1. Die zwei ungleichen Brüder.

Vor langer Zeit lebten zwei Brüder, deren jeder einen Sack Geld besass. Der eine war ein guter Mensch, der andere neidisch und böse. Einst stritten sie sich bei irgend einer Gelegenheit.

»Wer Gutes thut, thut gut«, sagte der eine; »nein, wer Böses thut, thut gut«, sagte der andere. – Sie wetteten dann um einen Sack Geld, und Richter sollte der Nächstbeste sein, der ihnen auf dem Wege begegnen würde. Und so machten sie sich auf und gingen auf die Strasse.

Siehe, da kam ihnen ein ansehnlicher und vornehmer Herr entgegen geritten. »Wohin eilet ihr guten Leute so sehr?« so sprach er sie an. »Wir suchen Jemanden, der unsern Streit entscheidet«, antworteten sie und erzählten ihm den Hergang.

»Ganz natürlich«, rief der Herr, »nur wer Böses thut, handelt gut und noch obendrein weise.« Es war der Teufel.

Traurig ging hierauf der Gute nach Hause und gab seinem drängenden Bruder seinen Sack mit Geld.

Arm, wie er nun ist, geht er ins Gebirge, sich als Hirt oder Knecht zu verdingen, da überfällt ihn Nacht und Sturm. Lange irrt und sucht er herum, einen Ort zum Ruhen zu finden, bis ihn der Zufall zur Hütte eines Einsiedlers führt. Unwillig, weil er aus dem Schlafe geweckt, lässt ihn der Einsiedler erst dann zu sich hinein, nachdem er ein durch das Fenster gereichtes Crucifix andächtig geküsst und so sich als guten Christen erwiesen hatte.

Ein Nachtlager gewährte er ihm nicht, weil die Zelle für zwei zu enge war und unser Verirrter als junger kräftiger Bursche nicht verlangen konnte, dass sich der Einsiedler, ein alter, schwacher Mann, seiner Bequemlichkeit halber dem Unwetter aussetze; jedoch gab ihm dieser den Rath, sich auf das Gesimse der nahestehenden Martersäule zu legen, um nicht von wilden Thieren gefressen zu werden, und das breit genug sei, darauf schlafen zu[3] können. Kaum hatte er sich auf die Säule gelegt, so wurde es Mitternacht, und am Fusse der Säule erschienen vier Hexen, die Feuer anmachten und für fünf Personen kochten. – Lange warteten sie auf die fehlende Person, da rief die eine von ihnen laut und wiederholt: »Margerita, Margerita! komme doch bald, das Essen verkocht sich.« Da erschien plötzlich die erwartete fünfte Hexe im grössten Aufputz und strahlend vor Freude.

»Wo warst du so lange? erzähle doch und warum bist du so in Galla?« riefen ihr die andern entgegen. »Ja«, antwortete Margerita, »ich komme so eben vom Hofe, wo ich des Königs schönem Töchterlein sieben böse Geister in den Leib gejagt habe. Die bringt ihr keiner heraus, der sie nicht mit dem Wasser besprengt, das hier bei der Säule hervorquillt.«

Hierauf setzten sich alle fünf, assen und tranken und plauderten lustig, bis das Mahl geendet war, worauf sie verschwanden. Unser armer Wanderer aber, dem von der vertraulichen Mittheilung Margerita's keine Silbe entgangen war, konnte das Grauen des Tages kaum abwarten.

Flugs eilt er zum Einsiedler, borgt sich dessen Kürbisflasche, füllt sie aus der Quelle mit Wasser und ging in die Stadt zum Hofe des Königs.

Dort begehrt er den König zu sprechen, der aber giebt niemanden Audienz aus Gram über den Zustand seines einzigen Kindes. Da gelingt es dem Jüngling, einen Ritter von des Königs Leibwache zu sprechen, dem er entdeckt, dass gerade die Heilung der Prinzessin der einzige Zweck seiner Reise sei. »Unglücklicher!« sagt ihm dieser, »an der Krankheit ist die Kunst der ersten Professoren gescheitert, nimm dich wohl in Acht, denn suchst du uns zu täuschen, oder täuschest du dich selbst, kostet es dir den Kopf.«

Endlich gab er seinen dringenden Bitten und Betheuerungen nach und meldete ihn dem Könige. Als er eingetreten, sagte ihm der König: »Heilst du mir mein Kind, so möge es dein sein und mit ihm mein Reich, belügst du mich aber, so ist der Galgen dein Lohn.«

Hierauf führte er ihn zu seiner Tochter in das Gemach,[4] wo sie in einem Zustande äusserster Entkräftung und unsäglichen Schmerzes lag. Seiner Sache sicher, schüttete er ihr gleich die ganze Kürbisflasche über den Kopf, aber ach! war es Schrecken über das kalte Bad, oder die grosse Portion der Medizin, die Prinzessin verfiel hierauf in eine tödtliche Ohnmacht. Voll Wuth und Angst über sein Kind lässt ihn der König durch die Wache abführen, mit dem Befehl, ihn augenblicklich aufzuknüpfen. Zum Glück für ihn erholte sich die Prinzessin schnell, sprang munter und frisch vom Bette, so dass es noch Zeit war ihn zu retten.

Der König bereute seinen Jähzorn und hielt sein Wort.

Die Liebe der schönsten Prinzessin und die Schätze eines Königreichs bewiesen ihm deutlich, dass nicht sein Bruder und der fremde Herr, sondern er Recht gehabt, und dass wer Gutes thut, auch gut thut. Unterdessen war die Mähre von so grossem Glücke auch bis zu seinem durch Laster ganz verarmten Bruder gedrungen. Schnell machte der sich auf den Weg, seinen Bruder zu verfolgen. Glücklich gelangte er zu derselben Einsiedelei und schlief in Folge des Raths des Eremiten auf dem Simse der Säule.

Wieder kamen die vier Hexen um Mitternacht und kochten für fünf. Margareth liess dieses mal nicht so lange auf sich warten, dafür aber kam sie auch nicht in grosser Pracht, sondern schmutzig, zerfetzt, mit zerrauftem Haar und in der übelsten Laune. –»Hört!« schrie sie ausser sich vor Wuth, »hört, was mir geschah; das Töchterlein des Königs ist gänzlich geheilt. Wie wäre das möglich gewesen, wäre ich nicht belauscht worden, während ich euch kürzlich die Behexung erzählte. Nirgends kann der Lauscher gewesen sein, als auf der Säule oben.«

Dabei warf sie einen Blick auf die Säule, und von dieser hing der Zipfel eines Bauernrockes herab, der unserm bösen Lauscher gehörte.

Ihn sammt dem darin steckenden Eigenthümer herab und beide in tausend Stücke zerreissen, war das Werk eines Augenblicks.


[5] Wir haben hier eine nicht durchaus gute und vollständige Ueberlieferung eines fast über ganz Europa verbreiteten Märchens. Der Kern desselben ist, bei allen Abweichungen der verschiedenen Fassungen im Einzelnen, der folgende: Ein guter Jüngling, der von seinem bösen Bruder oder Gefährten geblendet und verlassen worden ist, belauscht ein Gespräch von Geistern, Hexen oder Thieren und erfährt dadurch wunderbare Geheimnisse, wodurch er sein Gesicht wieder erlangt und – in den meisten Fassungen – eine kranke Prinzessin heilt und zur Gemahlin erhält. Der Bruder oder Gefährte begiebt sich später an denselben Ort, wo der andere das Gespräch vernommen, wird aber von den über die Entdeckung der Geheimnisse erzürnten Geistern, Hexen oder Thieren bemerkt und getödtet oder geblendet.

Ich lasse nun die mir bekannten Volksmärchen in kurzen Auszügen folgen, und zwar zunächst diejenigen, welche gleich dem italienischen mit einer Wette beginnen. In einem serbischen Märchen bei Wuk Stephanowitsch Karadschitsch, Volksmärchen der Serben, Nr. 16, streiten zwei Königssöhne darum, ob die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit besser sei. Sie wetten dreimal um dreihundert Goldstücke, und der erste, dem sie begegnen, soll entscheiden. Jedesmal begegnet ihnen der Teufel in Mönchsgestalt und entscheidet, dass die Ungerechtigkeit besser sei als die Gerechtigkeit. Da wettet der Gute um seine Augen, dass die Gerechtigkeit besser sei, und der Böse, weiter keinen Richter suchend, sticht ihm alsbald beide Augen aus und lässt ihn in der Nähe einer Quelle unter einer Tanne. Nachts baden sich Wilen (Waldfrauen) in der Quelle, und der Blinde hört, wie sie davon sprechen, dass des Königs aussätzige Tochter nur durch das Wasser dieser Quelle, welches auch Stumme, Blinde und Lahme heile, genesen könne. Am Morgen wäscht er sich in der Quelle, wird wieder sehend, heilt die Prinzessin und erhält sie zur Frau. Der böse Bruder, der dies erfährt, begiebt sich ebenfalls zur Tanne und sticht sich seine Augen aus, wird aber von den Wilen entdeckt und zerrissen.

In einem finnischen Märchen in Eero Salmelainen's (Erik Rudbeck's) Sammlung, Bd. 2, S. 172, ins Französische übersetzt von E. Beauvois in seinen »Contes populaires de la Norvége, de la Finlande et de la Bourgogne«,[6] S. 1391, begeben sich zwei Kaufmannssöhne in ihren ererbten Schiffen auf Reisen und versprechen sich nach Jahresfrist wieder zu treffen. Dies geschieht, und jeder hat sein Schiff voll Waaren. Der ältere Bruder hat seine Waaren durch Betrug und Falschheit, der jüngere durch Ehrlichkeit gewonnen. Jener behauptet nun, im Handel sei die Unehrlichkeit vorteilhafter, dieser – die Ehrlichkeit. Sie verwetten ihre ganze Habe, und der erste, der ihnen auf ihrer Rückfahrt begegnet, soll entscheiden. Dieser erste, der ihnen in einem Boot rudernd begegnet, gehört zu den Leuten des Teufels und erklärt, dass die Unredlichkeit auf der Welt am vortheilhaftesten sei. Hierauf nimmt der ältere Bruder das Schiff des jüngern in Besitz, sticht ihm die Augen aus und überlässt ihn in einem Kahn seinem Schicksal. Der Unglückliche landet an einer Insel, wo ein Unbekannter ihm wunderbare Schneeschuhe giebt, die ihn zweimal zu einer Quelle bringen, deren Wasser zuerst seine Schmerzen lindert, dann ihm die Augen wieder giebt. Hierauf schenkt der Unbekannte ihm die Schneeschuhe, die jeden dahin tragen, wohin er wünscht, und sagt ihm, er solle die Nacht auf einer Fichte zubringen, wobei er wichtige Geheimnisse erfahren werde. Der Jüngling thut dies, und um Mitternacht versammeln sich mehrere Teufel unter dem Baum. Aus ihren Gesprächen erfährt er, wie die kranke Königstochter (durch Thau) geheilt, wie eine Quelle für das wasserbedürftige Königsschloss entdeckt und wie die verscheuchten Hirsche wieder in den königlichen Park gebracht werden können. Er begiebt sich zum König und wird durch Benutzung dieser Geheimnisse sein Schwiegersohn. Sein Bruder kommt bald darauf mit ihm zusammen und erlangt Verzeihung. Um ebenso sein Glück zu machen, erbittet er sich vom Bruder dessen Schneeschuhe. Damit begiebt er sich zu jenem Baum, den er besteigt, ohne die Schuhe anzubehalten. Die um Mitternacht erscheinenden Teufel entdecken gleich die Schuhe und dann ihren Besitzer, den sie todt prügeln.

Nach dem neugriechischen Märchen bei J.G.v. Hahn, Griechische und albanesische Märchen, Nr. 30, streiten zwei Brüder, ob das Recht oder das Unrecht regiere. Sie wetten[7] endlich um die Augen, und der Erzbischof soll entscheiden. Dieser erklärt, wie schon vorher ein alter Mann und dann ein Klosterbruder, denen sie begegnen, dass das Unrecht regiere. Somit hat der jüngere verloren und der ältere sticht ihm die Augen aus und verlässt ihn. Nachts steigt der Blinde auf einen Platanenbaum, unter welchem sich eine Menge Teufel versammeln. Die jüngsten Teufel müssen dem alten erzählen, was sie den Tag über gethan. Einer erzählt, dass er die beiden Brüder verhetzt, ein zweiter, dass er zwei andere Brüder uneinig gemacht, ein dritter, dass er der Königin das Kind im Leib verkehrt gelegt habe. Ein vierter hat nichts gethan und wird deshalb von den andern geprügelt. Voll Zorn wünscht er, dass der Blinde seine Augen mit dem Wasser der Quelle am Baum waschen möge, wodurch er sehend werde; dass der Weinstock, um den die beiden andern Brüder hadern, umgehauen werde, und dass die Königin von dem Quellwasser trinke, um gebären zu können. Der Blinde, der all dies gehört hat, wird natürlich wieder sehend und vom König, dessen Gemahlin er zur Geburt verhilft, reich belohnt. Als der ältere Bruder später den jüngern sehend und reich findet, fragt er ihn, wie dies so gekommen sei. Dieser antwortet: »Ich habe dir immer gesagt, dass das Recht regiere!«, worauf jener todt zu Boden stürzt.

Ein wendisches Märchen bei L. Haupt und J.A. Schmaler, Volkslieder der Wenden, Bd. 2, S. 181, erzählt: Ein Försterssohn trifft mit einem Fremden im Wirthshaus zusammen. Der Fremde behauptet, dass sich für Geld das grösste Unrecht in Recht verwandeln lasse, der Jäger aber meint, Recht bleibe immer Recht. Sie wetten, und zwar setzt der Fremde 300 Thaler, der Jäger seinen Kopf. Drei Rechtskundige entscheiden zu Gunsten des Fremden, der dem Jäger zwar das Leben schenkt, aber ihn mit einem glühenden Eisen blendet und ihm erklärt: dann wolle er glauben, Recht bleibe Recht, wenn der Jäger wieder würde sehen können. Der Blinde hört Nachts unterm Galgen drei Geister von ihren Thaten sich unterhalten, und erfährt dadurch, wie er (durch das Wasser der nahen Quelle) sein Augenlicht wieder erlangen und wie er einer Stadt zu Wasser und einer kranken Prinzessin zur Gesundheit verhelfen kann. So wird er wieder sehend und heirathet die geheilte Prinzessin. Der Fremde geht nach Jahresfrist auch unter den Galgen, wird aber von den Geistern zerrissen.

[8] In einem deutschen Märchen bei Pröhle, Märchen für die Jugend, Nr. 1, streiten zwei Brüder, ob Dank oder Undank der Welt Lohn sei, und wetten deshalb um ihr Erbtheil. Wiederholte Erfahrung beweist ihnen, dass Undank der Welt Lohn ist, weshalb der ältere dem jüngeren sein Erbtheil nimmt und die Augen aussticht und ihn verlässt. Nachts steigt der Blinde auf einen Baum und erfährt aus den Gesprächen eines Bären, Löwen und Fuchses, wie er seine Augen (durch Thau) wieder erlangen, einen reichen Mann heilen und den Brunnen im Königsschloss wieder fliessend machen kann, für welche letztere That ihm der König die Krone abtritt. Der Bruder, dem er später wieder begegnet, verzeiht und alles erzählt, steigt auf jenen Baum und wird von den Thieren zerrissen.

Dies sind die hierher gehörigen Märchen, die mit der Wette beginnen. Ich habe das serbische und finnische Märchen zuerst angeführt, weil sie am meisten mit dem italienischen übereinstimmen, insofern in allen dreien der Teufel den Wettenden den Entscheid giebt. Nicht eine eigentliche Wette, aber doch etwas ähnliches hat ein ungarisches Märchen bei Mailath, Magyarische Sagen und Märchen, S. 157, wonach zwei Brüder ausmachen, dass der, welcher zuerst ein grösserer Herr als der andere werde, dem anderen die Augen ausstechen darf. In der Folge wird der jüngere vom älteren geblendet und unter einem Galgen verlassen. Dort vernimmt der Blinde aus dem Gespräch dreier Raben, wie ein blinder Prinz seine Augen wieder erlangen, ein Baum eines Königs wieder silberne Birnen tragen und eine in Zauberschlaf liegende Prinzessin erlöst werden könne. Er benutzt diese Geheimnisse und wird Gemahl der Prinzessin. Sein Bruder aber, der es ihm gleich thun will, wird unter dem Galgen von den drei Raben umgebracht.

Die übrigen mir bekannten2 hierher gehörigen Märchen, in denen von der Wette nichts vorkommt, finden sich bei[9] Grimm, KM., Nr. 107 der älteren Ausgabe, »Die Krähen«3; Wolf, Deutsche Märchen und Sagen, Nr. 4; Ey. Harzmärchenbuch, S. 188; Zingerle, Kinder- und Hausmärchen, Nr. 20; Molbech, Udvalgte Eventyr, Nr. 6; Grundtvig, Gamle danske Minder, Bd. 3, S. 118; Asbjörnsen und Moe, Norske Folke-eventyr, Nr. 49; Salmelainen, Finnische Volksmärchen, Bd. 2, S. 183; K.v. K(illinger), Sagen und Märchen (aus Irland), Bd. 2, S. 230; J.M. de Goizueta, Leyendas vascougadas, 3. ed., Madrid 1856, S. 9; Gerle, Volksmärchen der Böhmen, Bd. 1, S. 347; Waldau, Böhmisches Märchenbuch, S. 271; »Ausland«, 1857, S. 1028 (rumänisches Märchen).

Die Hauptpersonen dieser Märchen sind bald zwei Brüder, bald zwei beliebige Gesellen, die zusammen wandern, im irischen zwei Geschwisterkinder. Nur in den böhmischen und in dem Grimm'schen Märchen sind es nicht zwei, sondern drei Gesellen. Bei Molbech heissen die Brüder bezeichnend[10] Godtro und Utro, bei Asbjörnsen Tro und Utro, Der eine, wenn es Brüder sind, natürlich immer der jüngere, wird von dem andern aus Bosheit oder Misgunst, im irischen aus Rache, der Augen beraubt; nur im tiroler Märchen bei Zingerle, im baskischen und in einer norwegischen Variante fehlt, wie ja auch im venetianischen, die Blendung. Die Wesen, deren Gespräche belauscht werden, sind drei Teufel (Zingerle), drei Hexen (Gerle, Waldau), ein ganzer Hexensabbath (Goizueta), drei Bösewichter (Salmelainen), drei Raben (Grimm, Ey), Katzen (Killinger), wilde Thiere, wie Löwe, Bär, Wolf, Fuchs (Wolf, Molbech, Grundtvig, Asbjörnsen). Die Geheimnisse sind meist drei, und zwar: Wiederherstellung der Augen, Beseitigung des Wassermangels in einer Stadt, Heilung einer kranken Prinzessin (Grimm, Wolf, Grundtvig, Waldau, Gerle). Im finnischen haben wir statt der Wasserfindung eine Schatzhebung; bei Ey einen kranken König statt der Prinzessin; bei Asbjörnsen neben den drei Geheimnissen noch zwei andere; bei Molbech bloss die Augenheilung und die Heilung der kranken Prinzessin; im baskischen, wie im venetianischen, bloss die Heilung der Prinzessin. Im irischen Märchen erfährt der Blinde, dass die Wallfahrt zu einem gewissen Brunnen alle Gebrechen heilt, und so heilt er seine Augen und die des Königs. Bei Zingerle kommen zur Beseitigung des Wassermangels noch zwei Heilungen Kranker. In dem rumänischen Märchen besteht das Geheimniss in einem Mittel, wodurch der Blinde seine Blindheit und zu gleich die Krankheit einer Kaiserin heilen kann, und dieses sagt ein Rabe dem unter dem Galgen liegenden Blinden freiwillig. Der Schluss der Märchen ist fast überall derselbe: der andere Bruder oder Gefährte begiebt sich an denselben Ort, um ebenfalls Geheimnisse zu erlauschen, wird aber dort umgebracht. In einem Märchen bei Asbjörnsen ereilt den Utro weiter keine andere Strafe, als dass die Thiere diesmal sich keine Geheimnisse mittheilen, weil sie meinen, dass eins von ihnen das letzte Mal ausgeplaudert habe. Die Märchen noch weiter in allen Einzelheiten unter sich zu vergleichen, würde hier zu weit führen.

Wir haben bis jetzt nur Gestaltungen unseres Märchens, wie sie in neuerer Zeit aus dem Volksmund aufgezeichnet worden sind, besprochen; es lässt sich aber schon Jahrhunderte früher literarisch nachweisen. Auf die Erzählung in Jo. Pauli's[11] »Schimpf und Ernst« (Kap. 464) ist bereits von den Brüdern Grimm in der Anmerkung zu ihrem Märchen Nr. 107 kurz verwiesen worden. Nach Pauli streitet ein Herr mit seinem Knecht, ob Wahrheit und Gerechtigkeit oder Falschheit und Untreue das Regiment auf Erden haben. Sie wetten, und zwar setzt der Herr hundert Gülden, der Knecht seine Augen. Ein Kaufmann, ein Abt und ein Edelmann entscheiden, dass Falschheit und Unrecht regiere, und so verliert der Knecht. Der Herr sticht ihm die Augen aus und lässt ihn im Wald. Nachts hört der Blinde böse Geister auf dem Baum sich unterhalten und erfährt, dass unter dem Baum ein Kraut wächst, welches ihm seine Augen erneuen wird. Er findet das Kraut und wird wieder sehend, und heilt mit dem Kraut auch die blinde Tochter eines grossen Landsherrn und erhält sie zur Ehe. Sein alter Herr, dem er alles erzählt, will auch das Kraut suchen, wird aber von den Teufeln entdeckt und einer sticht ihm die Augen aus. – Ferner findet sich das Märchen in dem spanischen Katzenbuch, dessen Inhalt jedem Leser des Jahrbuchs durch die dankenswerthen Mittheilungen des Dr. Knust bekannt ist. Ich kann mir eine Inhaltsangabe des betreffenden 28. Kapitels ersparen, indem ich die Leser auf Band 6, S. 18 des Jahrbuches verweise. Auch in dieser Fassung haben wir die Wette, doch werden dabei nicht die Augen aufs Spiel gesetzt. Freilich büsst auch hier der Verlierende die Augen ein, aber nicht durch seinen Gefährten. Das spanische Märchen steht den deutschen und nordischen besonders nahe, insofern auch in ihm die wilden Thiere des Waldes es sind, die sich unterhalten und von dem Blinden gehört werden. – Endlich ein Märchen der 1001 Nacht (übersetzt von Habicht, von der Hagen und Schall, Bd. 11, S. 193), auf welches Moe in den Anmerkungen zu Nr. 49 aufmerksam gemacht hat. Hiernach lässt sich Abu-Nyut auf einer Reise in einen tiefen Brunnen hinab, um Wasserschläuche zu füllen; sein Gefährte Abu-Nyutyn zerschneidet die Stricke und überlässt ihn im Brunnen seinem Schicksal. Abu-Nyut hört des Nachts zwei böse Geister, die auf dem Brunnenrand sitzen, sich unterhalten, und erfährt so, wie eine kranke Prinzessin geheilt und ein grosser Schatz gehoben werden kann. Am Morgen von Vorbeireisenden aus dem Brunnen herausgezogen, macht er sich diese Geheimnisse zu Nutze und wird Gemahl der Prinzessin. Nach einiger Zeit trifft er seinen Gefährten[12] Abu-Nyutyn als Bettler, wie in den meisten oben besprochenen Märchen der böse Bruder oder Gefährte zuletzt erscheint. Er verzeiht ihm und erzählt ihm alles, worauf jener sofort sich zu dem Brunnen begiebt und hineinsteigt. Nachts kommen die Geister, beklagen sich, dass ihre Geheimnisse entdeckt sind, und schütten den Brunnen, als die Ursache dieser Entdeckung, zu.

Schliesslich muss ich noch erwähnen, dass Benfey, Pantchatantra, Bd. 1, S. 370, von dem Grimm'schen Märchen Nr. 107 sagt: »Ich will schon jetzt bemerken, dass dieses Märchen buddhistisch und wahrscheinlich durch die Mongolen nach Europa gelangt ist; seine letzt-erreichbare Urform bietet der Dsanglun, Kap. XXXIII.« Ohne Benfey's Erörterungen vorgreifen zu wollen, kann ich doch nicht umhin zu bemerken, dass ich in der tibetischen Erzählung weiter keine Aehnlichkeit mit dem besprochenen Märchen finde, als dass der Prinz Gedon von seinem bösen Bruder Digdon unterwegs geblendet, beraubt und verlassen wird. Die Art, wie Gedon nachher sein Augenlicht wieder gewinnt, und der ganze weitere Verlauf der Erzählung hat nichts mit unserm Märchen gemein.

1

Eine deutsche Uebersetzung dieses und des weiter unten besprochenen finnischen Märchens verdanke ich Herrn Prof. Dr. Wilhelm Schott in Berlin.

2

Unbekannt sind mir die von W. Grimm, Bd. 3, S. 189 citirten deutschen Märchen in den Feenmärchen, Braunschweig 1801, S. 168, und in dem Büchlein für die Jugend, S. 252, und das, wie mir Professor W. Schott mittheilt, von Salmelainen 2, 171 erwähnte ehstnische »Wahrheit und Lüge« in Wiron Satuja (Ehstlands Märchen), St.-Michael 1849, 2te Ausg., S. 5.

3

An die Stelle »der Krähen« sind in den letzten Ausgaben »die beiden Wanderer« getreten, ein zwar sehr schönes Märchen, welches jedoch von dem ursprünglich zu Grunde liegenden wenig erhalten hat. Nach diesem Märchen hört der Schneider, dem der Schuster die Augen ausgestochen hat. Nachts unterm Galgen zwei Gehängte sich unterhalten, und erfährt dadurch, dass der diese Nacht fallende Thau jedem, der sich damit wäscht, die Augen wieder herstellt. So erlangt er sein Gesicht wieder und wandert weiter bis in eine Stadt, wo sein Kamerad Hofschuster geworden ist und er Hofschneider wird. Der König giebt ihm, da ihn der Schuster verleumdet, verschiedene schwere Aufgaben auf, die er aber mit Hülfe von dankbaren Thieren, die er sich auf seiner Wanderung zur Stadt verpflichtet hat, löst, und er wird endlich Schwiegersohn des Königs. Der Schuster wird verbannt, und als er unterwegs unter jenem Galgen schlafen will, hacken ihm Krähen die Augen aus. Sehr ähnlich ist das ungarische Märchen bei v. Gaal, Märchen der Magyaren, S. 175, wo drei Brüder ausziehen. Die beiden älteren stechen dem jüngsten die Augen aus und brechen ihm die Beine. Nachts hört er zwei Raben auf einem Hochgericht sich unterhalten von der Heilkraft des benachbarten Teiches und des diese Nacht fallenden Thaues. So heilt er sich seine Beine und gewinnt seine Augen wieder und zieht weiter. Unterwegs heilt er mit dem Wasser des Teiches mehrere Thiere und kommt dann zu einem König, wo er seine Brüder wieder findet. Auf ihr Anstiften stellt ihm der König schwierige Aufgaben, die er mit Hülfe der dankbaren Thiere löst. In dem sonst ganz gleichen ungarischen Märchen bei Stier, Ungarische Sagen und Märchen aus der Erdélyischen Sammlung, Nr. 10, fehlen die Raben. Der Geblendete wird wieder sehend, indem er in einen Sumpf fällt, dessen Schlamm wunderbare Heilkraft hat.

Quelle:
Widter, Georg/Wolf, Adam: Volksmärchen aus Venetien. In: Jahrbuch für Romanische und Englische Literatur 8 (Leipzig: 1866) 3ff, S. 3-13.
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