[285] 661. Ermesinde vom Johannisberg.

Über die längst zertrümmerten Burgen auf dem Johannisberg, dem Zolverknapp und zu Hesperingen geht bei den Bewohnern dieser Gegend folgende Volkssage: Die drei Söhne eines reichen, mächtigen Grafen, der seinerzeit Herr des ganzen Rösertales gewesen, hatten nach dessen Tode die väterlichen Besitzungen unter sich geteilt:[285] der älteste bezog die Burg auf dem Johannisberg, die beiden anderen erhielten Zolver und Hesperingen.1

Bei der Teilung schlossen die Brüder ein Schutz- und Trutzbündnis und trafen die Anordnung, daß bei jeder drohenden Gefahr oder bei außergewöhnlichen Ereignissen sofort der eine dem andern ein Notzeichen geben solle, um von beiden Seiten Hilfe an Leuten und Waffen zu erhalten; das Notzeichen war bei Tag eine rote Fahne, bei Nacht ein hochaufleuchtendes Feuer auf der Burgwarte.

Nur der älteste nahm eine Frau und zwar aus dem fürstlichen Hause Burgund. Der einzige Sprößling dieser Ehe war Ermesinde, die bald zu einer seltenen Schönheit heranblühte und von Eltern, Verwandten und Vasallen mit der größten Sorgfalt umgeben wurde. Ihr zuliebe entsagten des Grafen Brüder jedem Ehebündnisse, um einst ihre reichen Besitzungen der holden Nichte zum Brautgeschenk anbieten zu können. Je mehr sich Ermesindens Schönheit und Verstand entwickelten, desto mehr ward ihr von allen Seiten Lob und Bewunderung zuteil; dazu kam bei ihr das Bewußtsein hoher Abkunft, des großen Ansehens ihrer Familie und der zukünftigen ungeheuren Reichtümer, so daß schon früh in ihrem zarten Gemüte der Keim des Stolzes erwachte.

Kaum hatte Ermesinde das Alter ihrer vollen Blüte erreicht, als aus allen Gegenden Jünglinge aus dem Grafen- und Ritterstand in der Johannisburg einkehrten, der wunderschönen Gräfin ihre Huldigungen darzubringen; unter diesen befand sich auch der junge Graf von Luxemburg. Nach der Eltern Wille sollte sie sich aus den Edelleuten denjenigen zum Gemahl auswählen, für welchen sie die größte Zuneigung empfände, und besonders wünschten sie, daß ihre Wahl auf den jungen Grafen von Luxemburg falle, weil diesen schon damals die meisten Edeln des Landes als ihren Lehnsherrn anerkannten und die Verbindung mit diesem erlauchten Hause für ein hohes Glück angesehen wurde.

Ermesinde aber kannte kein höheres Glück als zu gefallen; sie nahm wohlgefällig die Schmeicheleien ihrer Anbeter entgegen und hielt diese gefesselt, indem sie jedem Hoffnung ließ. Ihre Eltern sahen hier anfangs bloß jugendlichen Leichtsinn, merkten aber bald zu ihrem Verdruß, daß dieser Leichtsinn in sträfliche Leidenschaft überging; und als sie der Tochter nun ernstliche Vorstellungen machten, um sie zu besserer Gesinnung zurückzubringen, war es zu spät. Sie könne wohl, war ihre stolze Antwort, eines Mannes Gebieterin, nie aber dessen untergebene Hausfrau werden. Da ward ihr ein abgesondertes Zimmer des Schlosses als Wohnung angewiesen und zwar so lange, bis sie sich entschließen könne, einem der Bewerber ihre[286] Hand zu reichen. Aber weder die Besuche und Ermahnungen der Mutter noch die Beredsamkeit des Hauskaplans konnten ihren stolzen Sinn beugen.

Schon seit drei Monaten hatte der Vater seine Tochter nicht mehr gesehen; am 24. Mai trat er in Begleitung seiner Gemahlin in ihre einsame Wohnung und sprach zu ihr: »Von heute ab hast du noch einen vollen Monat Bedenkzeit. Am Fest des Schutzheiligen unsers Hauses soll deine Hochzeit gefeiert werden. Du wirst dem Grafen von Luxemburg deine Hand reichen oder dein übriges Leben zwischen den Wänden einer Klosterzelle hinbringen.«

Das Fest des heiligen Johannes wurde jährlich mit großem Aufwand in der gräflichen Burg gefeiert; dann pflegten sich des Grafen Brüder mit ihren Freunden und Nachbarn, einer großen Anzahl Ritter und Frauen, auf der Johannisburg einzufinden; auf dem großen Burghofe wurden Turniere veranstaltet, in den benachbarten Wäldern große Jagden angestellt und Trinkgelage gehalten. Der Vorabend des Festes jedoch war ausschließlich dem Gottesdienst geweiht. Dann kamen alljährlich die drei Brüder in der Schloßkapelle zusammen, um ihren Bundeseid vor dem Altar und dem Bilde ihres Familienpatrons, in Gegenwart des Geistlichen, dreier fremder Ritter als Zeugen und des ältesten Frau und Tochter, förmlich zu erneuern. Solange dann die Ritter im Kirchlein verweilten, brannten drei helle Fackelfeuer auf den hohen Burgwarten der drei Festen Johannisberg, Zolver und Hesperingen und alle Glocken des Rösertales läuteten.

Der Vorabend des Johannisfestes war gekommen; in der Burg war alles zur morgigen Doppelfeier geschmückt und eingerichtet. Der Graf war mit seinen Brüdern in der Kapelle und die eingetretene Stille ward durch einen von außen her erschallenden Freudengesang unterbrochen. Eine Schar Jünglinge und Mädchen kamen, Hochzeitslieder absingend, zu dem weitgeöffneten Tor herein in den Hofraum, stellten sich in einen Halbkreis und harrten des Fräuleins Ankunft. Denn damals bestand der erst in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts erloschene, uralte Brauch, daß jeder Braut am Vorabend ihrer Hochzeit von den Mädchen und Jünglingen des Dorfes der Jungfernstrauß überreicht ward. Diesen Abend sollte ihm Ermesinde aus den Händen des schönsten Mädchens im Tale in Empfang nehmen. Nichts fehlte zum Beginn der Feierlichkeiten als der Braut persönliches Erscheinen. Ermesinde aber erschien nicht.

Der Graf sandte ihr einen Knappen um ihr zu melden, daß man ihrer im Gotteshause harre. Sie hatte sich in ihrer Kammer eingeschlossen und rief dem Boten von innen zu: »Meldet meinem Vater, daß ich weder mit dem Grafen von Luxemburg noch mit dem Schutzpatron des Hauses etwas zu schaffen habe.« Auch die Mutter eilte herbei und stand vor der Kammer. Ermesinde, beschäftigt ihr glänzendschwarzes Haar zu flechten, achtet nicht auf der Mutter strafende Worte und weist sie mit Stolz ab. Diese gerät[287] außer sich und unten im Hofe hört man deutlich der alten Gräfin schreckliche Verwünschung, die sie mit gellender Stimme ausstößt: »Dich soll mit deinem Golde die finstere Erde verschlingen!« Ein Donnerschlag, wovon die Burg erbebt, ein gräßliches Geschrei, das in den hochgewölbten Gängen widerhallt, verkünden des Fluches Erfüllung.

Verzweiflung im Blick, mit verzerrtem Gesicht und gerungenen Händen, stürzt die Gräfin in den Hof: »Sie ist versunken! Sie ist versunken! O Erde verschling mich!« – »Versunken?« hallt es aus dem Kreis der Harrenden, und mit Entsetzen weicht die Menge zurück. In wenigen Augenblicken ist der Burghof leer. Totenblaß und entstellt liegt die Gräfin am Boden. Der aufgeschreckte Graf eilt aus der Kirche, das Schwert, das er eben zum Schwur erheben soll, in der Hand, und als er die schreckliche Kunde vernimmt, kehrt er das Schwert gegen die Brust und stürzt sich hinein. Vergebens umfaßt ihn der eine Bruder und reißt ihm der andre das Eisen aus der Brust, der Graf verscheidet, den starren Blick nach der Burgwarte gerichtet, wo jetzt statt der feierlichen Fackelflammen das grause Notzeichen hoch auflodert. Wütend senkt der von Zolver die blutige Klinge in der Gräfin Herz.

Noch in derselben Nacht ging die herrliche Johannisburg in Flammen auf. Der frühe Morgen sah tausend Arbeiter auf beider Grafen Befehl das Gemäuer zertrümmern. Am dritten Tage nach dem schrecklichen Ereignis zogen die Herren von Zolver und Hesperingen in Pilgerkleidung am Johannisberg vorbei nach dem heiligen Land und keinen sah man je wiederkehren.

In einem unterirdischen Gewölbe sitzt Ermesinde, die glänzendschwarzen Haare flechtend, neben ihr Kisten voll Gold und Edelgestein. Wer am Vorabend Johannis dem schwarzen Hündchen, ihrem Wächter, den Schlüssel entwendet, der hat das Fräulein erlöst. Ihm gehören Braut und Brautschatz.


Nach einem alten Manuskript

1

Nach anderen waren es nicht Brüder, sondern sie waren miteinander verschwägert. S. L'Evêque de la Basse Moûturie 124.

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 285-288.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Klingemann, August

Die Nachtwachen des Bonaventura

Die Nachtwachen des Bonaventura

Erst 1987 belegte eine in Amsterdam gefundene Handschrift Klingemann als Autor dieses vielbeachteten und hochgeschätzten Textes. In sechzehn Nachtwachen erlebt »Kreuzgang«, der als Findelkind in einem solchen gefunden und seither so genannt wird, die »absolute Verworrenheit« der Menschen und erkennt: »Eins ist nur möglich: entweder stehen die Menschen verkehrt, oder ich. Wenn die Stimmenmehrheit hier entscheiden soll, so bin ich rein verloren.«

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon