30. Der Selleri.
(El sellem.)

[84] (Vgl. Liebrecht, I. S. 251.)


Ein Vater hatte drei Töchter. Eines Tages war er hungrig und sagte zur ältesten Tochter: »Geh hinaus und koche mir ein wenig Reis, denn ich will etwas zu essen haben.« Sie ging den Reis kochen; da fiel ihr ein, auch Selleri zu nehmen und sie ging in den Garten hinab. Sie suchte die schönste Pflanze aus und wollte sie ausziehen, als sie bemerkte, dass der Selleri, so wie sie zog, nur tiefer sinke. Da lief sie wieder hinauf und sagte es der zweiten Schwester. Auch diese kam und versuchte es die Pflanze auszuziehen, aber sie erfuhr das Gleiche. Nun schickten sie die jüngste Schwester, welche zugleich die schönste und lebhafteste war, in den Garten hinab. Diese zog mit aller Kraft, aber statt dass sie den Selleri ausgezogen hätte, wurde sie davon hinabgezogen. Da stand sie auf einer weiten Wiese und vor ihr war ein grosses Schloss. Herzhaft ging sie darauf zu und es kam ihr ein alter Mann mit langem weissem Barte entgegen, welcher sie freundlich aufnahm und ihr im Schlosse eine Wohnung einräumte. Er behandelte sie sehr gut und nach einiger Zeit bat er sie seine Frau zu werden. Sie weigerte sich lange, endlich aber, als sie sah, wie gut der Alte mit ihr sei und wie er sie wahrhaft liebe, willigte sie ein und[84] wurde seine Gemalin. Darauf übergab er ihr alle Schlüssel, verbot ihr aber streng ein gewisses Zimmer zu öffnen. »Du wirst es schwer bereuen, wenn du mein Gebot nicht befolgst«, warnte er sie mit würdevollem Ernst.

Monate verflossen, da war der Alte einmal abwesend und sie beschloss, obwol sie gesegneten Leibes war, das verbotene Zimmer zu öffnen. Sie that es und sah in einem Gemache viele Weiber, welche schöne goldverzierte Linnen, Windeln und Kinderwäsche ordneten und bügelten; auch stand dort eine Wiege von lauterem Golde. »Für wen arbeitet ihr denn?« fragte sie verwundert. »Für dich, du abscheuliche Hexe!« erwiederten die Weiber zornig. Erschrocken und voll Reue über ihren Vorwitz ging sie hinweg. Als der Alte nach Hause kam, merkte er es gleich, dass sie im verbotenen Zimmer gewesen sei. Anfangs war er zornig, dann aber ward er traurig und sagte: »Wisse, dass ich ein verzauberter Prinz bin; hättest du deine Neugierde besiegt, so wär' ich bald erlöst worden, nun aber muss ich wol wieder lange der Erlösung harren. Bei mir darfst du nicht länger bleiben – fliehe!«

Betrübt verliess sie das Schloss. Nach langer mühsamer Wanderung kam sie in eine Stadt und bat im königlichen Schlosse um Nachtherberge. Darin lebte eine Königin, die war seit langer Zeit schon sehr traurig, denn ihr einziger Sohn war plötzlich fortgekommen und man wusste nicht wie und wohin. Sie kam selbst heraus und da sie das Mädchen in solchem Zustande sah, erbarmte sie sich ihrer und liess ihr ein Zimmer anweisen. In der Nacht gebar sie und als dies der Königin berichtet wurde, traf sie alle Vorsorge für Mutter und Kind und bestellte ihr sogar zwei Wärterinnen.

Als nun in der folgenden Nacht Mutter und Kind schliefen, trat auf einmal der Alte leise herein und sagte: »Goldene Laterne mit silbernen Dochten, wacht oder schläft meine Herrin?« »Sie schläft!« antwortete die Laterne. Da trat er zum Bette, legte schöne goldverbrämte Windeln darauf und küsste Mutter und Kind. Dann sprach er traurig:


»Wenn die Hähne nicht krähten,

Wenn die Glocken nicht läuteten,

Wenn die Stunden nicht schlügen,

Mein Herz, so blieb' ich hier

Die ganze Nacht bei dir!«


Darauf schlich er leise wieder hinaus. Die zwei Wärterinnen aber[85] waren schon früher voll Schrecken ent flohen und erzählten der Königin, was sie gesehen.

Für die folgende Nacht bestellte die Königin vier Wärterinnen. Um zwölf Uhr kam der Alte wieder und sprach und that alles, wie in der vorigen Nacht. Die vier Wärterinnen aber wagten sich vor Schrecken nicht zu rühren und als der Alte wieder fort war, flohen sie und hinterbrachten es wieder der Königin.

Die dritte Nacht wachte die Königin selbst bei der Wöchnerin. Um zwölf Uhr trat der Alte wieder leise herein und sagte: »Goldene Laterne mit den silbernen Dochten, schläft oder wacht meine Herrin?« – »Sie wacht!« rief die Königin und trat ihm entgegen, doch der Alte entfloh. Die Königin eilte ihm nach und hielt ihn am Rocke, er aber riss sich los und der Königin blieb nur ein Rockschoss in der Hand. In der Tasche desselben fand sie zu ihrem grossen Erstaunen einen Selleri.

Am folgenden Tage berieth sie sich mit ihren Frauen, was mit dem Selleri zu thun sei. Sie redeten hin und her; endlich gab Eine den Rath denselben zu verbrennen. Sie trugen ihn zum Herde und warfen ihn in das Feuer. In demselben Augenblicke hörte man Wagengerassel und Pferdegetrampel vor dem Schlosse und als die Königin die Stiege hinabeilte, kam ihr schon ein junger schöner Prinz entgegen. Das war ihr lange schmerzlich vermisster Sohn und das arme junge Weib, welches sie vor drei Tagen mitleidig auf genommen hatte, war des Prinzen Frau und ihre Schwiegertochter. Wie viel Freude nach langer Trauer! –

Quelle:
Schneller, Christian: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck: Wagner 1867, S. 84-86.
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