube erlernt hat, sind solche Ausdrücke mitunter ganz unverständlich; ich wandte mich in solchen Fällen mehrmals an meine isländischen Freunde um Auskunft; selbst ihnen erschien aber bisweilen eine »Stelle« dunkel. Die Wörterbücher ließen mich nicht nur bei solcher Gelegenheit, sondern[22] überhaupt sehr häufig im Stich, da dieselben fast nur die alte und die Schriftsprache berücksichtigen. Die besten Dienste leistete mir noch das alte »Lexicon islandico-latino-danicum« von Björn Haldorsson, dann erst das »Oldnordisk Ordbog« von Eirik Jónsson und in dritter Linie das kostspielige »Icelandic-English Dictionary« von Cleasby-Vigfússon. Ein isländisch-deutsches Wörterbuch existirt bis jetzt nicht, denn Möbius' »Altnordisches Glossar« bleibt bei all seiner Vortrefflichkeit eben nur ein Glossar zu einer bestimmten Anzahl altnordischer Prosatexte. Wo also Kundigere finden sollten, daß meine Uebersetzung nicht sinngetreu ist, mögen sie in Anbetracht der bezeichneten Schwierigkeiten Nachsicht üben.

Möchten die »Isländischen Märchen« bei dem deutschen Publikum einen freundlichen Empfang finden! Daß für derartige Producte der Volksdichtung bei den Deutschen noch Sinn und Interesse vorhanden ist, bewies die glänzende Aufnahme, welche erst jüngst einer ähnlichen Publication meines Freundes Dr. F.S. Krauß zu Theil geworden ist. Er veröffentlichte »Sagen und Märchen der Südslaven«.

Deutsche! Ihr werdet den duftigen Strauß, der Euch hier aus der Volksdichtung eines wackeren nordgermanischen Bruderstammes dargeboten wird, nicht zurückweisen!


Wien, den 19. November 1883.

J. C. Poestion.

1

Lebendige Schilderungen der meisten dieser Unterhaltungen finden sich in der kürzlich erschienenen, von mir übersetzten Erzählung des Isländers J. Th. Thóroddsen »Jüngling und Mädchen«, Berlin 1883. Vgl. darüber auch mein demnächst erscheinendes Buch »Zur isländischen Volkskunde«, worin sich diese Seite des isländischen Volkslebens auf das Ausführlichste behandelt finden wird.

2

Íslendzk Æventýri. Isländische Legenden, Novellen und Märchen. Herausgegeben von Hugo Gering. I. Band. Text. Halle 1882. – Hieher gehört auch die Clarus Saga, die von G. Cederschiöld mit lateinischer Uebersetzung herausgegeben wurde. Lund 1879.

Quelle:
Poestion, Jos. Cal.: Isländische Märchen. Wien: Carl Gerolds Sohn, 1884.
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