43. Vilen weiden einen Hirseacker ab

[193] Es war einmal ein Vater, der hatte drei Söhne. Auf seinem Acker hatte er Hirse gesät, und als sie schon aufgegangen war, ging er einmal hinaus sie zu besehen. Als er nach Hause kam, sagte er zu seinen Kindern: »Kinder, irgendwer muß uns die ganze Hirse abgeweidet haben.« Darauf sagte der älteste Sohn: »Mutter, gebt mir zeitig Abendessen, daß ich gehen kann, die Hirse zu bewachen.« Er ging hinaus, hüllte[193] sich in seine Decke und schlief ein. Da kamen Pferde und fraßen noch mehr auf als vorher. Der Alte kam am nächsten Morgen, die Hirse zu besehen und fand noch mehr abgefressen als am ersten Tage. Dann ging er heim und sagte: »Mein Sohn, wie hast du denn die Hirse bewacht? Es ist ja noch mehr abgefressen als bisher.« Der antwortete: »Lieber Vater, es ist mir passiert, daß ich eingeschlafen bin, und da habe ich nicht gehört, daß die Pferde gekommen sind und die Hirse gefressen haben.« Am nächsten Tage sagte der zweite Sohn: »Mutter, gebt mir zeitig Abendessen, ich gehe, die Hirse zu bewachen.« Ihm widerfuhr dasselbe wie dem ersten Bruder, er schlief ein, und die Pferde fraßen die Hirse ab. Am nächsten Morgen ging der Alte, die Hirse zu besehen, kam nach Hause und sagte: »O, o, da habe ich gute Wächter bei der Hirse angestellt, die haben noch mehr abfressen lassen als damals, wo niemand sie bewacht hat.« Am dritten Tage sagte der jüngste Sohn: »Mutter, gebt mir eine Brotkruste, ich gehe, die Hirse zu bewachen.« So ging er aufs Feld und legte sich auf einen großen Ameisenhaufen, so daß er nicht einschlafen konnte. In der Nacht um zwölf kamen drei Pferde auf den Acker, er ging auf sie zu und faßte sie alle drei. Da trat eine Vila zu ihm und sagte: »Was willst du mit den Pferden?« Er antwortete: »Ich muß sie nach Hause treiben, damit mein Vater die Pferde sieht, die unsre Hirse gefressen haben.« Darauf sagte die Vila: »Komm mit mir zu der hohlen Eiche da, nimm alle drei Zäume von den Pferden ab und lege sie in die hohle Eiche. Wenn du in irgendeiner Not bist, geh zu der Eiche und schüttle den kupfernen Zaum; wenn du nochmal in Not kommst, schüttle den silbernen, und wenn zum drittenmal, den goldnen.« Darauf ging der jüngste nach Hause, der Alte ging am nächsten Morgen die Hirse zu besehen, und als er wieder nach Hause kam, sagte er zu den beiden älteren Söhnen: »Ihr habt euren Bruder immer zum Narren gehalten, er hat aber die Hirse behütet, so daß diese Nacht nichts abgefressen ist.« Es kam nun eine Zeit, wo der Kaiser in seinem ganzen Reiche ausrufen ließ: [194] »An dem und dem Tage lasse ich einen goldenen Apfel auf den First meines Daches legen; wer sich zutraut durch die Luft zu kommen und ihn herabzuholen, soll meine Tochter bekommen.« Wo die Leute zusammenkamen, sprachen sie davon, daß am nächsten Tage am Kaiserhofe ein schönes Schauspiel sein wird. Von den drei Brüdern gingen die beiden älteren zum Zuschauen, der jüngste aber saß immer in der Küche in der Asche. Als er nun davon hörte, raffte er sich aus der Asche auf, ging zu dem hohlen Baum, nahm den kupfernen Zaum und schüttelte ihn. Sogleich trieb die Vila ein Pferd heran, dessen Geschirr war ganz mit Kupfer beschlagen; sie half ihm aufs Pferd, ließ es in die Luft steigen, und er ritt oberhalb des Schlosses. Des Kaisers Tochter sah gerade aus dem Fenster, er machte ihr eine Verbeugung und ging dann zu der Eiche zurück, richtete dort alles wieder her, wie es gewesen war, und hatte sich zu Hause schon wieder in die Asche gelegt, ehe seine hochmütigen Brüder zurückkamen. Als sie kamen, sagten sie zu ihm: »Wenn du Aschenputtel das Schauspiel gesehen hättest, das heute am Kaiserhof war! Es kam da ein schöner junger Mann auf einem kupfernen Pferd, selbst ganz in Kupfer, und ließ sich da sehen.« Darauf antwortete er: »O, ich habe das Schauspiel gesehen.« Die Brüder fragten ihn: »Von wo hast dus gesehen, wo bist du gewesen?« Er antwortete: »Ich bin auf unsere hohe Eiche gestiegen, von da habe ich es gesehen.« Da sagten die Brüder zu sich: »Gehn wir die Eiche abhauen, dann wird er morgen nichts sehen, morgen gibt es ein noch schöneres Schauspiel.« Und sie hieben die Eiche ab. Am nächsten Tage gingen die Brüder in der Frühe fort, das Schauspiel zu sehen, der jüngste aber ging zu der hohlen Eiche und schüttelte den silbernen Zaum; sogleich kam die Vila mit einem Pferde, ganz von Silber, auch der Bursche bekam einen silbernen Anzug, und sie ließ ihn in die Luft steigen oberhalb des kaiserlichen Schlosses. Dort machte er der Kaisertochter seine Verbeugung, kehrte wieder zu der Eiche zurück, richtete dort alles her und setzte sich schnell zu Hause [195] in die Asche, ehe die Brüder heimkamen. Als die ankamen, sagten sie: »Was für ein schönes Schauspiel war heute, noch schöner als gestern, und du hast nichts gesehen.« Er antwortete: »Ich habe es gesehen.« Darauf fragten ihn die beiden: »Wo hast du es gesehen? Von wo aus?« Er antwortete: »Ich bin auf die Scheune gestiegen, von der habe ich es gesehen.« Da gingen die hoffärtigen Brüder hin und brannten die Scheune nieder. Am dritten Tage gingen sie sehr früh fort, um das Schauspiel zu sehen. Als sie fort waren, ging der jüngste zu der Eiche und schüttelte den goldnen Zaum. Da eilte die Vila herbei, brachte ein goldnes Gewand und ließ ihn in die Luft steigen oberhalb des kaiserlichen Schlosses. Dort nahm er den goldnen Apfel, verneigte sich vor der Kaiserstochter, kehrte zu der Eiche zurück, barg dort Gewand und Zaum, den Apfel aber nahm er mit nach Hause und legte ihn unter sich. Am vierten Tage ließ der Kaiser ausrufen, alle Leute sollten zum Kaiserhofe kommen, und wer den Apfel habe, solle ihn mitbringen. Alle kamen, aber den Apfel brachte keiner. Da fragte der Kaiser, ob noch irgendein Mensch zu Hause wäre. Darauf sagte der Vater der drei Söhne: »Wir wissen von keinem, nur habe ich einen Sohn, der immer in der Asche sitzt; ich weiß, daß er den Apfel nicht hat.« Der Kaiser schickte nun zwei Diener, um bei dem Aschenputtel nachzusuchen. Er stand auf, und sie fanden unter ihm den Apfel und fragten ihn, wo er ihn her habe. Darauf sagte er: »Was geht es euch an, wo ich ihn her habe; kommt aber mit mir, ich will euch zeigen, wie ich ihn bekommen habe«, führte sie zu der Eiche und schüttelte alle drei Zäume zugleich; im selben Augenblick kamen drei Vilen auf ihren Pferden herangesprengt, die eine auf dem kupfernen, die andere auf dem silbernen, die dritte auf dem goldnen, und brachten ihm ein goldnes Gewand. Das zog er an, und sie setzten ihn auf das Pferd, das ein ganz goldnes Geschirr hatte. Zur Rechten ging das silberne, zur Linken das kupferne, und in der Mitte, auf dem goldnen, ritt er. So ritt er mit den drei Pferden bis über das [196] kaiserliche Schloß; die Kaiserstochter sah zum Fenster hinaus, und er gefiel ihr sehr. Darauf ließ er sich zur Erde nieder, der Kaiser, die Kaiserin und die Tochter kamen sich zu erkundigen und fragten ihn: »Wie bist du dazu gekommen, daß du den Apfel nehmen konntest?« Er antwortete: »Das zu erzählen, bleibt Zeit genug.« Darauf hoben ihn die Vilen wieder in die Luft, und er ging heim. Am nächsten Tage aber schickte der Kaiser, er möge kommen; zugleich hatte er alle Leute zum Essen eingeladen, und dort erzählte der Bursche, wie sich alles zugetragen hatte. Und der dies erzählt hat, war auch dabei, aß und trank und war vergnügt.

Quelle:
Leskien, August: Balkanmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1915, S. 193-197.
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