7. Der Wolkenritt von Worms nach Spanien.1

[13] Der berühmte spanische Weise Nachmanides2 wusste lange Zeit trotz allen Scharfsinnes viele Stellen der Gotteslehre nicht zu erklären. Denn er kannte, wie alle seine Landsleute, damals noch nicht die Geheimkunst der Kabbalisten, von denen man sagte, dass sie allein jene schwierigen Stellen verstünden.

In einer Nacht nun, es war gerade die zweite Nacht vor dem Pesachfeste, wurde im Himmel ausgerufen: »Wer will den spanischen Meister in der Geheimkunst unterweisen und zugleich ihn und seine Stadt von dem Bösewicht befreien, der mit solcher Grausamkeit über sie herrscht?« Unter den frommen Seelen, die da jede Nacht im Himmel sich einfinden und am Morgen wieder in ihre Leiber zurückkehren, nachdem diese sich durch den Schlaf neu gestärkt haben, war auch die Seele des grossen Meisters der Geheimkunst Rokeach3 aus Worms. Die meldete sich und erhielt die Erlaubnis, die Geheimkunst4 dabei anwenden zu dürfen.[13]

Am nächsten Morgen bereits machte sich unser Rokeach auf den Weg. Er bestieg eine Wolke, welche er mit Hilfe seiner Kunst herbeibeschworen hatte, und fort ging's in's ferne Spanien. Die Wolke flog so schnell, dass die frischgebackenen Osterbrote, welche der Meister der Vorsicht halber mitgenommen hatte, noch ganz warm waren, als er in der Stadt des Nachmanides landete5.

Des Abends ging er ins Gotteshaus, wo man gerade das Pesachfest begrüsste, und stellte sich in die Nähe des Meisters Nachmanides. Dieser bat den Fremden, als der Gottesdienst beendigt war und alle freudig zum Seder eilten, sein Gast zu sein. Der Rokeach erzählte nun auf dem Heimweg, dass er ein Wanderprediger sei, wie sie damals von Ort zu Ort zu ziehen pflegten, um in den jüdischen Gemeinden belehrende Vorträge zu halten, und sprach den Wunsch aus, am nächsten Tage im Gotteshause zu predigen. Doch als Nachmanides bei Tisch mit seinen Gästen gar eifrig die Haggada las und erklärte und er den Rokeach so stumm dasitzen sah, da bekam er von seinem Wissen keine hohe Meinung. In Wahrheit schwieg aber der Wormser Weise nur, weil er allein mit Hilfe seiner Kunst die Haggada richtig zu verstehen glaubte. Auch kamen ihm seine Osterbrote, die auf kabbalistische Art gebacken waren, bei Tische trefflich zu statten.

Als Nachmanides nun seinem Gaste die Ruhestätte anwies, warnte er ihn nachdrücklich, ja nicht ohne ihn das Haus zu verlassen. Denn der böse Fürst der Stadt liesse jeden töten, der in einer bestimmten verrufenen Gasse ergriffen würde, zu der nur der Fürst und sein Hof Zutritt hatten. Leicht könnte sich der Rokeach, wenn er allein ausginge, dahin verirren6 Kaum war alles zur Ruhe gegangen, da eilte unser Rokeach absichtlich in jene Gasse. Die Häscher des Fürsten ergriffen ihn und sogleich wurde auf des Fürsten Befehl gerade an dem Wege, der zum Gotteshause führte, ein grosser Scheiterhaufen errichtet, auf dem der fromme Rokeach am nächsten Morgen verbrannt werden sollte.

Wie war nun der gute Nachmanides erschrocken, als er seinen Gast nicht vorfand und bald darauf von dem nächtlichen Vorfall hörte. Man eilte in's Gotteshaus, und da von dem Zorn des Fürsten noch weitere Grausamkeiten zu befürchten waren, so sputete man sich, recht bald wieder bei den Seinigen zu Haus zu sein. Auf dem Heimwege sahen die Gläubigen den Scheiterhaufen bereits in lichten Flammen stehen. Dicht davor stand der arme Rokeach und ihm gegenüber der Fürst, welcher sich an dem blutigen Schauspiel weiden wollte. Als nun Nachmanides vorüberkam, da rief ihm sein unglücklicher Gast[14] zu, er solle mit dem Kiddusch auf ihn warten. Das musste ihn doch in seiner Ansicht bestärken, dass der Fremde nicht recht bei Sinnen sei.

Inzwischen hatten die Henkersknechte das Feuer genügend geschürt, und nun sollte der Gefangene in die Flammen geworfen werden. Doch in diesem Augenblick beschwur der kluge Meister einen Engel, welcher ihm das Aussehen des Fürsten und diesem das seinige gab, und im Handumdrehen war der Bösewicht ergriffen und in den Flammen verschwunden.

Nachmanides hatte soeben den Kiddusch begonnen, als sich die Thür aufthat und sein Gast hereinspazierte, den er vor wenigen Minuten hatte zum Tode führen sehen. Der Wundermann versprach ihm eine Erklärung seines rätselhaften Verhaltens in der Predigt, die er nachmittags im Gotteshause zu halten gewünscht hatte. Hier zählte er nun zunächst zum grossen und freudigen Erstaunen seines Wirtes all' die Schwierigkeiten auf, die diesem beim Studium der Gotteslehre je aufgestossen waren. Er wusste sie alle mit Hilfe seiner Kunst zu beseitigen. Alsdann erklärte er vor versammeltem Volke seine Sendung und Rettung und alle gaben ihm das Ehrengeleit, als er sich wieder mit seinem Wirte heimbegab.

Diesen unterwies er nun gründlich in seiner Kunst, für welche sich Nachmanides so begeisterte, dass er sie allen Gelehrten im Lande der Väter und in anderen Landen auf's wärmste empfahl7.

1

M N 7. Das Wandern der Seele während des Schlafens: Gr. I, 336. Mitt. d. Schles. Ges. f. Volksk. I, 4 f. Spencer System (deutsch) VI, 168 u. sonst.

2

Ueber die Bekehrung N'. s zur Qabbala gingen mancherlei Sagen, vgl. Grätz Gesch. VII. Schalsch. ha-qabb. 55b (M.h. S. n. 8) wird ein Esel statt seiner verbrannt.

3

S. über. R., den Schüler Jehudas d. Fr.: A L 463 f., Grätz a.a.O. und Cassel Leitfaden.

4

o. schemouth (magische Namen).

5

Ungefähr denselben Weg legt in umgekehrter Richtung Abraham aus Saragossa zurück, als er zu ähnlichem Zwecke den hohen Rabbi Löb in Prag besucht (S. III, 12 f., vgl. Görres Volksb. 219). Vgl. die Reise Clingsors und Heinrichs von Ofterdingen (Gr. II, 343). Die Wolke ersetzt hier den Wunschmantel, nach welchem ja Dr. Faustus (= fortunatus, vgl. Bodl. 3924) seinen Namen führt (Gri. III, 213). Vgl. Horst, Dämonomagie II, 214.

6

o. der Zusatz, der Fürst würde sich besonders freuen, an seinem Osterfeste einen Juden als pesach (Opfer) darbringen zu können.

7

ist historisch. – M.h.S.n. 8 erzählt, wie Nachm. nach Palästina gefahren auf einem Schiff, welches keiner ausser ihm von der Stelle bewegen konnte (vgl. Edda [Simrock] p. 281 bei Schw. 258). Seinen Schülern sagte er beim Abschied, wenn sie den Grabstein seiner Mutter gespalten fänden, so sollten sie wissen, dass er gestorben sei, und wenn sie mitten darin einen Leuchter (o. menouro) sähen, dass er unterwegs gestorben. So geschah es.

Quelle:
Märchen und Sagen der deutschen Juden. In: Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde, herausgegeben von M. Grunewald, Heft 2 (1898) 1-36, 63-76, S. 13-15.
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