17. Die grössere Lüge.

[275] Einst wetteten zwei Bauern, wer von ihnen beiden eine grössere Lüge zu sagen im Stande sei.

»Ich hatte,« begann der Erste, »einen Bienenstock, den ich alle Abend zählte. Einmal ging mir eine Biene ab und alsogleich schickte ich so viele Leute, als ich aufzutreiben[275] im Stande war, die Biene zu suchen. Sie fanden nach zwei Tagen von ihr nur den vierten Theil, den Rest hatten die Hunde aufgefressen, das Viertel trugen ihrer fünfzehn mit Stricken und Latten1 nach Hause. Als ich dieses Viertel auspresste, erhielt ich fünfzehn Fässer Honig2. Ich füllte ihn in einen Bottich, als unglücklicherweise ein Spatz3 auf den Rand des Bottichs flog und ihn umwarf.«

»Verflucht4!« sagte der Zweite, »fünfzehn Fässer Honig vom Viertel einer Biene, das ist viel, das scheint kaum glaublich, aber mir ist auch so etwas Sonderbares begegnet. Ich ging eines Morgens mit meinem Netze fischen; da spüre ich, dass sich etwas gefangen hat; ich ziehe mein Netz in die Höhe, und was glaubt ihr, was darin war? Ihr errathet es nie; ein lebendiger Esel, voll mit irdenen Schüsseln beladen. Wie ich so meinen Esel nach Hause treibe, komme ich zu einem Bauernhofe, der ganz voll von Saubohnen war. Als mich der Bauer aufforderte, sie ihm mit meinem Esel auszutreten, war ich gleich bereit dazu, band dem Esel an jeden Huf eine irdene Schüssel und liess ihn fleissig treten. Bis Abends hatte er so viel getreten, dass vierundzwanzig Säcke Bohnen auf meinen Antheil kamen5. Da nehme ich denn alle vierundzwanzig Säcke Bohnen und säe sie alle auf mein halbes campo (Acker), und warte, bis sie aufgehen. Wie erstaunte ich, als ich merkte, dass alle diese Bohnen als einziges Korn aufgingen, das so gross und hoch wurde, dass es die Thüre des Himmels aufstiess. Ich, der ich einen Vetter im Himmel habe, der mir damals noch vierzehn Soldi schuldig war, packe schnell den Bohnenstengel, steige zu ihm hinauf, rufe meinen Vetter zur Thüre, und nachdem er mir das Geld gegeben hatte, wollte ich[276] wieder hinab, aber es kam ganz anders. Während ich mit meinem Vetter sprach und er mir das Geld vorzählte, hatten die Ameisen den Bohnenstengel abgefressen, und der war umgefallen, ich konnte daher nicht hinab. »Vetter!« sagte ich, »was ist da zu thun? ich werde doch nicht gar wider meinen Willen im Himmel bleiben müssen?« »Nein, nein«, sagte er, »das dürftest du nicht einmal, ich kann dir nur einen Rath geben; schau, dass du bald wegkommst, bevor sie es merken und dich hinauswerfen.« Da erwischte ich in der Verzweiflung einen Knäuel Hanf und begann mich hinunterzulassen, und als dieses nicht auf die Erde reichte, wagte ich einen Sprung und fiel 124 Schuh tief in die Erde hinein. Was war da zu thun? Nichts anders, als nach Hause laufen, eine Schaufel nehmen und mich selbst auszugraben, und so kam es, dass ich jetzt bei euch stehe und euch meine Erlebnisse der Wahrheit getreu erzähle.«

»Wartet ein wenig«, sagte der Erste, »ich werde jetzt einen Schatzmeister holen, der soll entscheiden, welche von beiden die grösste Lüge ist.«

Fortgegangen ist er wohl, aber nicht wiedergekommen, und somit gewann der Zweite wenigstens die Ehre, das Schlachtfeld behauptet zu haben.


Die Märchen von Lügenwetten sind nicht selten, die meisten schliessen aber, abweichend vom venetianischen, damit, dass der eine Lügner etwas erzählt, was den andern an seiner oder seiner Aeltern Ehre kränkt, weshalb er »Du lügst!« ausruft und so die Wette verliert. In mehreren dieser Märchen erzählt, wie im venetianischen, der eine Lügner, dass er an einer himmelhohen Pflanze bis in den Himmel gestiegen sei, hernach an einem Seil sich herabgelassen habe, zuletzt aber, da das Seil zu kurz gewesen, herabgesprungen und dabei tief in die Erde gesunken sei, worauf er rasch nach Hause gelaufen, sich eine Axt, Spaten, Schaufel oder dergl. geholt und damit herausgearbeitet habe. Siehe Grimm, KM., Bd. 3, S. 193 (Anm. zu Nr. 112); Vernaleken, Kinderm., Nr. 43; Schleicher, S. 37; Wuk, Nr. 44; Vogl, Slavonische Volksm., S. 51. Vgl. auch Wolf, Deutsche Märchen, Nr. 16, »Jan im Himmel«, wo[277] jedoch keine Lügenwette vorkommt, sondern das ganze, wie Grimm, Nr. 112, eben als Geschichte erzählt wird. In dem norwegischen Märchen, Asbjörnsen, Nr. 39, steigt der Lügner an einer Tanne in den Himmel, aber das Wiederherabsteigen u.s.w. fehlt; desgl. bei Müllenhoff, S. 153, wo der Lügner an Buchweizen in den Himmel steigt. In der neugriechischen Lügenwette bei Hahn, Nr. 59, steigt der Lügner an einer Kürbispflanze in den Himmel und wieder herab. – Ich hebe noch hervor, dass die in den Himmel wachsende Pflanze nicht bloss im venetianischen, sondern auch im litauischen und im deutschen Märchen bei Wolf eine Bohne ist. Auch in Märchen, die keine Lügenmärchen sind, kömmt die himmelhohe Bohnenpflanze vor, s. meine Bemerkung im Jahrbuch, Bd. 5, S. 23. – Endlich ist noch zu bemerken, dass, wie im venetianischen Märchen der erste Lügner davon ausgeht, dass er eine vermisste Biene sucht, so auch in der Lügenwette bei Haltrich, Nr. 56, und bei Wuk, Nr. 44, eine Biene gesucht wird. Vgl. auch das ossetische Lügenmärchen bei A.v. Haxthausen »Transkaukasia«, Bd. 2, S. 40. – In dem Lügenmärchen aus der Bukowina in Wolf's Zeitschrift für deutsche Mythologie, Bd. 2, S. 201, kömmt die himmelhohe Pflanze nicht vor, wohl aber dass der Lügner nach Hause läuft, um sich eine Hacke zu holen, mit der er sich aus einem Baumloch heraushaut.

1

Cattole, vicentin. Dialekt, ital.: assicelli.

2

Ein Fass, botte, enthält zwölf mastelli zu sechzig boccali; ein mastello ist ungefähr ein wiener Eimer.

3

Vicentin.: siglietta; italien.: passera.

4

Maledegno statt maledetto.

5

Beim Fruchtaustreten, das in Italien noch häufig üblich ist, erhalten die Arbeiter statt Geld einen Fruchttheil.

Quelle:
Widter, Georg/Wolf, Adam: Volksmärchen aus Venetien. In: Jahrbuch für Romanische und Englische Literatur 8 (Leipzig: 1866) 3ff, S. 275-278.
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