[329] 749. Das Scheuer- oder Grieselmännchen.

A. Eine der bekanntesten Sagen unseres Landes ist die des Scheuermannes, der auch Grieselmännchen, Schappmännchen, Peschermännchen, wilder Jäger genannt wird. Der Volksmund erzählt, die Scheuerburg, von der noch heute Trümmer vorhanden sind, sei der Geburtsort und Sitz dieses Mannes gewesen. Die Burg war ehedem eine mächtige Feste, welche sich am südlichen Ende einer sanften Anhöhe zwischen Schandel und Vichten erhob. Sie beherrschte einen kleinen Grund, worin der Scheuerbrunnen noch heute munter fließt. Dieser Brunnen soll eine unglaubliche Tiefe haben und auf seinem Grund soll ein kostbarer Schatz verborgen liegen. Der Brunnen war von den Burgbewohnern gegraben und bis oben in die Burg geleitet worden. Der Sage nach ist die Anhöhe selbst, wo die Feste gestanden, von Wichtelmännchen ausgehöhlt worden, deren goldene Schätze noch heute in den Eingeweiden des Scheuerberges ruhen. Öde ist heute die Stelle, wo vorzeiten so überaus große Pracht gewaltet, und von Gesträuch und Gestrüpp überwuchert, und von hunderjährigen Eichenstämmen beschattet. Ist auch die Burg längst zerfallen, die Sage von ihren Besitzern lebt noch immer frisch im Munde des Volkes fort.

Auf der Scheuerburg hauste vor gar langer Zeit ein Ritter, der wegen seiner unermeßlichen Reichtümer, aber noch mehr wegen seiner grenzenlosen Grausamkeit weit und breit bekannt war. Alles mußte sich seinem eisernen Willen beugen, um den Zorn dieses Unmenschen nicht zu reizen. Im Zorn kannte er keine Grenzen. Weder göttliches noch menschliches Recht war ihm heilig; er frönte seinen Leidenschaften und tat alles, wozu diese ihn antrieben, und verübte so die abscheulichsten Taten. Nie betrat er ein Gotteshaus und die mahnende Stimme in seinem Innern suchte er auf alle mögliche Weise zu ersticken. Sein größtes Vergnügen oder vielmehr seine größte Leidenschaft war das Weidwerk. Weh dem, der in seinen Wäldern pirschte oder in denselben Schaden anrichtet; gewöhnlich mußte er sein Vergehen mit dem Tode büßen.[329]

Ein Hirtenknabe weidete eines Tages seine Herde in der Nähe des Scheuerbusches. Zum Zeitvertreib hatte der Jüngling im Busch eine junge Birke abgeschnitten und sich aus deren Rinde eine Schalmei gefertigt. Während er fröhlich seine Melodien pfiff, sah er plötzlich den Burgherrn auf sich zueilen. Die Lieder verstummten sofort und der Burgherr, den des Knaben Freude ärgerte, hieß ihn der abgeschnittenen Birke wegen in der Burg erscheinen. Der Knabe kam dem Befehl nach. Der unmenschliche Schloßherr hatte inzwischen seinen Dienern befohlen, an dem Jüngling eine ähnliche Marter zu vollziehen, wie dieser sie der jungen Birke angetan habe. Der arme Knabe wurde ergriffen, zu einer dünnen Birke geschleppt und dort entblößt. Man warf ihn zu Boden, schnitt ihm den Bauch auf, nahm das eine Ende der Gedärme und nagelte es an die Birke. Mit Geißelhieben wurde er solange um dieselbe herumgetrieben, bis die Gedärme um den Baum gewunden waren und der Knabe tot zur Erde niederfiel.

Ein Mann ging durch einen Wald, der dem Burgherren angehörte. In diesem Walde befanden sich einige Hirsche, die der Burgherr dorthin gebracht hatte. Einen derselben schlug der Mann mit einer Axt, die er bei sich führte, nieder. Sobald dies dem Burgherrn hinterbracht worden war, befahl er, den Hirschtöter zu ergreifen und vorzuführen. Zugleich wurde ein Hirsch eingefangen und auf die Burg gebracht; der arme Mann wurde nackt auf dessen Rücken gebunden und das Tier durch dick und dünn gejagt. Des Unglücklichen Leib ward von Gezweig und Dörnern zerfleischt und zerstückelt; auch der Hirsch, von Müdigkeit erschöpft, fiel tot zur Erde nieder.

Diese und viele andere Greueltaten verübte dieser Unmensch und zog den Zorn Gottes auf sich, dessen strenges Strafgericht ihn auch bald schrecklich ereilen sollte.

An einem Sommermorgen ritt der Burgherr hinaus in den Wald, um zu jagen. Er pirschte lange, ohne auch nur ein einziges Wild aufzujagen. Da ward er unwillig und drückte die goldenen Sporen in die Weichen des Rosses, daß es mit Blitzesschnelle durch den Forst dahinjagte und der Ritter es nicht mehr zum Stehhen bringen konnte. Durch Hecken und das Geäst der Bäume riß es ihn mit fort, so daß er am ganzen Leibe geschunden, dem sicheren Tode zueilte, wenn das Roß in seinem rasenden Laufe nicht gehemmt würde. Er riß deshalb mit seiner letzten Kraft die Zügel zurück, so daß das Roß plötzlich stillstand, im nächsten Augenblick aber sich gewaltig bäumte und mit einem mächtigen Satz gegen einen dicken Baumstamm stürzte. Der über das Pferd vorwärtsgebeugte Ritter zerschellte sich den Kopf am Baumstamm und fiel leblos zur Erde.

Wegen seiner Greueltaten gegen Gott und die Menschen muß der Ritter seit diesem Tage allnächtlich umgehen, entweder am Ort, wo seine Burg gestanden, oder in den Wäldern, Tälern, Fluren und Feldern, die er während[330] seines Lebens durchstreift hatte, und zwar nie auf einer Straße, sondern auf kleinen, krummen Pfaden, weil er zu seinen Lebzeiten nie den breiten Weg gehalten, sondern mitten durch die Saatfelder und Wiesen gegangen und geritten war. Er erscheint nicht immer unter derselben Gestalt, sondern ist bald von Flammen umringt, bald steht er in einer brennenden Kutsche, bald erscheint er in einen Mantel gehüllt und einen Knüttel in der Rechten, oder auch als Jäger mit Gewehr und Hunden. Weil er zumeist im »Grieselgrund« auftritt, wird er öfter Grieselmännchen als Scheiermann genannt.

Über die Grenzen seiner Domänen kommt er aber nur in der Gestalt eines Jägers mit einer zahlreichen Hundemeute, daher auch der Name »der wilde Jäger«.


B. Halbwegs zwischen Useldingen und Vichten geht um Mitternacht des Peschermännchen um. Ohne ein Wort zu reden, prügelt er die des Weges Kommenden oder führt sie in die Irre. Zuweilen hat man ihn eine Leiter tragen sehen.


C. Ein Bauer von Vichten pflügte einst sein Ackerfeld, das an den Scheierbusch stieß; seine vierzehnjährige Tochter trieb mit knallender Peitsche den steifen Gaul an. Schon begann es zu dunkeln, als das Mädchen am Saum des Waldes einen großen, schwarzgekleideten Mann erblickte und rief: »Vater, sieh, was für ein Mann dort steht!« Der Vater blickte auf, sah aber niemand. Das Mädchen beteuerte jedoch, einen großen, schwarzen Mann zu sehen, und bat ängstlich den Vater, heimzufahren. »Sei ruhig«, beschwichtigte der Vater das Kind, »noch ein paar Furchen und wir sind fertig.« – »Ich mache keine Wendung mehr mit«, erwiderte das Mädchen; »der Mann ist zu häßlich und schaut mich an, als ob er mich holen wollte.« – »Komm«, sagte der Vater, »zeig mir genau, wo er steht.« – »Du bist jetzt dicht neben ihm, Vater. O welch abscheuliches Gesicht! Komm schnell, laß uns heimfahren.«

Der Vater, der vom häßlichen Manne auch nicht die geringste Spur wahrnahm, zog schnell die letzte Furche und trat nachdenklich den Heimweg an. »Das war kein anderer als Scheiermännchen«, dachte er und die Schilderung, die sein Kind von dem schwarzen Manne gab, stimmte mit seiner Vermutung, und die lange schwarze Gestalt, die ein langer Mantel einhüllte, und die einen dreikrempigen Hut trug, konnte niemand anders als Scheiermännchen sein.


D. Der Wächter des Scheierbuschs. – Eine Frau aus Vichten kam in später Nacht bei hellem Mondschein an dem Scheierbusch vorbei. Plötzlich sah sie einen schwarzen Hund vorbeihuschen, der pfeilschnell[331] am Saum des Busches dahinlief und von Zeit zu Zeit bellte. Dieser Hund, heißt es, der in später Nacht die Runde um den Scheierbösch macht, ist der Wächter des Busches.


E. Die zwei spielenden Hasen. – Der Förster Kirsch von Vichten ging einmal gegen zehn Uhr nachts an dem unheimlichen Scheierbösch vorbei. Da erblickte er plötzlich im Mondschein zwei spielende Hasen mit aufgespitzten Ohren. Sobald sein Jagdhund die Beute witterte, stürzte er sich auf die Hasen los. Flugs waren sie auf und davon, der Hund hinterdrein. Blitzschnell ging es durch den Busch hinab in den Scheuergrund. Während der Jäger seiner Heimat zuschritt, hörte er auf einmal seinen Hund in den Bisserhecken erbärmlich heulen. »Was wird das arme Tier jetzt Prügel erhalten«, sagte er sich, »hättest du ihn doch zurückgerufen.« Er kam nach Hause, der Hund aber war noch nicht zurück. Erst gegen Mittag des anderen Tages kam das arme Tier zurück, halbtot geschlagen. Drei Tage lang lag es in seinem Ställchen, alle viere ausgestreckt, und nahm keine Nahrung zu sich. Die zwei Hasen waren die Begleiter des schwarzen Mannes und dieser war es, der den armen Hund halbtot geschlagen hatte.


F. Der brennende Wagen. – Ein Mann ging gegen zehn Uhr abends von Vichten nach Schandel. Bei Ackscht sah er unten im Scheiergrund ein Licht auftauchen, das, immer wachsend, zu einem großen Feuer wurde. Das Feuer kam aus dem Grund hervor, flog quer übers Feld und kam schnurstracks Ackscht zu. Näher kommend, gewahrte der Mann mitten in dieser furchtbaren Flamme eine große Kutsche, die mit zwei feuerschnaubenden Pferden bespannt war. Eine schwarze Gestalt, von rasenden Flammen umzüngelt, stand aufrecht im Wagen und mit knallender Peitsche in ihrer nervigen Rechten hieb sie auf das Gespann ein und wie ein Blitz schoß der Wagen voran und auf den nächtlichen Wanderer zu. Noch einen Augenblick und die brennende Kutsche rollte über ihn hinweg! In seiner Angst bekreuzte sich der Mann und der Ruf: »Jesus, Maria, Joseph!« entrang sich seinen Lippen. Da plötzlich drehte sich die Kutsche einigemal im Kreis herum und flog dann pfeilschnell dem Scheierbusch zu, wo sie bald im Grunde verschwand.

So hatte Scheiermännchen wieder einmal seine Nachtfahrt vollendet.


G. Das Feuer. – Ein Jüngling von Schandel, der gegen neun Uhr abends von Vichten kam, erblickte auf dem Bisserknäppchen ein großes Feuer, das direkt auf ihn zueilte. Bald kam es auf den Weg, der von Schandel nach Vichten führt, und machte Halt. Der Jüngling machte einen Umweg und lange noch sah er das Feuer an der nämlichen Stelle.[332]

Dieses Feuer drang sogar bis in Schandel selbst hinein und wurde mehrmals in den Kirchenpescher gesehen. Eines Abends ging das Feuer in diesen Wiesen um und setzte über Mauern und Hecken. Die Leute im Dorf liefen zusammen, um zu erfahren, welche Bewandtnis es mit dem Feuer habe. Da näherte sich ein alter Pater, der in heiligmäßiger Weise die letzten Tage seines Lebens in der Heimat verlebte, dem verwünschten Feuer. Da wurde es bald blutrot, bald blau, bald gelb, bald grün, es nahm alle möglichen Farben an; der alte Mann aber ging schneller zurück, als er gekommen war.

Dieses gespenstische Feuer schlich sogar in ein Haus, wo es zwar nicht zündete, jedoch großen Schrecken und Angst erregte. Es wurde am öftesten im Pferdestall gesehen, in welchen es durch einen engen Spalt hineinschlich, und dann war in einem Nu der ganze Raum mit Feuer angefüllt. Die erschrockenen Pferde stampften den Boden und »fuchtelten« dermaßen mit den Hinterbeinen, daß die Hufeisen klirrend an die Wand flogen, und nicht selten trug das eine oder das andere schwere Wunden davon.

Zu derselben Zeit, als dies Haus von dem Feuer heimgesucht wurde, erschien daselbst auch ein großer, langhaariger und pechschwarzer Kater, der gewöhnlich vom Speicher die Treppen herabtrollte und einen höllischen Lärm machte.


H. Ein Mann von Schandel ging beim ersten Morgenschimmer im Maimonat nach Böwingen. Als er in den Grieselgrund kam, erblickte er in seiner Nähe zwei spielende Hasen. Die niedlichen Tierchen mit aufgespitzten Ohren nahmen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Kein Auge wandte er von ihnen weg, auch nahmen sie nicht Reißaus, da sie ihn gewahrten. Als er in ihre Nähe kam, da stand plötzlich das gefürchtete Grieselmännchen vor ihm. Der Ruf: »Jesus, Maria!« entschlüpfte den bebenden Lippen des erschrockenen Mannes, und sofort war Grieselmann ungefähr einen Flintenschuß weit von ihm weg. Diese plötzliche Erscheinung hatte dem Mann einen solchen Schreck eingejagt, daß er ein halbes Jahr kränkelte. Grieselmann, beteuerte er, sei ungefähr sieben bis acht Fuß groß, habe einen kohlschwarzen Mantel an und trage einen dreieckigen Hut, in seiner Rechten führe er einen dicken Knüttel.


I. Zur Zeit, als hierlands noch die Schlacht- und Mahlsteuer bestand, wurde das Schmuggeln an der belgischen Grenze ärger betrieben als heutzutage. So ging denn auch ein armer Mann von Schandel nachts mit einem Sack voll Getreide auf der Schulter nach Böwingen, um dort das Getreide mahlen zu lassen. Um der nachtwandelnden Polizei nicht zu begegnen, ging er quer übers Feld. Als er durch den Grieselgrund auf die »große Heide« kam, erblickte er – denn es war heller Mondschein – eine große, schwarze Gestalt auf sich zukommen. Die vermummte Gestalt schien unserm[333] Mann ein belgischer Geistlicher zu sein, der sich wohl verirrt haben mochte. Noch einen Schritt und sie standen neben einander. »Gelobt sei Jesus Christus!« lispelte der Mann, indem er sein altes Mützchen lüftete. Gleich war die Gestalt einen Steinwurf weit weg und mit Riesenschritten forteilend, verschwand sie bald. Unser Mann setzte, nicht wenig erschrocken, seinen Weg fort.


J. An einem schönen Augustabend weidete ein Schäfer von Schandel mit seinem kleinen Sohn eine zahlreiche Herde auf dem Grieselberg. Der Mond war bereits aufgegangen und der Schäfer wollte eben seine Herde heimführen, da sah er mitten im Weg, der quer durch den Grund auf die große Heide führt, einen Reiter auf einem feurigen, kohlschwarzen Roß sitzen. Mit kräftiger Hand hielt derselbe den Zaum des Pferdes, welches sich vor einer schwarzen Dogge bäumte. Diese sprang vor dem Pferd empor und suchte dasselbe ins Maul zu beißen. Der Schäfer führte die Herde nahe an dem Reiter vorbei, welcher wie gebannt nicht von der Stelle wich. Reiter, Pferd und Hund waren alle drei kohlschwarz. Das war das gefürchtete Grieselmännchen, der seinen nächtlichen Ritt durch den Grund machte. An einem andern Abend sah derselbe Schäfer die nämliche Erscheinung.


K. Ein Handwerker von Vichten kam bei später, stockfinsterer Nacht von Useldingen. Er war ziemlich benebelt und scheltend und fluchend kam er im Grieselgrund an. »Wo bist du, alter Kerl? der Teufel holt dich jetzt; komm mal her, dann sehen wir, wer Meister wird!« Aber das Schelten und Fluchen sollte bald ein Ende haben, denn plötzlich ließ Grieselmann seinen Knüttel auf dem Rücken des Benebelten derart tanzen, daß er gar bald wieder nüchtern wurde und sich kleinlaut und wimmernd nach Hause schleppte. Vierzehn Tage lang mußte der Mann das Bett hüten.


L. Ein Mann von Schandel, der von einer Reise zurückkehrte, mußte um Mitternacht durch den unheimlichen Grieselgrund gehen. Von Müdigkeit erschöpft, schritt er mühsam vorwärts. Plötzlich bemerkte er im Mondschein eine hohe, schwarze Gestalt neben sich hinschreiten. Die Gestalt aber warf keinen Schatten, auch hörte man keine Tritte. Stillschweigend gingen sie neben einander bis an den alten Wegweiser. Da stand der Wanderer still, schlug ein großes Kreuz und sagte beherzt zu der pechschwarzen Gestalt: »Wenn du ein guter Geist bist, so sag, wer du bist; bist du aber ein böser Geist, so weiche von mir.« Blitzschnell wandte sich die Gestalt um, schritt über einen Graben in ein reifes Kornstück und verschwand. Am anderen Tag ging der Mann an die Stelle zurück und bemerkte, daß Grieselmännchen nicht einen einzigen Halm geknickt hatte.


[334] M. Ein Jüngling aus Schandel, der fast der größte in der ganzen Gegend war, schalt alle ihrer Torheit und Leichtgläubigkeit wegen, die von Grieselmännchen und dessen Unwesen erzählten. Einst kam dieser Jüngling in später Nacht durch den Grieselgrund. Plötzlich sah er eine überaus hohe, pechschwarze Gestalt auf sich zukommen. Nahe an ihn herangekommen, hob die Gestalt den rechten Arm in die Höhe und unser Jüngling mußte unter demselben hindurch. In Schandel erzählte er nun, daß es wirklich ein Grieselmännchen gebe, das aber ungeheuer größer sei, als man es geschildert habe.


N. Ein Knecht des Grafen von Schandel fuhr einmal in aller Frühe durch den Grieselgrund. Als er an dem alten Wegweiser vorbeifuhr, sah er plötzlich schnellen Schrittes einen großen, schwarzgekleideten Mann schnurstracks auf die Pferde zuschreiten. Der Knecht beeilte sich, die Pferde zum Stehen zu bringen. Derweil war der schwarze Mann zwischen den Vorder- und Hinterpferden hinweggeschritten und, in Riesenschritten forteilend, war er bald verschwunden.


O. In einer kalten Dezembernacht kamen zwei Männer von Böwingen nach Schandel. Auf der Böwingerkopp sahen sie ein Traulicht, das größer als ein Wagenrad war, von der großen Heide herabfliegend und darauf im Grieselgrund verschwinden. Sie schlugen den Fußpfad ein, quer durch die Wiesen und über den Weg, der von Useldingen nach Vichten führt. Als sie auf die kleine Heide kamen, hörten sie in ihrer Nähe heftiges Hundegebell und gleich darauf ging's piff, paff, hurra! und flugs war der Jäger vorüber. Es war das Grieselmännchen; er führte diesmal drei Hunde von mittlerer Größe an einer klirrenden Kette bei sich. Das Gewehr warf er schnell zurück. Unsere zwei Männer setzten ihren Weg fort bis ins Herrenland, wo sie in der Ferne wiederum einige Schüsse fallen hörten.


P. Wenn das Grieselmännchen je einem Menschen Ungemach auf den Leib gebracht hat, so war es einer Frau von Schandel. Sie wurde gar sehr von diesem unheimlichen Geist geplagt, der ihr sogar am hellen Tag, ja um die Mittagsstunde erschien und sie so sehr in Schrecken setzte, daß sie um diese Zeit, wo alles von der Feldarbeit nach Hause zurückgekehrt war, sich nicht hinaus aufs Feld wagte. Sie sah den Unhold zu wiederholtenmalen in ihr Haus gehen und war dort nicht sicher vor demselben. Oft begegnete sie ihm am hellen Tag auf freiem Feld, sie sah ihn neben anderen Personen hinschreiten, während diese ihn nicht sahen. Und jedesmal wenn sie ihn bemerkte und ihm mit den Blicken folgte, verschwand er immer im Pulergrund.[335]

An einem Sonntag, als ihre Angehörigen im Hochamt waren und sie sich mutterseelenallein im Haus befand, ging sie hinaus in ihren Pesch, um Gras in den Kuhstall zu tragen. Sie bückte sich, um das gemähte Gras in ihre Arme zu nehmen, da lag das Grieselmännchen lang ausgestreckt unter dem Gras, so daß sie ihn fast mitaufgehoben hätte. Er richtete sich auf und stand vor der erschrockenen und zitternden Frau. Ob er mit ihr gesprochen oder wie er verschwunden, hat sie später nie gesagt. Sie fing an zu kränkeln und ein halbes Jahr nachher war sie eine Leiche. In ihren Fieberträumen rief sie oft: »Da ist er, da ist Grieselmännchen!«


Q. Eine Frau, welche ein Rind verloren hatte, setzte ihre Nachforschungen nach diesem auch noch spät abends im Mondschein fort. Plötzlich hörte sie hinter sich Hundegekläff, das sich rasch näherte. Fast in demselben Augenblick sah sie auch einen Jäger von herkulischer Gestalt, von zwei Hunden begleitet, rasch an sich vorbeiziehen. Gleich darauf fielen mehrere Schüsse; doch der Jäger war schon auf einem nahen Hügel, denn mit großer Schnelligkeit durchstreifte er die Felder. Nach der Aussage der Frau trägt er einen breitrandigen Hut und einen bis über die Kniee reichenden Kittel. »Puh hei! Bello hei, hei!« ruft er seinen Hunden. Auch soll er nicht immer friedlich an den nächtlichen Wanderern vorbeiziehen, sondern manchen schon derb »verwichst« haben.


R. Nach L'Évêque de la Basse Moûturie hatte der Förster von Vichten, namens Kisch, einst geprahlt, der Scheuermann jage ihm keine Furcht ein. Bald darauf begegnete er dem Scheuermann auf dem Wege von Böwingen nach Schandel; dieser verfolgte ihn und überhäufte ihn mit Schlägen. Der arme Förster war ob dieser Begegnung derart erschrocken, daß seine Haare so weiß wurden wie Schnee.

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 329-336.
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