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[133] In den Tagen des heiligen Rabbi Elimelech von Lezaisk erließ der Kaiser von Österreich ein Gesetz, nach dem jeder Jude, der seine Tochter verheiratete, eine Abgabe von vierhundert Gulden an die Staatskasse zu zahlen hatte. Es ist aber bekannt, daß vierhundert Gulden um jene Zeit ein ganzes Vermögen bedeuteten, und daß ein Mann, der vierhundert Gulden besaß, zu den Reichen gezählt wurde. Als das Gesetz in Kraft getreten war, mußten viele Mädchen, deren Eltern die nötigen vierhundert Gulden nicht besaßen, unverheiratet bleiben, und wegen der grausamen Verordnung war ein Geschrei im ganzen Lande.
In einem Dorfe bei Lezaisk lebte ein frommer, doch armer Jude, der eine Tochter zu verheiraten hatte. Der Bräutigam war bereit, das Mädchen ganz ohne Mitgift zu nehmen, wenn der Vater die Steuer von vierhundert Gulden bezahlt. Der Vater war aber sehr arm, und darum konnte die Heirat nicht zustande kommen. Vater und Tochter waren sehr betrübt: wer weiß, ob sich wieder einmal eine ebenso vorteilhafte Partie finden wird! Das Mädchen war aber nicht mehr ganz jung.
Der Vater ging nach Lezaisk, um den Rabbi um Rat zu bitten. Als er in das Zimmer zum Rabbi ein trat, sagte er in seinem Kummer und seiner großen Aufregung: »Rabbi, ich habe eine Klage gegen den Herrn, gelobt sei sein Name!« Doch er bereute sofort seine Worte: »Was habe ich da gesagt! Welcher Mensch kann mit dem Herrn prozessieren und gegen den Herrn[134] recht behalten! Und vor wem habe ich diese Worte gesprochen? Vor unserem heiligen Rabbi!« Und er bereute seine Worte, denn er fürchtete, daß der Rabbi erzürnen und ihn hinauswerfen würde. Er wollte schon selbst aus dem Zimmer laufen, als der Rabbi sich an ihn mit stiller und freundlicher Stimme wandte: »Bleibe, mein Sohn. Du wolltest, daß ich deinen Rechtsstreit mit dem Herrn, gelobt sei sein Name, schlichte. Du weißt doch, daß ein einzelner Richter nicht richten darf. Gehe darum zu meinen Beisitzern und sage ihnen, daß sie sofort zu mir kommen: es sei eine Rechtsstreitigkeit zu erledigen.«
Der Mann erschrak sehr. Es war aber nichts mehr zu machen: dem Rabbi mußte man gehorchen; als der heilige Rabbi noch lebte, hatten alle Menschen Furcht vor ihm, denn alle seine Beschlüsse wurden vom Himmel bestätigt. Darum ging der Mann zu den Gerichtsbeisitzern und sagte ihnen im Namen des Rabbi, daß sie sofort kommen sollten; denn es sei eine Rechtsstreitigkeit zu erledigen. Die Beisitzer gingen gleich mit dem Manne mit und setzten sich zu beiden Seiten des Rabbi. Und der Rabbi sagte zum Kläger: »Bringe deine Klage vor, daß wir sie anhören.« Und der Mann erzählte: »Der Herr, gelobt sei sein Name, gab uns die Thora mit den sechshundertdreizehn Geboten. Das erste Gebot lautet: Seid fruchtbar und mehret euch. Nun hat der Kaiser verordnet, daß man für jede jüdische Ehe vierhundert Gulden Steuer zahlen muß; wer besitzt aber heute vierhundert Gulden? Und wenn man nicht mehr heiratet, so ist auch das erste Gebot nichtig. Darum muß[135] der Herr, gelobt sei sein Name, das kaiserliche Gesetz nichtig machen.«
Als der Kläger fertig war, sagte der heilige Rabbi zu seinen Beisitzern: »Was der Herr darauf entgegnen kann, wissen wir ja selbst. Also wollen wir gleich mit der Beratung beginnen. Nach dem Gesetz müssen beide Parteien für die Dauer der Beratung den Gerichtssaal verlassen. Doch der Herr, gelobt sei sein Name, erfüllt die ganze Welt, und es gibt keinen Ort, wo er nicht gegenwärtig wäre; denn wer könnte ohne Gott auch nur einen Augenblick leben? Andererseits geht es nicht an, daß nur die eine Partei den Gerichtssaal verläßt, und die andere bleibt. Da der Herr während unserer Beratung im Zimmer bleibt, darf auch der Kläger im Zimmer bleiben.« Mehr sagte der Rabbi nichts. Er saß auf seinem Sessel mit geschlossenen Augen, und sein Gesicht war rot wie Feuer. So saß er eine Viertelstunde.
Dann erwachte der Rabbi gleichsam aus einem Traum und ließ sich den Talmudtraktat »Von den Scheidungen« geben. Er schlug den Band auf und nahm mit seinen Beisitzern den Fall des Mannes, der zur Hälfte Knecht und zur Hälfte frei ist, laut durch. Es ist dies folgender Fall: »Ein kanaanitischer Knecht gehört zweien jüdischen Herren zugleich, von denen ihn der eine frei gemacht und der andere nicht frei gemacht hat. Dieser Knecht darf keine kanaanitische Magd heiraten, denn er ist zur Hälfte Jude; und er darf keine Jüdin heiraten, denn er ist zur Hälfte Kanaanite. Also darf der Mann gar nicht heiraten. Gott hat aber die Welt erschaffen, damit[136] sie sich mit Menschen fülle. Darum muß der zweite Herr gezwungen werden, den Knecht gleichfalls frei zu machen, damit er heiraten könne.«
Als der Rabbi die Worte sprach: »Darum muß der zweite Herr gezwungen werden,« hob er die Augen und beide Arme gen Himmel. Es heißt aber: Was der Gerechte beschließt, bringt der Herr in Erfüllung; und was der Herr beschließt, kann der Gerechte umstoßen. Also sagte der Rabbi zum Kläger: »Geh heim, denn der Kaiser hat seinen Erlaß zurückgezogen.«
Der Mann ging nach Hause und begegnete unterwegs seinen Angehörigen, die ihm die Nachricht überbrachten, daß das Gesetz aufgehoben sei. So mögen auch wir der Gnade teilhaftig sein, vom Himmel gute, hilfreiche und trostreiche Nachrichten zu vernehmen. Amen.