VII. Goldähre.

[25] Einmal lebte ein kleines Mädchen. Sie hatte ein Haupthaar, das auf dem Erdboden nachschleppte und gelb wie Gold aussah. Diese Kleine war so schön, dass man sie stets ›Goldähre‹ nannte. Aber, ach, – Goldähre besass eine Menge hässlicher Fehler und schlechter Gewohnheiten, – mehr als sie Haare auf dem Kopfe hatte!

Eines schönen Tages sass unsere Goldähre auf der Schwelle; da sah sie eine sehr schöne Frau auf sich zukommen: eine goldene mit Diamanten und Perlen besetzte Krone hatte sie auf dem Haupte, sie trug einen bis zu den Füssen reichenden Schleier und hatte einen Stab von Elfenbein in der Hand. »Höre, Goldähre!« so redete sie die Kleine an; »dieser Stab ist ein Zauberstab; wenn du willst, will ich ihn dir leihen; aber ich stelle dir die folgenden Bedingungen: allemal, wenn du einen deiner[25] Wünsche erfüllst, darf ich dir ein Haar fortnehmen, denn ich bin kahlköpfig und möchte mir eine Perücke aus deinem Haupthaare machen, denn dieses ist sehr schön!«

Goldähre empfing den Stab aus der Hand der Frau; sie trat an die Wand ihres Hauses und berührte es mit dem Stabe, – und auf der Stelle verwandelte sich dieses Haus in einen Palast aus Marmor, voll Pagen und Dienern. Sie berührte das einfache Baumwollenkleid, das sie trug, – und es verwandelte sich in seidene und sammetne Gewänder. Ihr Vater besass einen Karren und einen Esel; diese verwandelte sie in eine Karosse der schönsten Art und in ein paar schneeweisse Pferde. Kurz und gut, – alles was ihrem Kopfe entsprang, konnte sie jetzt tun; aber jedesmal fiel ihr ein Haar aus, und sie wurde so abscheulich kahlköpfig, dass sie immer einen dicken Schleier über ihrem Kopfe trug, um nicht zu zeigen, dass sie kahlköpfig sei. Das missfiel ihr dermassen, dass sie wünschte, sie sähe die Zauberin wiederkommen und könnte sie bitten, ihr ihren Haarwuchs zurückzugeben; denn sie war der Sache gründlich überdrüssig.

Die Zauberin erschien ihr schliesslich auch und sprach zu ihr: »Höre! Du kannst bewirken, dass dir dein Haar wieder wächst, wie früher, aber nicht einfach ›abgegeben und in Empfang genommen‹! Vielmehr ist's nötig, dass du dir's durch gute Werke verdienst!« Ich überlasse es euch, abzuschätzen, wie sich Goldähre freute, als sie diese Worte hörte! Sie begann denn nun soviel Barmherzigkeit und Wohltätigkeit zu üben, dass jedermann sie im höchsten Masse liebgewann. Sie hatte auch gemerkt, dass allemal, wenn sie irgend ein Werk der Barmherzigkeit tat, ihr Haar im Wüchse zunahm. Als sie das sah, liess sie ihren Palast niederreissen und gab ihren ganzen Reichtum den Armen; dann zog sie wieder in das Haus ihrer Eltern. Sie begann, ihre Hände zu nützlicher Tätigkeit zu gebrauchen, kümmerte sich um ihre Geschwister, – kurz, sie benahm sich sehr verständig. Als sie schliesslich einmal ihr Gesicht im Spiegel betrachtete, fand sie, dass ihr Haupthaar seine frühere Länge, Goldfarbe und Fülle wiedererlangt hatte.

Jetzt begannen die jungen Leute auch daran zu denken, sie zu heiraten, und zu guter Letzt fand Goldähre einen Jüngling, der schön war, wie sie, und heiratete ihn. Sie bekam auch viele schöne Kinder und fühlte sich im höchsten Masse glücklich.

Quelle:
Stumme, Hans: Maltesische Märchen. Gedichte und Rätsel in deutscher Übersetzung, Leipziger Semitistische Studien, Band 1, Heft 5, Leipzig: J.C. Hinrichsche Buchhandlung, 1904, S. 25-26.
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