[288] 662. Ein Versuch, die Jungfer vom Johannisberg zu erlösen.

In Schifflingen wurde vor fünfzig Jahren die Sage von der Jungfer vom Johannisberge auf folgende Weise erzählt:

Am Schwarzebur zu Budersberg (der wohl kein anderer sein kann als die heutige »Wiét«) erschien in grauer Vorzeit, noch vor der Entstehung des Dorfes, die verwünschte Jungfer vom Johannisberg. Mit losgelöstem und verworrenem Haar trat sie um Mitternacht neben dem Born aus dem Schoße des Berges hervor und nachdem sie sich in der Quelle gewaschen und ihre Haare aufgekämmt und aufgeflochten hatte, setzte sie sich am Rand derselben nieder und fing, die Hände ringend, mit herzzerreißender Stimme an zu rufen: »Erbarmt euch meiner! Erlöst mich, erlöst mich!« Nur der kann die Jungfer erlösen, dem es gelingt, ihr einen Schlüssel mit seinem[288] Munde aus ihrem Mund zu nehmen. Dies fertigzubringen, ist aber ein recht schweres Wagestück, weil sie dabei die Gestalt verwandelt und Feuer und Flammen speit.

Wie die Jungfer nun einmal am Schwarzebur saß und jammerte, da kam ein Jüngling vorbei, der Mitleid mit ihr hatte. Sie redete ihn an und sprach: »Willst du mich erlösen, so komm in der nächsten Mitternacht hierher zu diesem Born. Dann werde ich dir hier mit einem Schlüssel im Mund erscheinen und nimmst du mir den Schlüssel mit deinen Lippen ab, so bin ich erlöst und ich gehöre dir als Braut mit allen meinen Schätzen an.« Der Jüngling versprach es und nachdem er reumütig gebeichtet und den heiligen Leib des Herrn empfangen hatte, begab er sich in der folgenden Mitternacht an den Schwarzebur. Die ganze Pfarrei begleitete ihm mit Kreuz und Fahne. Die Jungfer trat, wie es verabredet worden war, mit einem goldenen Schlüssel im Munde, unter dem Berg hervor. Als ihr nun aber der Jüngling entgegentrat, um ihr den Schlüssel abzunehmen, zeigte sich das Gespenst, wie es wirklich war: die Jungfer verwandelte sich plötzlich in eine häßliche, feurige Schlange, die einen rotglühenden Schlüssel im Munde hielt und Feuer und Flammen ausspie. Bei diesem unerwarteten Anblick entsetzte sich der Jüngling und ergriff die Flucht.


Pfarrer J. Prott

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 288-289.
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