11. Der rechte Eidam.1

[18] Ein frommer und reicher Mann hatte ein Töchterlein, das besass alle Tugenden der Welt. Und da Vater und Mutter bereits bei Jahren waren, so dachten sie daran, ihr Kind auszugeben2. Nun hatte der Mann einen Schwiegersohn, der war[18] sehr gelehrt und reich. Aber die Frau, die dachte wiederum an einen Bruderssohn, der war wohl nicht minder gelehrt, aber bettelarm. Da sich nun die beiden Gatten nicht einig werden konnten, wem sie ihr Kind geben sollten, so luden sie ihre ganze Verwandtschaft und Freundschaft ein, die sollten entscheiden.

Die Gäste rieten lange hin und her. Endlich sprachen sie zu ihren Wirten: »Gebet jedem der beiden Freier zweihundert Thaler, damit sollen sie ein Jahr lang auf die Wanderschaft gehen. Alsdann wird sich zeigen, wer damit besser gewirtschaftet hat.« Die Wirte waren es zufrieden. Auch die beiden Nebenbuhler waren darob hochbeglückt. Ein jeder meinte, er wolle die schöne Jungfrau3 schon bekommen, als wär' ihm eine gebratene Taub' in's Maul geflogen4. Sie kauften ein, der eine Waren, der andere Edelsteine5 und zogen frohgemut von dannen.

Aber schon in der ersten Herberge, in der sie einkehrten, wurden sie arg bestohlen. Dem einen nahm man den Beutel, worin er sein bares Geld verwahrte, dem anderen aber mit dem Beutel sein ganzes Hab' und Gut; denn all' sein Edelgestein hatte er darein gethan. Jener zog nun freudig heim, da ihm seine Waren noch geblieben waren, während der andere hilflos zurückbleiben musste.

In seiner Hilflosigkeit trat er in ein Lehrhaus ein, an welchem er gerade vorüberkam. Es war das Lehrhaus des Fürsten6 von Babylon. Nicht weniger, als vierhundert emsige Schüler fand er da zu den Füssen des grossen Meisters.7 Der Arme8 setzte sich bescheiden hinter den Ofen und getraute sich nicht, ein Wort mitzureden. Da hörte er, wie der Meister den Schülern für den nächsten Tag eine schwierige Aufgabe9 zu lösen gab. Von keinem bemerkt, blieb er im Lehrsaal zurück, und als es Nacht geworden war, setzte er sich an die Bücher, in denen er wohl bewandert war, und begann der Frage nachzusinnen. Und siehe da! Es öffnete sich die Thür und herein trat der Profet Elia.10 Er setzte sich neben den Freiersmann und half ihm die Aufgabe lösen.

Wie freute sich nun der Meister über den Scharfsinn seiner Jünger, als er am nächsten Morgen auf seinem Pulte die Lösung seiner Aufgabe vorfand. Doch keiner seiner Schüler wollte der Verfasser sein. Als sich derselbe Vorgang am nächsten Tage wiederholte, wurde der Meister doch neugierig. Er machte in die Thür des Lehrsaales eine kleine Oeffnung und beobachtete durch das Loch den Fremden, wie er aus seinem Versteck hervorkam und eifrig studirte. Den Profeten Elia gewahrte er nicht. Tags darauf holte er den Armen hinter dem Ofen hervor, erzählte seinen Schülern, was er gesehen, und wollte den Braven[19] dadurch ehren, dass er ihm seine einzige Tochter zur Ehe versprach. Doch als er sein Missgeschick erfahren hatte, da liess er ihn mit reichen Geschenken von dannen ziehen und gab ihm mit seinen Schülern feierliches Geleit.

Auf seinem Wandern geriet unser Jüngling in einen grossen Wald. Drei Tage hatte er bereits den Wald durchirrt und nichts zu essen gefunden. Da erblickte er endlich einen Apfelbaum. Die Aepfel sahen ihn so einladend an, dass er sich sogleich welche herunterholte. Aber kaum hatte er in einen hineingebissen, da wurde er von heftigen Schmerzen geplagt und von einer schweren Krankheit befallen. Aber der Hunger trieb ihn, einmal einen anderen Apfelbaum, der dicht daneben stand, zu versuchen. Und welches Wunder! Er brauchte nur von diesen Aepfeln einen zu kosten, da war er auch schon von seinen Leiden geheilt. Klug wie er war, steckte er sich nun von den giftigen, wie von den guten Aepfeln so viel in die Taschen, als er nur tragen konnte.

Endlich lichtete sich der Wald, und er kam in eine grosse Stadt, die Hauptstadt des Landes. Hier fand er alle Leute in tiefer Trauer. Ihr vielgeliebter König lag an einem schweren Leiden11 danieder. Es war gerade jene Krankheit, die man sich von jenen giftigen Aepfeln holte. Stracks liess sich unser Freund vor den König führen. Er wollte, was allen Doktoren12 misslungen war, versuchen. Zuerst gab er dem Kranken von den giftigen Aepfeln zu essen. Dadurch wurden die Schmerzen auf das Höchste getrieben. Hierauf reichte er ihm sogleich von den anderen Aepfeln, und im Nu fühlte sich der König gesund und munter. Er versprach seinem Retter das halbe Königreich. Doch dieser erbat sich nur eine Stadt, nämlich die, in der er geboren war und seine Eltern und Verwandten wohnten. Der König schenkte ihm nicht nur die Stadt, sondern obendrein eine stattliche Gefolgschaft der besten Ritter.

Unschreiblich war die Pracht und die Freude, mit welcher der neue Stadtherr von den Bürgern empfangen wurde. Auch die Judenschaft brachte ihm auf der Burg ihre Huldigung dar. Ihr Führer überreichte einen kostbaren Aufsatz13 und zwanzig aparte Gläser dazu. Der Burgherr hatte unter den Juden sogleich seinen Vater erkannt, der in ärmlicher Kleidung beiseite stand, und ihm wies er das Geschenk zu. »Der kann es wohl besser gebrauchen«, meinte er freundlich. »Doch wenn ihr einmal eine Hochzeit oder sonst eines eurer Feste feiert, so möchte ich gern dabei sein, um mich mit euren Bräuchen und Sitten bekannt zu machen.« Da lud ihn denn der Führer, der kein anderer, als sein Oheim war, sogleich zur Hochzeit seiner Tochter ein, die noch in derselben Woche sollte gefeiert werden,[20] da ja das Jahr um und der eine Freier noch immer nicht zur Stelle war.

Der Burgherr fand sich auch pünktlich zur Hochzeit ein. Und gerade, wie das Paar zur Trauung schritt, da trat er vor und erzählte sein seltsames Schicksal. Sein Nebenbuhler14 zog beschämt ab, und er trat an seine Stelle. Er und seine Kindeskinder beherrschten15 noch lange die Stadt in Glück und Frieden.

Nun seht ihr wohl: wem Gott hilft, dem kann niemand schaden. Wie Gott dem armen Freiersmann geholfen hat, so möge er auch uns gnädig sein!

1

Maa. 224. H. I, 39.

2

o.

3

o. das schön Mensch.

4

o.

5

Aehnl. Motiv: Ohel Ja'aqob zu III M. 23, 15 (Mischle Ja'aqob, Przem. 1875, S. 87).

6

o. nosi Gemeint ist wohl.

7

o. lernten.

8

o. bochur

9

o. den therec auf einen chilluq.

10

Als Lehrer tritt Elia in einer Rolle, die man sonst dem Engel Gabriel (vgl. Raschi zu I M. 37, 15) zuschreibt, nicht selten im Talmud E. begegnen wir: B. qam 60b, B. mec. 85b, Qidd. 69f., Gitt. 6b, 70a, Midr. Schir hasch. II, 13 n. sonst und in den älteren Midraschim auf. Er wird hier saba »der Alte« genannt (vgl. oben S. 29 »Das Bethaus im Walde«). Mit Benutzung solcher Stellen und in der Form einer Unterweisung Elias im Lehrhause zu Jerusalem ist c. 974 von einem Babylonier der Midrasch Tana debe Elijahu verfasst. (Vgl. Schalsch. 25b u. S E G Anm. 64.) – Im übrigen s. über Elia: Mi. 2b. Je. 209 ff. U. IV, 11,42. In Fostat und Alexandrien (hier zuletzt 1846) hat man ihn oft gesehen (Saf. I, 3a. 20b). In Hamburg sah man ihn häufig, indem er einem ein gutes Geschäft wünschte. Das hatte stets Erfolg. – Ueber Elias und Chidher s. Jahrb. f. jüd. Gesch. I, 116.

11

o. Aussatz. So heisst es auch in den Gest. Roman. bei Gri. III, 211 f (n. 122 »Der Krautesel«). Was die Früchte vom ersten Baum verderben, machen die vom anderen wieder gut (Praetorius, Weltbeschreibung II, 452–455, Görres Volksb. 71). Ueberhaupt ist es »ein Axiom des Märchenglaubens, dass dasselbe Element irgendwie differenziirt (z.B. an einem andern Orte) die entgegengesetzte Eigenschaft habe (B P I, 48).

12

o. doktorim.

13

o. ein schön kĕli un' zwanzig prate gläser. Helwig liest: Portugaleser drinnen.

14

o. der alt chothon.

15

o. regnirten.

Quelle:
Märchen und Sagen der deutschen Juden. In: Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde, herausgegeben von M. Grunewald, Heft 2 (1898) 1-36, 63-76, S. 18-21.
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