13. Die Vögel des Himmels werden es verraten.1

[21] Es geschah einst2, dass ein Jude über Land ging. Da kam ein Räuber3 und nahm ihm alles, was er bei sich hatte. Und als er es ihm genommen hatte, sprach der Räuber: »Nun muss ich dich auch um dein Leben bringen. Denn wenn ich dich leben lasse, so wirst du mich verraten4 und mich um's Leben bringen. Drum will ich dich töten, so weiss ich gewiss, dass mir nichts geschieht.« Der Jude jammerte gar kläglich und sprach: »Lieber! Ich bitt' dich, lass mich doch leben! Ich will dich gewiss nicht verraten. Aber das sag' ich dir, wenn du mich um mein Leben bringst, so werden die Vögel dich verraten und du wirst doch um dein Leben kommen.« Da wurde der Räuber zornig und rief: »Ich sehe, du spottest meiner.« »Nein«, sprach der Jude, »es steht geschrieben in unserer heiligen[21] Schrift5: die Vögel, die zwischen Himmel und Erde fliegen, die werden es aussagen. Drum sieh! Der Vogel6, der dort auf jenem Baume sitzt, der sagt es aus7.« Da wurde der Räuber noch grimmiger und erschlug den Juden8

Unterwegs kam er in ein Wirtshaus, und der Wirt setzte ihm einen solchen Vogel gebraten vor, wie er ihn auf jenem Baum hatte sitzen sehen. Da dachte der Räuber an die Worte des Juden und hob laut zu lachen an. Der Wirt stand an dem Tisch und sprach: »Warum lachst du so? Dieweil du so ohne Grund9 lachst, muss doch gewiss eine Schalkheit dahinter stecken. Drum, Lieber, sag mir's, was lachst du?«

Der Räuber dachte: es war ja nur ein Jude, was ist denn daran viel gelegen? Und er erzählte dem Wirt den ganzen Handel. Der sagte sich aber: »Hat der den Juden erschlagen, so hat er gewiss noch mehr auf dem Gewissen.« Er eilte sogleich im Geheimen zum Bürgermeister10 und berichtete ihm, was er wusste. Alsdann setzte er sich wieder, wie wenn nichts geschehen wäre, zu seinem Gaste. Da trat mit einem Male der Bürgermeister mit drei Schergen herein und rief dem Räuber zu: »Gieb dich gefangen!« Nun konnte sich der Räuber vor Schreck gar nicht rühren. Er wurde sogleich auf die Folter gespannt11 und gestand alle seine Schändlichkeiten. Die sollte er gar bald auf dem Rade büssen12.

So ist es wahr geworden, was der Jude gesagt hat: »Die Vögel des Himmels werden es verraten.«

1

Maa. 208. Vgl. Gri. III, 205 (N. 115: die klare Sonne bringt es an den Tag) nach Hulderich Wolgemuth, erneuerter Esopus, Frankf. 1623; Orient III, 378. Ueber »die Kraniche des Ibykus« s. Cass. 86. Aehnliches wird von Sal. ibn Gabirol erzählt: Schalscheleth ha-qabbala 39b, auch in: Ma'ase ha-schem und S. I (Weisel, der Feigenbaum als Zeuge).

2

o. ma'ase geschach an einem juden. Verwandtes Motiv: II Chr. 24,22.

3

o. gazlon.

4

o. vermassern.

5

Qoh. 10, 20. – Die Anlehnung an Bibelstellen ist von altersher üblich, vgl. Zeitschr. d.D. Morg. Gesellsch. XII, 152.

6

bei Gri. a.a.O. ein Rebhuhn, möglicherweise mit Anspielung, vgl. die Deutung des Namens Rapoport in Z V 1894 S. 204 f. (Ueber Rapoport s. Cassel Lehrbuch 433.)

7

o. oder ein teil [entspr. nh. miqcath »einige«] leut sagen: ein Engel von himmel, der heisst ouf (Vogel), der führt das geschrei aus.

8

o. Ha-schem jischmĕrenu (Gott bewahre uns!).

9

o. einlein.

10

o. rosch'oron.

11

o. führten ihm gleich thofus un' waren ihm mĕ'anne.

12

o. so war er geratbrecht.

Quelle:
Märchen und Sagen der deutschen Juden. In: Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde, herausgegeben von M. Grunewald, Heft 2 (1898) 1-36, 63-76, S. 21-22.
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