52. Hänschen ohne Furcht.
(Zovanin senza paura.)

[146] (Vgl. Grimm, Märchen Nr. 4; und III, S, 9. Zingerle, Märchen II. S. 181.)


Eine Witwe hatte einen Sohn Namens Hänschen, der war unerschrocken und konnte nie begreifen, was denn die Furcht sei. Daher sagte er einstmals zu seiner Mutter: »Ich will in die Welt gehen und die Furcht suchen.«

Er ging. Es dauerte nicht lange, so kam er an einem Schlosse vorüber und er fragte, wem es gehöre. Man erwiederte ihm, es sei ein Geisterschloss und es könne Niemand darin wohnen, ja nicht einmal eine einzige Nacht dort zubringen, ohne Leib und Leben zu verlieren. Da dachte er sich: »Ist mir gerade recht, vielleicht find' ich dort, was ich suche und weiss dann doch einmal, was die Furcht ist«!

Er ging in das Schloss und weil es schon am Einnachten war, trat er in die Küche sich ein Süppchen zu kochen. Als das Feuer loderte und die Suppe brodelte, fiel ein Todtenkopf aus dem Kamine herab; doch Hänschen erschrack darob nicht im mindesten und warf ihn in einen Winkel. Darauf kam ein Arm, eine Hand, ein Bein herab und so fielen allmälig alle Gebeine eines menschlichen Körpers nieder und Hänschen warf immer flink eines nach dem andern in den Winkel. Nun wollte er sein Süppchen essen, da fing es im Winkel an zu kollern und zu klappern, die Gebeine fügten sich aneinander und es entstand ein Knochenmann, wie man ihn auf den Todtenfahnen sieht, der kam und trug Hänschen fort. »Du bist ein braver Mann«,[146] sagte Hänschen, »du ersparst mir die Mühe zu gehen, aber mein Süppchen hättest du mich schon essen lassen können. Doch trag mich fein behutsam und thu' mir mit deinen spitzen Knochen nicht wehe, hörst du? Ich mag eben nicht viel Spass verstehen.«

Der Knochenmann sezte Hänschen in einem Zimmer nieder, da stand eine grosse gedeckte Tafel. »Gerade recht«, sagte Hänschen, »du hast es schon errathen, dass ich hungrig bin.« Er sezte sich zu Tische und liess sich's schmecken. Während er ass, entstand draussen Lärm, es kam ein Zug von zwanzig Bruderschaftlern mit langen weissen Hemden herein und stellte sich um den Tisch. »Was steht ihr lange und gafft?« rief Hänschen, »seht ihr nicht, dass der Tisch gedeckt und dafür da ist, dass ihr zugreift?« Da thaten die Gespenster, als wollten sie sich niedersetzen, schlugen aber Stühle und Teller aneinander und vollbrachten einen grausigen Lärm. »Ist das auch eine Art?« rief Hänschen, »wartet, ihr Flegel, ich will euch lehren, wie man sich zu Tische sezt!« Und er ergriff einen Knüttel und fing an so herzhaft loszuschlagen, dass die Gespenster unter Ach und Weh zerstoben, zu Thüren und Fenstern und über das Stiegengeländer hinaussprangen und nicht wieder kamen.

Hänschen sezte sich wieder hin und ass, da kam ein langer Zug gespenstiger Nonnen herein und stellte sich um den Tisch. »Aber leistet mir doch Gesellschaft und esst auch mit!« sagte Hänschen und dachte, die würden sich manierlicher und sittsamer benehmen. Als sie aber dasselbe Geräusch machten wie die frühern, bediente sie Hänschen in gleicher Weise und konnte darauf ruhig essen, bis er satt war.

Nun legte sich Hänschen in's Bett, aber er konnte nicht schlafen. Da fiel sein Blick auf die Wand neben dem Bette, dort stand eine hohe Bücherstelle und Hänschen langte sich ein Buch herab und las. Da kam ein Gespenst hereingeschlichen und fing an die Bücher alle durch einander auf den Boden zu werfen. Hänschen sah ruhig zu, bis das lezte Buch auf dem Boden lag. Wie nun das Gespenst wieder fort wollte, sprang Hänschen aus dem Bette, fasste es am Genicke und rief: »Weil du die Bücher alle herum geworfen hast, so sollst du sie auch alle wieder aufheben und in Ordnung stellen.« Und das Gespenst musste gehorchen und als die Bücher wieder in Ordnung waren, stiess Hänschen dasselbe bei der Thüre hinaus.

Hänschen wollte nun schlafen; da schlich ein anderes Gespenst herein und fing an seiner Bettdecke zu zupfen an. »Zieh' nur zu«,[147] dachte Hänschen. Und das Gespenst zog, bis die Decke herabfiel und wollte wieder fort. Aber Hänschen war flink auf den Beinen, fasste es am Genicke und sagte: »Hast du die Decke herabgezogen, so kannst du sie wieder hinauf legen.« Da legte das Gespenst die Decke wieder auf's Bett und verschwand.

Hänschen aber dachte sich nun: »Den nächsten, der kommt, will ich doch beschwören und fragen, was er will.« Es dauerte nicht lange, da trat abermals ein Gespenst herein und Hänschen rief:


»Bleib fern drei Schritte und erzähle

Mir deine Leiden, irdische Seele!«


Da winkte das Gespenst und Hänschen folgte ihm nach über die Stiegen hinab in einen Keller; da zeigte der Geist auf eine Steinplatte und sagte: »Heb sie auf!« Aber Hänschen erwiederte: »Ich habe sie nicht nieder gelegt und hebe sie auch nicht auf.« Da hob das Gespenst die Platte auf und in der Tiefe standen zwei Fässer voll Geld. »Nimm sie heraus!« sagte das Gespenst. »Ich habe sie nicht hinein gestellt und nehme sie auch nicht heraus!« erwiederte Hänschen. Da stieg das Gespenst hinab und hob die Fässer her auf; dann sprach es: »Von dem Gelde des einen dieser Fässer lass mir Messen lesen, damit ich erlöst werde, das andere aber gehört dir, weil du so muthig gewesen bist.« Dann verschwand der Geist.

Hänschen konnte nun die Nacht ruhig schlafen. Am folgenden Tage übergab er das eine Geldfass der Kirche, damit die Messen gelesen und die guten Werke geübt würden; das andere aber behielt er für sich sammt dem Schlosse und war nun ein reicher Mann, der ein gemächliches schönes Leben haben konnte, wenn er nur wollte.

Aber er wollte nicht. »Die Furcht«, sagte er oft, »was ist denn die Furcht? Ich muss sie kennen lernen.« Er ging und kaufte sich ein grosses Schwert, mit welchem er abermals in die Welt zog. Er kam zu einem Brunnen, da hob eine grosse Schlange ihren Kopf aus dem Wasser. Flink war Hänschen bei der Hand und hieb ihr mit einem Streiche den Kopf weg. Aber die Schlange tauchte unter, da wuchs ihr im Wasser der Kopf wieder an den Rumpf und sie hob ihn sogleich noch höher empor. Hänschen schlug ihr denselben wieder ab, die Schlange tauchte unter und streckte den Kopf abermals über das Wasser hervor. Da liess Hänschen die Schlange, wo sie war, dachte sich aber: »Dieses Wasser muss eine grosse Wunderkraft haben!« – und ging und füllte sich eine grosse Flasche damit an. Darauf zog er seines Weges weiter.[148]

Auf dem Wege begegnete er einem Manne mit einem Esel. »Seid so gut«, sagte Hänschen, »und erlaubt mir, dass ich Eurem Esel den Kopf abhaue.« »Bewahre Gott«, sagte der Mann, »ich bin ein armer Teufel und habe nichts als diesen Esel, den lass' ich mir nicht tödten!« »Aber ich mach' Euch den Esel ja wieder lebendig«, sagte Hänschen, »und wenn dem nicht so ist, zahl' ich ihn Euch doppelt.« Nun willigte der Mann ein, Hänschen fuhr mit dem Schwerte aus und hieb dem Esel den Kopf weg. Dann goss er ein wenig Wunderwasser auf die wunde Stelle, sezte den Kopf wieder an den Rumpf und der Esel plärrte und ging wieder seines Weges, als wäre nichts geschehen. Darauf sagte Hänschen: »Nun will ich Euch selbst den Kopf abhauen und ihn dann wieder aufsetzen.« Der Mann wollte nichts davon wissen; als ihm aber Hänschen viel Geld bot, liess er es geschehen. Hänschen hieb ihm den Kopf ab und sezte ihn dann mittelst des Wunderwassers wieder auf; da war der Mann froh, denn er hatte nicht gelitten und bekam viel Geld. Als er schon eine Strecke weit fort war, rief ihm Hänschen nach, er solle zurückkommen. Als der Mann kam, sagte Hänschen: »Nun hau auch mir den Kopf ab und setze mir ihn wieder auf.« Der Mann wollte es nicht thun, aber endlich willigte er ein und hieb Hänschen den Kopf ab; allein er war ungeschickt und sezte ihm den Kopf verkehrt auf. Als er sah was er gethan, erschrack er und ritt auf seinem Esel schnell von dannen.

Hänschen wollte ihm nachlaufen, aber es ging nicht an und er schritt sehr verdriesslich langsam weiter. Im nächsten Gehölze hielt er an; als er sich aber so selbst von hinten sah, erschrack er so, dass er daran starb und ihm all sein Geld und sein Schwert und sein Wunderwasser nichts mehr nüzten. So hat Hänschen die Furcht auf eine Weise gefunden, wovon er sich, so lange sein Kopf mit dem Gesichte nach vorn auf seiner Schulter stand, gewiss nie hätte etwas träumen lassen mögen! –


Etwas verschieden erzählt die lebendige Chronik der Spinnstuben auf Folgareit's gar schönen wald- und wiesenreichen Höhen die Geschichte von Hans ohne Furcht. Auch dieser Hans vollführt unterschiedliche Heldenthaten, weil er die Furcht sucht. Er schlägt die Gespenster eines Schlosses und erlöst sie und das Schloss, spielt nachts im Kirchthurm mit Geistern Karten und gewinnt ihnen alles[149] Geld ab – aber die Furcht findet er nicht. Endlich steht er eines Tages vor dem Spiegel und sieht auf seinem Gesichte einen Floh, der springt hin und her und geräth zulezt in's Ohr. Da vernimmt Hans ein Brausen und ein Rauschen und einen solchen Lärm, als brüllten alle Thiere der Welt und läuteten alle Kirchenglocken der Christenheit zusammen; er erschrickt und zittert heftig und fällt todt zu Boden. So hat er bloss durch einen Floh die Furcht und den Tod dazu gefunden. –

Quelle:
Schneller, Christian: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck: Wagner 1867, S. 146-150.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Hannibal

Hannibal

Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon