51. Die Greifenfeder.
(La penna dell' uccello Sgriffone.)

[143] Ein König hatte drei Söhne. Die beiden ältern waren schon fast erwachsen, der dritte aber, der kleine Jakob geheissen, war noch ein[143] Knabe und dem Könige der liebste. Eines Tages ging der König auf die Jagd und als er nach Hause kam, bemerkte er, dass er seine Greifenfeder verloren habe, welche er immer über dem Ohre trug und die ihm über alles theuer war. Ganz traurig sass er in seinem Zimmer und wollte nicht zum Essen kommen. Vergebens suchten die Königin und die beiden ältern Söhne ihn zu bewegen, dass er doch zu Tische gehe. Endlich kam der kleine Jakob und sagte: »Vater, ich kann Euch nicht so traurig sehen und wenn Ihr nicht essen wollt, so ess' ich auch nicht. Kommt doch zum Essen; hernach wollen wir drei Brüder die Feder suchen gehen und Ihr werdet sehen, wir werden sie finden.« Da erwiederte der König: »Wolan, wer von euch so glücklich ist die Feder zu finden, dem will ich Krone und Reich hinterlassen.«

Nach dem Essen gingen die drei Brüder hinaus. Nach langem Suchen fand der kleine Jakob die Feder und brachte sie jubelnd seinen Brüdern. Die aber waren voll Zorn und Aerger und sprachen zu sich: »Das geht nicht Rechtens her, dass der kleine Jakob da Krone und Reich bekommen soll. Wir wollen ihn auf die Seite schaffen.« Und unversehens fiel der älteste Bruder über den arglosen Knaben her und erschlug ihn, die Leiche aber bedeckten sie mit Steinen im Walde. Nun brachten sie dem Könige die Feder; dieser war wol sehr erfreut, fragte aber sogleich, wo denn der kleine Jakob wäre. »Er ist noch draussen geblieben und wird bald kommen«, erwiederten sie. Aber der Knabe kam nicht; vergebens liess ihn der König im Walde und im ganzen Reiche suchen, es wollte Niemand etwas davon gesehen haben. Die beiden Schelme dagegen schwiegen und stellten sich wol gar traurig über den Verlust des lieben Brüderchens; in ihrem Herzen aber dachten sie: »Der ist gut aufgehoben und unsere That kommt nun und nimmermehr zu Tage.« Und wenn sie den guten König gar so traurig und schwermüthig sahen, so dachten sie wieder: »Je trauriger, desto besser, denn um so früher stirbt der Alte und lässt uns Reich und Krone.«

So verging fast ein Jahr. Als inzwischen der Schnee des Winters wieder geschmolzen war und der Wald sich frisch belaubt hatte und auf Feld und Wiese die schönen rothen und blauen Blumen ihre Knospen aufthaten, trieb ein Hirtenknabe täglich seine Herde in den Wald, wo der König gejagt hatte. Als er einmal zur Stelle kam, wo die bösen Brüder den armen kleinen Jakob erschlagen hatten, fand er zwischen den Steinen ein Häufchen menschlicher Gebeine, die waren[144] von Regen und Sonne ganz rein und weiss gebleicht worden und sahen ungemein zart aus. Der Hirtenknabe nahm ein Beinchen und machte sich ein Pfeifchen daraus; als er aber hineinblies, da tönte es deutlich:


»Ach Hirte mein, der mich hält in der Hand,

Ich ward erschlagen im grünen Land,

Ach, dass ich so grausen Tod erfuhr,

Das war um die Greifenfeder nur!«


Der Hirtenknabe war höchlich verwundert und wusste sich das Ding nicht zu erklären; so oft er hineinblies, kamen immer und immer wieder dieselben Worte heraus. »Das muss etwas ganz absonderliches bedeuten, ich will es dem Könige sagen!« dachte er sich und ging zum Könige und erzählte ihm alles. Darauf nahm der König das Pfeifchen und blies selbst hinein; da scholl es heraus:


»Ach, Vater mein, der mich hält in der Hand,

Ich ward erschlagen im grünen Land;

Ach dass ich so grausen Tod erfuhr,

Das war um die Greifenfeder nur!«


Da wusste der König, was es bedeute und Thränen des herbsten Schmerzes flossen ihm aus den Augen. Doch fasste er sich schnell wieder, liess die Königin rufen und befahl ihr hineinzublasen. Und als sie hinein blies, tönte es wieder heraus:


»Ach Mutter mein, die mich hält in der Hand,

Ich ward erschlagen im grünen Land;

Ach dass ich so grausen Tod erfuhr,

Das war um die Greifenfeder nur!«


Sodann liess der König seinen zweiten Sohn holen und befahl ihm hineinzublasen. Dieser wollte es nicht thun und sagte: »Ei, welch ein eklig Ding das ist, mich graust davor!« Aber er musste doch gehorchen und als er blies, tönte es wieder:


»Ach Bruder mein, der mich hält in der Hand,

Ihr habt mich erschlagen im grünen Land,

Ach dass ich so grausen Tod erfuhr,

Das war um die Greifenfeder nur!«


Da erblasste er vor Schrecken und zitterte am ganzen Leibe; der König aber liess den ältesten Sohn rufen. Dieser wollte auch nicht in das eklige Ding hinein blasen, aber auch er musste gehorchen und als er blies, tönte es wieder:
[145]

»Ach Bruder mein, der mich hält in der Hand,

Du hast mich erschlagen im grünen Land,

Ach dass ich so grausen Tod erfuhr,

Das war um die Greifenfeder nur!«


Da erblasste auch er voll Schrecken und zitterte wie ein Espenblatt. Der König aber rief: »Ihr Schurken, die ihr mich und eure Mutter um den liebsten Sohn gebracht habt, eure Schande ist zu Tage gekommen. Aber wahrlich, ihr sollt es mir büssen!« Und er zog einen scharfen Dolch hervor und stiess sie beide nieder, so dass sie vor seinen Füssen elendiglich dahin starben. Weil er aber ohne seinen lieben Jakob nicht länger hoffnungslos leben wollte, stiess er auch sich selbst den Dolch in die Brust und Schmerz und Freude und Hoffnung, Herrschaft und Krone – Alles hatte ein Ende! –

Quelle:
Schneller, Christian: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck: Wagner 1867, S. 143-146.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Neukirch, Benjamin

Gedichte und Satiren

Gedichte und Satiren

»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon