[432] 912. Eine geheimnisvolle Reise.

Eine Frau aus Palzem an der Mosel erzählte dem Referenten folgende Geschichte, die sich zu Dillmar nächst Remich wirklich zugetragen haben soll.

Es ist noch nicht so gar lang – zu Hause erzählen es alle Leute – da lebte in Dillmar eine sonst ganz brave Frau, welche aber einmal um rechtlicher Gründe willen einen heftigen Wortwechsel mit ihrer Nachbarin führte. Diese war eine sehr böse Frau und man wußte sich im Dorf allerlei geheimnisvolle Geschichtchen von ihr zu erzählen. So war es denn auch aufgefallen, daß sie in der Hitze des Streites gesagt hatte: »Wart, das sollst du mir bezahlen!«

Das war gut, und eines Tages ging die Frau mit ihren beiden Töchtern in den Wald, um Kraut für das Vieh zu suchen. Als die Mädchen genug hatten, um ihre Hotten voll zu machen, trugen sie das Kraut zusammen und riefen nach der Mutter, welche sich einige Schritte von ihnen entfernt hatte. Doch als diese nicht antwortete, wurden sie ungehalten und riefen bald hier, bald dort im ganzen Walde. Die Mutter aber war nicht zu finden. »O«, trösteten sie sich zuletzt, »sie wird nach Hause fort sein«, und verließen mit ihrem Kraut den Wald. Man beschreibe ihren Schrecken, als sie heimkamen und die Mutter nicht fanden. Gleich war großer Lärm im Dorf und alles zog mit hinaus, um die Frau zu suchen, aber vergebens durchstreifte man den Wald drei Stunden lang; von der Frau fand man nicht die geringste Spur.

Gegen drei bis vier Uhr nachmittags endlich erhielten sie von Wegen bei Saarburg die Weisung, die Frau abzuholen. Alle erschraken und das[432] ganze Dorf fragte sich, wie es möglich gewesen, daß die Frau nach Saarburg gekommen war, und dies in so kurzer Zeit. Viele Leute aus den Nachbarsdörfern hatten die Frau über das Feld ziehen sehen. Sie eilte gebückt daher und bei jedem Schritt, den sie tat, fuhr sie mit der Hand über den Boden, wie wenn sie Kraut ausreißen wolle. Ihr Gesicht war jämmerlich zerfleischt und die Kleider hingen ihr in Fetzen vom Leibe. Durch Hecken, Dornen und Gesträusch war sie gewandelt, ohne sich Rechenschaft von ihren Bewegungen geben zu können, nicht einmal die schrecklichen Schmerzen hatte sie gefühlt; auf einmal war sie zu Saarburg. Drei Stunden lang war sie so übers Feld dahingezogen und das hatte ihr niemand anders angetan als ihre Nachbarin, die bald im ganzen Dorf verhaßt war. Die Kinder wiesen mit Fingern auf sie und wichen ihr von weitem aus und wirklich hat die Hexe sich bald wieder über den Berg ins Waldland gemacht, wo ihre Heimat war.


N. Gaspar

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 432-433.
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