[65] 19. Diarmuid und Gráinne

[65] Wenn Fionn und die Fenier auf Jagd und Fang aus waren, blieb gewöhnlich ein Mann der Fenier zur Bewachung des königlichen Haushalts zurück. An einem bestimmten Tage nun war es Diarmuid Donn, der daheim blieb. Da es ein sehr schöner Tag war, gingen die Frauen zusammen an den See schwimmen. Hierbei ertrank eines der Weiber Namens Sadhbh Eoghain. Die andern Frauen erhoben ein Klagegeschrei, und als Diarmuid ihr Gejammer vernahm, ging er selbst hin zu ihnen. Sie erzählten ihm, daß Sadhbh ertrunken wäre, und Diarmuid mußte sich entkleiden, um das Weib aus dem Wasser zu holen. – Nun hatte Diarmuid auf seiner Brust einen Liebesfleck, und jedes Weib, das diesen erblickte, mußte sich in ihn verlieben. – Gráinne war Fionns Ehefrau, obwohl nicht seine erste. Sie befand sich unter den andern Frauen beim Schwimmen, und zufällig erblickte sie den Liebesfleck an dem entkleideten Diarmuid. Auf der Stelle verliebte sie sich in ihn, rief ihn beiseite und sagte, es wäre das beste für ihn, mit ihr davonzugehen; Fionn sei zu alt, sie wolle nicht länger bei ihm bleiben. Diarmuid gab ihr zur Antwort, so etwas täte er nicht. »Ich verehre Fionn sehr,« sprach er, »und wenn ich mit dir entwiche, würde mir Fionn ewig zürnen.« Jedoch sie setzte ihm fortwährend zu und legte es ihm schließlich als heiligen Bann auf, mit ihr zu gehen. Diarmuid mußte sich dem fügen, und sie machten sich auf[66] den Weg. – »Nun also,« meinte Diarmuid, »wenn Fionn und die Fenier nach Hause kommen, sind wir beide davongelaufen und Sadhbh ist ertrunken. Das ist eine traurige Kunde, die sie erwartet. Ohne Zweifel werden sie erbittert sein und uns verfolgen. Und nicht lange, so haben sie uns eingeholt und schlagen uns dann den Kopf ab. Wenn du meinem Rate folgen wolltest, bliebest du zu Hause.« – Aber er konnte sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen. »Ich will deine Ratschläge nicht,« gab sie ihm zur Antwort. »Laß uns aufbrechen! Sie werden bei unserer Verfolgung kein Glück haben.« »Weißt du denn nicht,« sprach Diarmuid, »daß Fionn, sobald er am Daumen kaut, herausbekommt, wo wir uns aufhalten?« »Nun,« sagte Gráinne, »fülle einen Sack mit Seesand. Wahrscheinlich weiß Fionn dann nicht so bald über uns Bescheid, wie du annimmst.« Er füllte einen Sack mit Sand und machte sich mit Gráinne auf den Weg. Den Sack trug er auf dem Rücken. – In ihrer Wanderung bogen sie bald von Süden ab und gingen, bis die Dämmerung hereinbrach. Sie waren an einen Waldrand gelangt. Gráinne sagte zu Diarmuid, sie sei müde, und es wäre das beste für sie, zu rasten bis es Tag würde. Daraufhin legte Diarmuid den Sandsack ab, setzte sich nieder, seufzte schwer auf und sprach: »Besser wär's, im Königsgehöft des Fionn Mac Cumhail zu weilen, als hier müde und hungrig.« – Nach einer Weile ging er in den Wald und erlegte ein Wild, kehrte zu Gráinne zurück, sammelte Holz und machte ein Feuer an. Bald hatten sie das Wild geröstet und aßen sich an dem Braten satt. Danach nahm Diarmuid sein Schwert, ging hin, faßte einen Busch Binsen und hieb ihn ab, um für Gráinne ein Lager zu bereiten. Er machte es hübsch und behaglich zurecht am Ufer eines Bächleins, das durch den Wald rieselte. Dann sagte er zu ihr: »Hier ist ein Lager für dich! Du kannst nun darin schlafen. Ich werde aufbleiben und wachen, damit uns die Verfolger nicht überraschen.« Gráinne suchte ihr Lager auf und meinte zu Diarmuid: »Es wäre kein Schade, wenn du dich in dies Bett legtest, denn vor Tag ist keine Gefahr für uns.« »Nein,« versetzte Diarmuid, »du magst ruhig schlafen. Ich will hier am andern Ufer des Baches auf dem Sandsack wachbleiben.« – So geschah es denn. Um diese Zeit war Fionn mit den Feniern vom Jagdausflug zum Königsgehöft zurückgekehrt. Als sie von dem Unglück hörten, das sich inzwischen zugetragen hatte – nämlich, daß Gráinne mit Diarmuid davongelaufen und Sadhbh ertrunken wäre –, ergriff den Fionn großer Zorn. Er befahl den Feniern, ihm unverzüglich Diarmuids Haupt herbeizuschaffen.[67] Da antwortete Oisín und sprach: »Wo ist es zu holen?« »Man beschaffe es!« sagte Fionn. Damit kaute er am Daumen und erfuhr: Gráinne befand sich auf Binsen und Diarmuid auf Seesand. Als Fionn aus dem Daumenkauen erfahren hatte, daß Diarmuid und Gráinne nicht beieinander weilten, verflog sein großer Zorn. Er meinte, ihre Verfolgung sei vor Tagesanbruch nicht nötig. – Am andern Morgen sammelte er sieben Schlachthaufen der diensthabenden Fenier. Diese suchten an der Küste entlang die Spur von Diarmuid, hatten aber damit kein Glück. Bei Sonnenaufgang rief Diarmuid Gráinne zu: »Du hast gut geschlafen,« und fuhr fort: »Aber nun ist's Zeit für dich aufzustehen. Wir werden den Rest vom Wildbret verzehren und dann den Ort hier verlassen.« So geschah es. Als sie das Fleisch gegessen hatten, brachen sie wieder auf. Diarmuid trug den Sack auf seinem Rücken. Um die Mittagszeit durchwanderten sie ein feuchtes Moor, und Gráinne sagte zu Diarmuid, er sollte sie doch auf seinem Rücken hindurchtragen, sie wäre schon sehr müde. Aber Diarmuid gab ihr zur Antwort, es wäre ihm nicht möglich. »Denn,« meinte er, »ich trage schon den Sack auf meinem Rücken, und das ist nicht wenig.« – Während ihres Zusammenseins fiel es Diarmuid nicht ein, Gráinnes Ehre anzutasten. Er hatte zu große Achtung vor Fionn. Zwar reizte sie ihn oft genug. Als sie nun so dahinschritten, glitt Gráinne mit dem Fuße aus in einen Wasserpfuhl, und das Wasser spritzte ihr an die Beine. Als Diarmuid hinter sich ein Geräusch vernahm, blickte er sich um. In dem Augenblick trocknete sich Gráinne die Füße. Da sagte sie: »Der Tropfen Wasser hat mehr Mut als Diarmuid!« Doch er beachtete ihre Worte nicht. – Im Laufe der Nacht gelangten sie an einen Ort, genannt »Hirschtal«. Diarmuid bereitete für Gráinne ein Binsenlager an einem Abhang des Tales. »Leg dich hierher!« sagte er. »Ich will mir ein anderes Lager am andern Abhang gegenüber machen.« Das gefiel Gráinne nicht, denn ihr fehlte ein Weg durchs Tal zu Diarmuid. Sie hatte gehofft, sie würden beide auf einer Seite bleiben. Aber darauf ging er nicht ein, sondern machte sich mit seinem Sandsack auf den Weg zur andern Seite des Tales. – Dort legte er sich in eine Felsenkluft und den Sandsack unter den Kopf. Um diese Zeit waren Fionns Mannen zurückgekehrt, ohne eine Kunde von Diarmuid und Gráinne zu bringen. Fionn kaute abermals am Daumen und erfuhr dadurch, daß Diarmuid auf Seesand schlief, Gráinne aber auf einem Binsenlager. Fionn sagte zu seinen Leuten, sie müßten sich wieder aufmachen und gründlich längs der Küste[68] suchen, Diarmuid weile dort, sie hätten ihn nur nicht ausfindig gemacht. Da zogen alle mit ihrer Hundemeute aus. Fionn selbst ging zu ihrer Begleitung mit. Als Gráinne am andern Morgen aufgestanden war, ging sie hinüber auf die andere Seite vom Tal, um Diarmuid zu suchen und ihm vorzuklagen, daß sie hungrig sei und daß sie wohl nur noch kurze Zeit zusammen sein würden – dann müsse sie sterben. »Ich habe weder zu essen noch zu trinken von dir bekommen, und es reut mich, daß ich mit dir ging.« »Ich war's doch nicht, der da sagte, du solltest davonlaufen!« sprach Diarmuid. »Ich gab dir guten Rat, ehe wir die Heimat verließen. Aber es ist ja ganz vergebens, eine törichte Frau von dem abzubringen, was sie sich in den Kopf gesetzt hat. Nun ist nichts mehr zu machen. Trotz alledem – solange wir zusammen sind, sollst du nicht Hungers sterben.« Damit wandte sich Diarmuid dem Berge zu, um Jagdwild für Gráinne zu erlegen; denn satt sollte sie werden. Doch er hatte kein Glück bei der Jagd. Als er wieder ins Tal zu Gráinne zurückwollte, begegnete ihm auf dem Wege ein kleines Weiblein. Das trug einen langen absonderlichen Mantel. So lang war er, daß er am Boden schleifte. Das Weib grüßte Diarmuid und fragte, was ihn in diese Gegend geführt habe. Er erzählte ihr die ganze Geschichte, wie sie sich zugetragen hatte, von Anfang an bis zu seiner erfolglosen Jagd, und klagte ihr, daß es ihm jetzt an Beute fehle und er nicht Gráinnes Hunger stillen könne. Da antwortete das Weiblein und sprach: »Diarmuid O'Duinn, dich und Gráinne soll nicht Durst oder Hunger quälen! Führe mich zu Gráinne. Es steht in meiner Macht, euch Gutes zu tun.« Sie gingen zusammen, bis sie in das Tal zu Gráinne gelangten. Dort warf das kleine Weiblein den Mantel ab und breitete ihn am Abhang aus. Und plötzlich deckte er sich mit jeglicher Art Trank und Speise, wie es sich ein Mensch nur wünschen konnte. Sie aßen und tranken, bis sie ihren Hunger und Durst gestillt hatten. Nach der Mahlzeit bedankte sich Diarmuid herzlich bei dem Weiblein für die erwiesene Wohltat und bat sie, ihm ihren Namen zu nennen; denn er hoffte einmal Gelegenheit zu haben, auch ihr einen guten Dienst zu erweisen. Da erwiderte das kleine Weiblein: »Ich heiße die ›einfältige Frau‹, und, Diarmuid O'Duinn, ich kannte deine Mutter sehr gut. Als sie schwanger war, brachte sie einen großen Teil ihres Lebens draußen in den Wäldern zu. Denn sie war irre geworden. Und hätte ich sie nicht behütet, wäre sie oft in großer Gefahr vor den wilden Tieren des Waldes gewesen.« Hier hörte sie auf zu reden, nahm ihren Mantel um und[69] verließ sie alsobald. Diarmuid und Gráinne verbrachten einen freundlichen Tag. Als die Nacht kam, gingen sie schlafen, ein jedes auf seiner Seite des Tales. – Als Diarmuid am Morgen aufgestanden war, rief er mit lauter Stimme über das Tal hin Gráinne zu, sie solle ihm das Hemd waschen. Dabei stellte er sich an den Eingang der Felsenkluft, in der er geschlafen hatte, ergriff mit seiner Rechten das Hemd und schleuderte es mit einem geraden, geschickten Wurf hinüber zu Gráinnes Lager. Sie erhob sich, nahm das Hemd und warf es Diarmuid wieder zurück. Dabei rief sie, er verdiene kein gewaschenes Hemd. Als Diarmuid das hörte, war er sehr erbost, packte einen Feldstein und schleuderte damit über das Tal hinweg nach Gráinne. Der Stein flog an den Eingang der Felsenkluft, in der sich Gráinne befand. Zum Glück traf er sie nicht. In dem Augenblick trat wieder die einfältige Frau zu Diarmuid und sprach: »Diarmuid O'Duinn, weshalb bist du so zornig?« »Ich habe Grund dazu,« gab er zur Antwort. »Ich sagte Gráinne, sie sollte mir das Hemd waschen. Sie will es aber nicht tun, sondern sagt, ich verdiene kein gewaschenes Hemd. Und ich meine, dies nicht um Gráinne verdient zu haben; denn solange wie wir zusammen sind, habe ich alles für sie getan, was ich konnte. Ich lasse sie weder hungern noch dürsten und lasse sie schlafen, solange sie will.« »Du mußt freundlich mit Gráinne umgehen,« sagte das einfältige Weib. »Komm und begleite mich durchs Tal zu ihr. Ich will zwischen euch Frieden stiften. Und wenn ihr euch versöhnt habt, gib ihr einen Kuß!« So geschah es. Sie gingen zusammen zu Gráinne. Das einfältige Weib breitete ihren Mantel auf dem Boden aus. Es erschien darauf jegliche Art Speise und Trank, wie es sich ein Schlemmerauge nur wünschen konnte. Sie forderte Diarmuid und Gráinne auf, sich zu setzen und zu essen. Sie taten es gern, und während sie aßen, versöhnte das Weiblein die beiden. Alsdann gab Diarmuid Gráinne einen Kuß. Hierauf hob das einfältige Weib ihren Mantel vom Boden auf und entschwand ihren Blicken. Sie verbrachten den Tag in Gemeinschaft und es heißt, Gráinne habe jetzt auch Diarmuids Hemd gewaschen. Aber als die Nacht kam, ging Diarmuid durchs Tal, um seine Schlafstätte aufzusuchen. In diesem Tale verweilten die beiden eine lange Zeit, und das einfältige Weib vergaß nicht, sie mit Nahrung zu versehen. Wie lange sie dort zubrachten, wußte der Erzähler nicht zu sagen. Aber das wußte er, daß es zwischen den beiden kein Zerwürfnis mehr gegeben hat. – Während der ganzen Zeit war Fionn mit seinen Feniern auf der Suche nach Diarmuid[70] und Gráinne. Kein Ort in ganz Irland, den sie nicht durchforscht hätten, besonders längs der Küste. Denn die Kunde, die Fionn aus seinem Daumen sog, war diese: Diarmuid weile im Dünensand. Eines Tages, als sie die südliche Küstenstrecke von Irland abgesucht hatten, sagte Fionn zu den Feniern, es ist keine Aussicht, sie aufzufinden. Da hub Conán an und sprach: »Wir haben jeden Küstenfleck genau durchforscht. Diarmuid kann hier nicht weilen, sonst wüßten wir darum. Wir täten gut, nun heimzukehren. Jedoch du sagtest, Fionn, daß Gráinne in den Binsen steckt. Hier ist ein weites Binsenland nordwärts bis zum Königsgehöft hin. Laßt uns dies Binsenland vor uns nach Norden durchstreifen. Wer weiß, vielleicht ist's uns vergönnt, Gráinne zu finden.« Die Fenier sammelten sich nun, um das Binsenland zu durchsuchen. Sie wandten der Küste den Rücken und das Angesicht nordwärts dem Lande zu in der Richtung zum Königsgehöft. Bald hatten sie jeden Fleck abgesucht, wo es Binsen gab. Doch war es unmöglich, Gráinne in den Binsen zu finden. – Der Erzähler berichtete nun von einem Gifteber, den die Schar auf ihrem Streifzuge aufgestöbert hatte. Sie ließen ihre ganze Hundemeute in voller Hetze auf ihn losstürmen. Jedoch war's keinem Jagdhunde und keinem Manne möglich, den Eber zu fassen. Diarmuid und Gráinne hatten sich zu ihrem Standort begeben. Als Diarmuid alle Fenier bei der Verfolgung des Ebers erblickte und mit ansah, wie sie sich vergeblich abmühten, den Eber einzuholen, konnte er sich nicht länger beherrschen. Er griff nach seinem Schwert und stürzte aus der Felsenkluft. Flink und gewandt, wie er war, überholte er den nächsten Verfolger des Ebers. Die Fenier erhoben ein Geschrei, als sie Diarmuid erblickten, und einige sprachen: »Das heißt zur rechten Zeit kommen, Diarmuid! Denn gerade jetzt wirst du gebraucht!« Diarmuid folgte dem Eber ganz dicht auf der Spur, und ihm nach eilten die andern Jäger. Sie kamen an einen Ort, der Ceann Tuirc genannt wird. Dort drehte sich der Eber um gegen Diarmuid, und zwischen ihnen begann ein wilder Kampf. Aber Diarmuid hatte Glück und schlug dem Eber den Kopf ab. – Als alle Fenier zusammentrafen, war Conán der erste, der das Wort ergriff. Er sagte: »Fionn, warum fragst du denn nicht Diarmuid, wo er Gráinne ließ?« Fionn antwortete: »Man pflegt gewöhnlich einen Mann, der eine Heldentat vollbrachte, zuerst zu loben. Diarmuid leistete ein wackeres Heldenstück, indem er den Eber erlegte, was der ganzen Fenierschar nicht gelungen war.« »Das ist kein großes Heldenstück,« meinte Conán,[71] »wir hätten ihn auch getötet und haben oft noch größere Taten vollbracht als so etwas. Aber,« fuhr er fort, »ich kann noch ein Kunststück, und das kann Diarmuid nicht!« Darauf begann Conán den Eber zu messen. Er maß ihn mit dem Daumen ab bis zum Schwanzende. »Das kann Diarmuid nicht!« sagte er. Daraufhin trat Diarmuid heran und vollführte dasselbe Kunststück. »Nun,« sagte Conán, »jetzt miß es wieder von der Schwanzspitze bis zum Kopf!« Conán wußte nämlich, daß der Eber Giftstacheln besaß und daß es gefährlich war, gegen den Strich des Felles zu messen. Diarmuid begann mit dem Daumen von der Schwanzspitze an zu messen, hatte aber noch nicht den Schwanz fertig, als ihm ein Giftstachel in das Daumenglied drang. Er fiel zu Boden und wand sich in Todesqualen. Conán frohlockte über das tückische Kunststück, das er gegen ihn ausgespielt hatte. Fionn überkam ein Schrecken, als er sah, wie sich Diarmuid in Todesqualen wand. Er rief aus, hätte er die Macht, ihn zu heilen, so wollte er es tun. Im selben Augenblick erschien die einfältige Frau. Sie trug ihr absonderliches Mäntelchen, das am Boden schleifte, und in der Hand hielt sie ein Trinkhorn. Sie setzte das Horn nieder und legte ihren Mantelsaum über Diarmuid. Dann begann sie zu Fionn gekehrt und sprach: »König grausamer Schlachten! Du kannst Rettung für Diarmuid erlangen, wenn du es wünschest.« »Heil dir!« erwiderte Fionn. »Sage mir, auf welche Weise ist er zu retten, und überlaß mir alles übrige.« »Er würde geheilt,« sprach sie, »wenn er drei Schluck von dem Wasser bekäme, das im Süßmilchbach fließt, im Norden von Macroon. Und du mußt ihm die drei Tropfen mit eigener Hand reichen!« »Das will ich tun,« sagte Fionn, »doch wie kann ich das Wasser bekommen, da ich nicht in der Nähe des Baches bin?« »Wenn es einen tüchtigen, schnellen Mann gibt unter den Feniern,« sagte die einfältige Frau, »so wird er in diesem Trinkhorn das Wasser von jenem Bache herbeibringen. Doch muß er geschwind sein, sonst ist Diarmuid tot, noch ehe er zurückkehrt.« »Einen solchen Mann habe ich,« sprach Fionn, »er ist so flink und schnell, daß, wenn ein Haus mit Schwalben gefüllt wäre und soviel Fenster am Hause wie Tage im Jahre, er keine Schwalbe entfliehen ließe vom Morgen bis zum Abend.« »Der schafft die Sache nicht!« meinte die einfältige Frau. »Er ist nicht flink genug!« »Ich habe einen andern,« begann Fionn; »wenn da ein Sack voll Vogelfedern auf die Spitze des höchsten Berges von Irland geschüttet würde, am windigsten aller Tage, den es je gab, es wehte kein Federchen davon, das nicht bis zur[72] Nacht in den Sack getan wäre – so flink ist er!« »Er schafft die Sache nicht!« sagte das einfältige Weib. »Hast du einen noch flinkeren Mann als den?« »Ja,« antwortete Fionn, »ich habe einen, der ist beweglicher als der Sinn der Frau.« »Der wird's schaffen!« sprach die einfältige Frau. »Wo ist er?« »Hier!« sagte Caoilte. »Willst du das Wasser holen?« fragte sie. »Ich ging schon und kam wieder!« sagte er. Damit reichte er ihr das Trinkhorn mit Wasser. »Nun, Fionn!« sprach sie, »halte deine Hände auf!« Fionn hielt die Hände auf und sie goß aus dem Trinkhorn Wasser darein. Er wandte sich damit zu Diarmuid, um ihm das Wasser zu geben. Indem fing Conán an zu reden und sagte: »Süß ist's für Diarmuid, Gráinnes Lippen zu küssen!« Da begannen Fionn die Hände und Füße zu zittern, und das Wasser rann ihm durch die Finger. »Das ist schlecht gehandelt!« sagte die einfältige Frau. »Du versprachst Diarmuid zu retten, wenn es für ihn Rettung gäbe. Doch wirst du dein Versprechen nicht halten, wenn du auf die Stimme von dem Kahlen hörst!« Fionn beteuerte, der Kahle sollte ihn nicht hindern, Diarmuid zu retten. Darauf goß sie abermals Wasser in seine Hände. Als er sich damit Diarmuids Lippen näherte, begann Conán von neuem und sprach: »Fionn, es steht übel um dich, wenn du Diarmuid rettest; denn Gráinne hatte eine Liebschaft mit ihm, noch ehe sie beide davonliefen.« »Das ist nicht wahr!« sagte Fionn. »Doch!« versetzte Conán. »Ich kann dir das beweisen. Entsinnst du dich der Schlacht bei Cnoc an Air?« »Sehr gut,« sagte Fionn. »Entsinnst du dich, als Gráinne und das Weib des Meargag die Männer ausmusterten? Warum denn wählte Gráinne nicht den Diarmuid in ihre eigene Dreißigschar? Sicherlich war er doch tüchtig genug als Held, um in den Kampf geschickt zu werden! Aber Gráinne wollte ihn nicht dabei haben, aus Angst, er könnte fallen. Denn sie war sehr verliebt in ihn!« Dabei rann das Wasser abermals Fionn zwischen den Händen fort, und in dem Augenblick war Diarmuid erschöpft. Jetzt wurde Oscar sehr zornig und rief: »Fionn! Höre du nicht auf die Stimme Conáns! Beachte nicht, was er sagte! Es ist sicher – als Gráinne die Mannen musterte mit der Frau des Meargag, da hätte sie ebensowenig mich, noch Goll, noch Oisín noch einen großen Teil anderer guter Krieger der Fenier ausgewählt, sowenig wie sie Diarmuid wählte. Und es ist also nicht richtig, zu behaupten, daß sie ihn damals liebte. Und nun,« fuhr er fort, »rette Diarmuid so schnell wie du kannst. Denn sein Tod ist ein Verlust für die Fenier. Brachte er uns doch oft große Hilfe – viel öfter als jemals[73] Conán!« Nun hielt Fionn seine Hände auf, und die einfältige Frau goß ihm zum drittenmal aus dem Trinkhorn Wasser darein. Er wandte sich hin zu Diarmuid und wollte es ihm reichen. Da stieß der Kahle ein kreischendes Gelächter aus und rief: »Ach, Fionn! Großartig ist die Rettung aus den Händen des Hahnrei!« Da dachte Fionn daran, daß Gráinne mit Diarmuid davongelaufen war. Füße und Hände begannen ihm wiederum zu zittern, so daß ihm das Wasser durch die Finger rann. Jetzt stürzte sich Oscar auf Conán, und dieser mußte flüchten. Oscar kehrte zurück und wollte Fionn veranlassen, Diarmuid das Wasser zu reichen. Doch als er kam, war Diarmuid tot. Nun hob die einfältige Frau den Mantel von ihm, mit dem sie ihn zugedeckt hatte, und der Erzähler berichtet, daß sie um Diarmuid die Totenklage anhub. Sie klagte nicht Fionn an, sondern sagte, es wäre Conáns Tücke, die den Tod des Diarmuid veranlaßt hätte. Sie befahl den Feniern, den Leichnam mitzunehmen und auf Heldenart zu bestatten. Dann ergriff sie das Trinkhorn und wollte die Fenierschar verlassen. Indem fragte Fionn sie, ob sie wüßte, wo sich Gráinne aufhielt. Sie sagte, sie wüßte es und könne sie ihm wieder zuführen, doch dürfe er sie wegen ihres Zusammenseins mit Diarmuid nicht schmähen. Fionn versprach, sie nicht zu tadeln. Dann ging die einfältige Frau fort und suchte den Ort auf, an dem Gráinne weilte. Sie erzählte ihr, daß Diarmuid tot sei und wie er ums Leben kam. Gráinne war ganz überwältigt von Kummer und Leid und wollte nicht länger leben, als sie hörte, daß Diarmuid tot sei. Aber die einfältige Frau redete so lange auf sie ein, bis ihr alles gleichgültig wurde. So dämpfte sie Gráinnes Verzweiflung und forderte sie dann auf, mit ihr zu Fionn zu gehen; denn er habe ihr alles verziehen. Ein paar Tage später langten beide in Fionns Palast an. Da war Diarmuid schon begraben und der Kummer der meisten Fenier vergessen. – Fionn hieß Gráinne willkommen. Sein Versprechen soll er gehalten haben. Sie bekam keinen Tadel von ihm. Aber eine große Menge Frauen der Fenier schmähte Gráinne und behauptete, sie habe eine furchtbare Freveltat begangen, indem sie mit einem andern Manne davonlief. Jedoch die einfältige Frau meinte, sie wären alle schlechter als Gráinne. Wenn ihre Männer Kenntnis von ihren Missetaten hätten, würden sie nicht erfreut sein. Da antwortete Conán und sprach: »Woher sollten wir etwas erfahren?« »Auf diese Weise,« antwortete das einfältige Weib. Sie zog ihren Mantel ab und sprach: »Jede Frau von euch soll sich diesen Mantel hier umhängen. Wenn sie ein tugendsames[74] Leben führt, wird sie der Mantel bis zum Erdboden bedecken. Aber wenn sie ein lasterhaftes Leben führt, kann der Mantel sie nicht verhüllen.« Da sprach Fionn zu Gráinne: »Nimm den Mantel um!« Gráinne legte ihn um. Aber die kleine Zehe ihrer Füße war zu sehen. Fionn fragte Gráinne: »Warum bedeckt der Mantel nicht deine kleine Zehe?« Gráinne sagte: »Diarmuid gab mir einen Kuß.« Danach taten die meisten Weiber der Fenier den Mantel um. Aber er konnte sie nicht verhüllen, weil ihr Lebenswandel gar so übel war. Conán forderte nun seine eigene Frau auf, den Mantel umzulegen. Sie tat es zögernd; denn sie hatte kein gutes Gewissen. Der Mantel rutschte ihr bis an den Hals hoch, und als Conán dies sah, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Er zog sein Schwert und hieb seiner eigenen Frau den Kopf ab. Da rief das einfältige Weib: »Jetzt habe ich mich an dem Kahlen gerächt!« Beinah hätte Conán auch ihr noch das Haupt abgeschlagen, hätte ihm nicht Oscar die Hand festgehalten. Conán sagte zu den Frauen der Fenier, sie sollten doch den Mantel behalten. Er wünschte nämlich, daß noch ein großer Teil anderer Weiber durch den Mantel das Leben verlor. Jedoch die einfältige Frau wandte sich zu Fionn und sprach: »O milder Fionn wilder Schlachten. Laß mir den Mantel von der Frauen! Von mir weiß keiner ein Geheimnis, doch ich weiß Geheimnisse von ihnen.« Da überließ Fionn der einfältigen Frau den Mantel. Sie legte ihn um, nahm Abschied und wünschte der ganzen Fenierschar Heil und Segen. Der Erzähler wußte nicht darüber zu berichten, was für ein Leben Fionn und Gráinne zusammen weiter führten.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Märchen, Schwänke und Fabeln. München 1925, S. 65-75.
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