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[153] Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten zwölf Söhne, der König wünschte sich aber immer eine Tochter zu bekommen. Als nun wieder Hoffnung auf ein Kind war, sagte er zu der Königin: »Wenn du jetzt eine Tochter bekommst, werde ich um ihretwillen alle zwölf Söhne töten.« Die Königin weinte darüber immer und bat ihn, er möge das doch nicht tun, aber vergebens. Die Söhne sahen, wie die Mutter den ganzen Tag immerfort weinte und baten sie, ihnen zu sagen, weshalb sie immer weine. Der jüngste kniete vor ihr hin und bat sie so dringend, daß sie sich seiner nicht erwehren konnte und ihm erzählte, warum sie so bekümmert war. Er meinte, das könne nicht wahr sein, sie aber sagte: »Komm mit mir, dann wirst du sehen, daß es wahr ist.« Sie führte ihn in ein Zimmer und zeigte ihm zwölf Särge: »Das hat der Vater für euch machen lassen, wenn eine Schwester geboren wird.« Da sah der Sohn, daß die Mutter die Wahrheit gesagt hatte, und sprach zu ihr: »Mutter, richte für uns alle Brote her, wir gehen in die Welt, wenn der Vater beschlossen hat, so mit uns zu verfahren.«
Sie bereitete allen Söhnen je ein Brot, und sie sagten ihr, sie würden nicht weit weggehen, sondern abwarten, ob ein Knabe oder ein Mädchen geboren werde. Wäre es ein Knabe, so solle sie eine rote Fahne auf dem Schloß aufziehen lassen, wenn ein Mädchen, eine weiße. Damit gingen sie in den Wald. Jeden Tag stieg einer von ihnen auf eine hohe Eiche um auszuschauen, welche Fahne auf dem Schlosse aushängt. Als der jüngste an die Reihe kam, sah er, daß eine weiße Fahne aushängt, stieg von der Eiche herab und rief seinen Brüdern zu: »Laßt uns weiter laufen, die Mutter hat ein Mädchen geboren.« So liefen sie fort und kamen zu einem Hause in einem großen Walde; darin trafen sie eine alte Frau, grüßten sie höflich und baten um Nachtquartier. Sie [154] antwortete ihnen gleich, sie könnten das ganze Haus haben, sie ginge in die Stadt und wolle dort wohnen. Darauf führte sie sie in den Garten und sagte ihnen, sie dürften alles, was sie brauchten, aus dem Garten nehmen, nur die zwölf Lilien, die dort blühten, dürften sie nicht abpflücken.
So wirtschafteten sie sieben Jahre lang in dem Häuschen. In diesem siebenten Jahre trocknete einmal ihre Mutter, die Königin, im Hofe ihre Wäsche; mit ihr war ihre Tochter, betrachtete die Wäsche und fragte dann die Mutter: »Hast du mehr Kinder gehabt, Mutter, da du so viele Hemden auf die Leine hängst?« Die Mutter fing gleich an zu weinen und verhehlte ihr nicht, was sie für ein Unglück mit ihren Kindern gehabt hatte. Als dann die Mutter sich ein wenig von ihr abgewandt hatte, fing das Töchterchen gleich an wegzulaufen und lief in den Wald, ihre Brüder zu suchen. Dort kam sie zu dem Häuschen, wo die Brüder waren; darin war niemand. Zuerst kam dann der jüngste Bruder herein, und als er das Mägdlein bemerkte, sagte er zu ihr: »Warum bist du hierher gekommen? Lauf fort; wenn meine Brüder kommen, werden sie dich töten. Wir haben geschworen, jedes Mädchen und jede Frau zu töten, die hierher kommt.« Sie wußte nun schon, daß das ihre Brüder sind und sagte dem jüngsten: »Würdet ihr mich denn wirklich töten? Ich bin eure Schwester. Ich bitte dich, verstecke mich irgendwo und bitte und frage die Brüder, ob sie ihrer Schwester verzeihen möchten, daß sie ihretwegen so unglücklich sind.« Er war es zufrieden, die Schwester tat ihm leid, und er versteckte sie unter seinem Bett.
Darauf kamen die Brüder und fragten gleich: »Ist hier nicht irgendein Fremder?« Der jüngste Bruder warf sich vor ihnen auf die Knie und bat sie, ihm zu verzeihen, er hätte nicht anders können, hätte ihre Schwester ins Haus aufgenommen, die gekommen sei, sie zu suchen. Sie gaben sich zufrieden und sagten zu ihm, daß sie die Schwester nicht töten wollten, wenn sie es wäre; wie hätte nämlich die Schwester hierher kommen können, da sie erst sieben Jahre alt sei. Da brachte [155] er sie sogleich her und zeigte sie den Brüdern; die freuten sich, daß sie nun ihre Schwester bei sich hatten und alle zusammen waren.
Als die Schwester etwas herangewachsen war, übergaben ihr die Brüder die ganze Wirtschaft, und sie kochte und wusch für sie. Eines Tages hatte sie ein gutes Mittagessen gekocht, dann ging sie in den Garten, schnitt alle zwölf Lilien ab und legte jedem eine auf den Teller. Sie dachte ihnen damit eine Freude zu machen. Als nun die Brüder in die Tür traten und die Lilien auf den Tellern sahen, wurden sie zu zwölf Raben und flogen fort, und das Mädchen blieb allein in dem Hause zurück und weinte. Nach einigen Tagen kam die alte Frau, der das Haus früher gehört hatte, und sagte zu ihr: »Was hast du angerichtet, Töchterchen?« Das Mädchen aber weinte sehr und bat sie um Rat, wie sie ihre Brüder erlösen könnte. Darauf sagte ihr die Alte: »Wenn du deine Brüder erlösen willst, mußt du in den Wald gehen und darfst sieben Jahre lang mit niemand ein Wort reden.«
Da ging sie sogleich in den Wald und nährte sich dort von allerlei Kräutern. Schon war sie ganz abgerissen, verzog sich in eine hohle Eiche und kam nur zuweilen heraus. Zu der Zeit ging einmal der junge König auf die Jagd – es war das in einem andern Königreiche – und sein Hund fuhr auf die Eiche los. Der König schickte seinen Diener nachzusehen, was in der Eiche sei. Der ging und brachte dem König die Nachricht, es sei da drinnen eine Frau oder ein Mädchen, aber sie wolle nicht sprechen. Der König ging nun selbst zu der Eiche und befahl ihr herauszukommen, sie wollte aber durchaus nicht; da zog er sie selbst heraus und sah, daß es ein schönes Mädchen war. Er nahm sie nun mit sich nach Hause und ließ sie gleich schön ankleiden. Da sah er wieder, daß sie wirklich sehr schön war und wert, Königin zu sein, und bat sie, seine Frau zu werden. Sie gab ihm durch Zeichen zu verstehen, daß sie ihn zum Manne nehmen wolle, und sie heirateten.
Der König hatte bei sich seine Mutter, die alte Königin; die [156] mochte die junge Frau durchaus nicht leiden und dachte immer nach, wie sie ihr schaden könnte. Einmal widerfuhr dem König, daß er in den Krieg ziehen mußte. In der Zeit bekam die junge Frau einen Sohn, aber es flogen Raben herbei und nahmen ihr das Kind weg. Als der König nach Hause kam, erzählte ihm die Alte, seine Mutter, gleich, daß seine Frau Kinder fräße und ihr Kind aufgefressen hätte. Der König hatte sie sehr gern und verzieh es ihr diesmal. Sie kam wieder in Hoffnung, der König mußte wieder irgendwohin ziehen, und sie gebar im zweiten Jahre wieder einen Sohn, aber auch jetzt kamen Raben und nahmen ihr das Kind weg. Als der König heimkehrte, belog ihn die alte Mutter wieder ebenso, er verzieh aber seiner Frau auch diesmal, sagte nur, wenn zum drittenmal etwas Schlimmes passierte, dann würde er sie verbrennen lassen. Im dritten Jahr sollte sie wieder ein Kind haben, es war schon das siebente Jahr, daß sie nicht gesprochen hatte. In dem dritten Jahr bekam sie eine Tochter, aber wieder kamen die Raben und nahmen ihr auch das Kind weg; und die Alte beschuldigte sie wieder bei ihrem Sohn.
Da ließ der König einen großen Scheiterhaufen errichten, um seine Frau zu verbrennen. Eine Menge Menschen kam von allen Seiten herbei, um zuzusehen, wie der König die Königin verbrennen ließ. Schon brachte man sie zu dem Scheiterhaufen und wollte sie gerade hineinstoßen, als sie aufschrie: »Jesus, Maria!« In dem Augenblick flogen zwölf Raben herbei, die drei ersten trugen jeder ein Kind unter den Flügeln. Als sie bis an den Scheiterhaufen herangeflogen waren, fielen gleich die Federn von ihnen ab, und sie wurden wieder die schönen jungen Männer, die sie gewesen waren. Der älteste aber sprach zu ihr: »Liebe Schwester, du hast viel für uns gelitten, hast sieben Jahre geschwiegen, nur um uns zu erlösen. Da hast du dein ältestes Söhnchen.« Der zweite Bruder sagte dasselbe und gab ihr den zweiten Sohn; ebenso der dritte und gab ihr die Tochter. Als das der König sah, brach er in Tränen aus, und alle Leute mit ihm. Da erzählte [157] sie König und Volk alle ihre Leiden. Der König veranstaltete große Gastereien und ein großes Fest. Darauf gingen die Söhne zu ihren Eltern und erzählten ihnen, was sie alles erlitten hatten, und was ihre Schwester für sie erduldet hatte und wie die Schwester Königin in einem andern Königreich geworden war. Vater und Mutter, der König und die Königin, freuten sich sehr, daß sie ihre Kinder wieder hatten, und der König dachte gar nicht mehr daran, daß er hatte seine Kinder töten wollen.
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