[496] 1036. Das St. Nikolausbild zu Ehnen.

A. Dem Dorfe Ehnen gegenüber befindet sich am Ufer der Mosel ein Heiligenhäuschen oder vielmehr nur eine ziemlich große Nische mit dem Bilde des hl. Nikolaus, des Patrons der Schiffer. Auf einem ragenden Felsensockel erbaut, erhebt sich dasselbe hart an einer jetzt in ein sanftes Gefälle zerteilten, ehemals aber sehr reißenden und gefährlichen Strömung, die mit Tosen ihre Wellen an dem weithinreichenden, schroffen und zackigen Felsenufer brach. Das zerklüftete Gestein war mit Bäumen und Sträuchern aller Art bewachsen und von kreischenden Dohlen und Reihern beständig umschwärmt. Der ganze Ort trug samt dem mit dunklem Tannenforst bekleideten Berggehänge, an das er sich anlehnt, ein wildromantisches Gepräge.

Als beim Bau der Moselbahn vor etwa acht Jahren das Felsenufer durchbrochen und abgeholzt wurde, erhielt der Ort ein völlig verändertes Aussehen und büßte seine vormalige Naturschönheit vollständig ein. Der schrille Pfiff der Lokomotive hat nicht nur das krächzende Gefieder, sondern auch die buntbewimpelten Schiffe auf dem Strome und mit ihm das ganze rührige Leben, das darauf herrschte, für immer verscheucht. Das Heiligenhäuschen selbst blieb wohl dabei ziemlich unberührt, sieht aber nicht mehr, wie ehedem, von freier Warte herab, sondern lugt gleichsam nur aus der angeschütteten Böschung hervor.

Als dasselbe vor einiger Zeit baufällig geworden war, wurde es von Wasserarbeitern im Jahre 1865 restauriert und mit einer Inschrift versehen, die eine unrichtige Vorstellung von dessen Ursprung geben mußte. Wir erzählen hier seine Entstehung nach einer schriftlichen Überlieferung, die sich weiter daranknüpfenden Ereignisse aber nach Traditionen, wie sie sich unter dem Volke erhalten haben.

Es war im Herbst des Jahres 1764, als Johann Peter Kull (Kohl) und Mathias Kiefer, beide Einwohner aus Ehnen, mit einem schwer mit Trauben[496] beladenen Nachen die Mosel heraufgefahren kamen. Als der Nachen in dem gefährlichen Ehnener Wehr angekommen war, schlug er mitsamt den gefüllten Kufen plötzlich um, und Kiefer stürzte ins Wasser. Kull, der auf dem Ufer an der Leine zog, konnte seinem unglücklichen Gefährten nicht zu Hilfe kommen, ohne sein eigenes Leben einem sicheren Tode preiszugeben. Der des Schwimmens unerfahrene Kiefer rief vergebens um Hilfe und kämpfte mit aller Anstrengung in den reißenden Wellen um sein Dasein. Gleichwohl bewahrte er in dieser schrecklichen Lage noch Geistesgegenwart genug, um sich unter anderen dem hl. Nikolaus zu empfehlen und gelobte, falls er gerettet würde, am Ufer des gefährlichen Wassers das Bildnis zur Verehrung aufzurichten. Sein Vertrauen wurde durch eine glückliche Rettung belohnt, und er ermangelte nun auch nicht, alsbald sein Gelöbnis auszuführen und das Heiligenhäuschen zu erbauen, von dem wir gesprochen haben. Seit jener Zeit schirmt der hl. Nikolaus die dort vorüberziehenden Schiffer, die sich seinem Schutze empfehlen.

Aus Dankbarkeit unterließen es Kiefer und seine Nachkommen bis zum heutigen Tage nicht, immer eines ihrer Kinder auf den Namen des hl. Nikolaus taufen zu lassen und alljährlich am Vorabend seines Festes in der Heiligennische eine brennende Kerze zu opfern. Sobald diese übers Wasser schimmert, eilt jung und alt vor das Dorf, um sie zu sehen; die Kinder aber freuen sich dann besonders darob, daß der hl. Nikolaus nun mit schwerbeladenem Esel seine Nische verlasse und ihnen eine reiche Bescherung bringe.


B. Im Jahre 1764 kamen zwei Ehnener Winzer, Joh. Pet. Kohl und Wilh. Kieffer, mit Trauben in einem kleinen Kahne die Mosel heraufgefahren. Als sie am sogenannten Wehr, etwa zwanzig Meter unterhalb Ehnen, angelangt waren, drohte der Nachen plötzlich zu versinken. In dieser äußersten Gefahr flehten die beiden Winzer zum Patrone der Schiffer, dem hl. Nikolaus, und gelobten, falls sie mit dem Leben davonkämen, ein Bild des Heiligen am Ufer der Mosel aufzustellen und jedes Jahr, am sechsten Dezember, eine brennende Kerze vor das Bild zu stellen. Und sieh! kaum hatten sie dies Gelübde gemacht, als der Nachen, wie von unsichtbarer Hand geleitet, auf den Wellen sicher dahinglitt, sich wandte und stromabwärts trieb. Die Winzer waren gerettet.

Einige Monate später stand in einer Nische, die in einer am rechten Moselufer erbauten Mauer angebracht worden, eine schöne, aus Holz verfertigte Statue des hl. Nikolaus. Und jedes Jahr, am St. Nikolausfeste, wird von den Nachkommen der Geretteten eine brennende Kerze vor das Bild hingestellt, das sich jetzt in einer Art Kapelle im Felsen befindet.

Wenige Jahre nachher ereignete es sich, daß das Bild durch die Wogen der hochangeschwollenen Mosel mitfortgerissen wurde. Einige Fischer[497] sahen dasselbe unterhalb Wormeldingen aufrechtstehend auf dem Wasser ruhig dahingleiten. Sie erkannten das Bild und brachten es nach Ehnen zurück.

Als zu Anfang unseres Jahrhunderts die Franzosen auf ihrem Rückzug aus Deutschland teilweise auch durch unser Land kamen, schossen einige Soldaten nach dem Bilde; heute noch ist in des Heiligen Mantel das Loch einer Kugel zu sehen.

Die Kinder des Dorfes glauben, der hl. Nikolaus verfertige Backwerk für sie am jenseitigen Ufer, wenn sie an den paar dem Feste des Heiligen vorhergehen den Abenden die Kerze vor dem Bilde brennen sehen.

Die Schiffsleute ziehen, wenn sie am Bilde vorbeifahren, ehrfurchtsvoll ihre Schiffsmütze ab, unterbrechen ihr gewöhnliches Fluchen und scheinen zu beten.


C. Einst fuhr ein französischer Kaufmann mit drei schwerbeladenen Schiffen die Mosel herauf. Als die Steuerknechte, wie üblich, vor dem Heiligenbild ihre Hüte abzogen und still ihr Gebet verrichteten, spottete ihrer der Franzose und höhnte und lästerte in jeglicher Weise den hl. Nikolaus.

Die Schiffsknechte verwiesen ihm dieses ungezogene Benehmen und sagten ihm voraus, daß der Heilige ihn gewiß dafür bestrafen werde.

Wegen vorgerückter Tageszeit mußte man in Ehnen übernachten. Gegen Mitternacht trennte sich, man wußte nicht wie, das letzte Schiff von den übrigen und trieb langsam stromabwärts. Die Tochter des Kaufmanns, welche allein in der Kajüte des größten Schiffes zurückgeblieben war, gewahrte es und lief eiligst zur Herberge, um ihren Vater zu wecken und nach Hilfe zu rufen. Ehe diese jedoch ankam, scheiterte das Schiff am Felsen des hl. Nikolaus und versank mit der ganzen, teueren Ladung in die Tiefe. Der Kaufmann lief wie wahnsinnig am Ufer umher und raufte sich die Haare ob des großen Verlustes, den er erlitten. Als man ihn an sein unehrerbietiges Betragen gegen den Heiligen erinnerte, schwur er öfters hoch und teuer, daß er in seinem ganzen Leben den hl. Nikolaus nie mehr lästern werde.


D. Ein Schiffer hatte, um das Ehnener Wehr hinaufzugelangen, große Mühe und geriet immer mehr in Gefahr zu verunglücken. Um sich den Beistand des hl. Nikolaus zu erflehen, gelobte er, wenn der ihm helfe, in der Kirche zu Ehnen eine Kerze zu opfern, so hoch und so dick wie der Mastbaum seines Schiffes. Sogleich verminderte sich zusehends die Gefahr. In demselben Maße aber, wie die Gefahr abnahm, verkleinerte sich auch die versprochene Kerze, und als das Schiff endlich ganz gerettet war, lachte der Schiffer und rief: »Nein, Nikläschen, jetzt kriegst du gar nichts!« Als aber der Schiffer einige Zeit später an derselben Stelle wieder in große[498] Bedrängnis geriet, versank sein Schiff in die Tiefe, noch ehe er den Heiligen anrufen konnte.


E. Ein anderer Schiffer, der den Strom hinabfuhr und das Nikolausbild bei Ehnen verhöhnte, verunglückte bei Trier, wo seine Schiffe an den Pfeilern der Moselbrücke zerschellten.


F. Als einst die Mosel sehr hoch angeschwollen war, wurde das Bild des hl. Nikolaus von den Fluten emporgehoben und trieb aus seiner Nische den Strom abwärts. Ein Schiffer jedoch, der dem Heiligen stets eine große Verehrung bewies, entdeckte es im Wasser, eine kleine Strecke oberhalb Trier, und brachte es wieder an seinen Ort zurück.


Lehrer Linden zu Rollingen

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 496-499.
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