IX. Der Brief.

[30] Es lebte einst eine sehr schöne Frau. Jeden Abend ging diese Frau aus und in der Stadt spazieren, und eine Menge junger Leute, die sich (in sie) verliebt hatten, (liefen) hinter ihr her und gingen allemal nach ihrem Hause mit, ohne dass sie jemand später wieder zu sehen bekommen oder gehört hätte, was aus ihnen geworden sei.

Da war nun ein junger Mann, mutig ohnegleichen, – der setzte sich in den Kopf, zu dieser Frau zu gehen, um zu sehen, was mit ihm geschehen würde. Als er einst zur Nachtzeit ein Kaffeehaus verliess, kam die treffliche Frau dort vorbei und warf ihm einen gar süssen Blick zu. Der junge Mann verliebte sich auf der Stelle und folgte der Dame. Von Zeit zu Zeit blickte sich die Frau um, um zu sehen, ob er ihr nachkäme, und dabei ging sie immer weiter. Sie verliess die Stadt, und der junge Mann ebenfalls. Sie trat in einen grossen Garten ein, was jener ebenfalls tat. Schliesslich gelangte die Frau vor ein Tor, öffnete es, liess es offen stehen und wartete auf den jungen Mann, bis er vor dem Tore erschien. Er sah sie an, und sie ihn; dann rief sie ihn an. Er betrat das Haus, und sie brachte ihn nach einem schönen Saale, der sehr fein ausgestattet war. Wohin er auch blickte, bemerkte er Bilder und zahlreiche andere Dinge, die ihm sehr gefielen. Die[30] Dame setzte sich dann auf einen Stuhl, und der junge Mensch nahm ihr gegenüber Platz. Sie begannen sich zu unterhalten, zu essen und zu trinken, und unterdessen verstrich die Zeit.

Als es dem jungen Manne schien, dass es Zeit für ihn sei, wieder nach Hause zurückzukehren, erhob er sich und sagte zu ihr, dass er gehen wolle. Sie wurde aber zärtlich mit ihm und sagte ihm, er solle doch noch ein Weilchen warten, und der junge Mann setzte sich wieder hin. Im Saale befanden sich vier Türen, je eine in jeder Ecke. Plötzlich erhob sich die Frau, trat an einen Tisch, ergriff eine Klingel und klingelte dreimal. Sie war noch garnicht damit fertig, – da öffnete sich eine Tür und ein schwarzer Türke erschien, hässlich wie ein Fluch. Die Frau sagte ihm etwas leise ins Ohr, und der Schwarze ging wieder hinaus und schloss die Tür hinter sich zu. Nach kurzer Zeit hörten die beiden ein Geräusch wie von Ketten, die nach dem Orte, wo sie sich befanden, gebracht wurden; da bekam der junge Mensch Angst und beobachtete die Frau. Währenddem kam das Geräusch näher und näher, bis es schliesslich hinter der Tür gehört wurde, durch welche der Türke hinausgegangen war. Der junge Mann stand auf und wollte hinaus; aber auf einmal taten sich die vier Türen auf, und aus jeder trat ein schwarzer, überaus hässlicher Türke, dessen Gesicht ein gleichfalls schwarzer Lappen bedeckte. Der arme Bursche kam vor Angst fast um; er blickte um sich, um zu sehen, wo er hinauskönnte. Auf einmal packten ihn diese vier Schwarzen, banden ihm die Hände auf den Rücken, banden ihm die Beine zusammen und legten ihn mitten ins Zimmer lang hin. Sie räumten alles aus der Mitte weg und einer von ihnen holte eine Leiter; die stemmte er in der Mitte des Zimmer an der Decke an und stieg sie empor. An dem Balken in der Mitte befand sich ein Nagel; von diesem Nagel liess man ein Seil herunterhängen; an dieses Seil band man den jungen Menschen mit den Fassen und hing ihn so an der Decke auf, – mit dem Kopf nach unten und den Füssen nach oben. Dann holten sie einen Stuhl, und die Frau liess sich auf diesem unter dem jungen Menschen nieder. Aus ihrer Busentasche zog sie eine lange, dicke Nadel hervor und begann dem Jünglinge das Blut abzuzapfen. Dennoch verzweifelte der junge Mensch nicht; er begann nachzudenken, um irgend ein Mittel zu finden und an seine Freunde Kunde von dem gelangen zu lassen, was ihm geschehen sei, und sie um Hilfe zu bitten.[31]

Was tat er nun? Er fasste den Plan mit grosser Klugheit. Er sagte zu jener Frau, dass er, wenn er nun einmal sterben müsse, begehre, dass sie ihm den letzten Wunsch erfülle. Als sie ihn fragte, was er wünsche, antwortete er ihr, dass er zu Hause einen ausgezeichneten Wein besässe und wünsche, von diesem, ehe er stürbe, eine Flasche zu trinken. Die Frau überlegte ein wenig; sie befahl (den Schwarzen), ihn herunterzunehmen, aus der Fesselung zu befreien und hinzusetzen. Der junge Mensch verlangte jetzt ein Stück Papier und einen Bleistift, was man ihm brachte. Er hatte nun zu Hause einen Diener; dieser liebte ihn wie seine Augen und hätte sein Leben für ihn hingegeben, – auch seinen Kopf hätte er hingegeben; und wenn er sah, dass irgend etwas nicht in Ordnung war, so ruhte er nicht eher, als bis er den Grund davon herausbekommen hatte.

Der junge Mann nahm den Bleistift in die Hand und schrieb an den Diener folgenden Brief: »Höre! Ich weile augenblicklich in einem Hause ausserhalb der Stadt und kann nicht selber kommen. Ich verlange also von dir, dass du in mein Schlafzimmer hinaufgehst, und den Kleiderschrank öffnest, der sich darin vor dem Fenster befindet, – nicht den anderen. Im zweiten Regale stehen da etwa vier Flaschen sehr guter Wein. Nimm zwei von ihnen und bring sie mir!« Dann schrieb der junge Mensch seinen Namen darunter. Als der Brief fertig war, faltete er ihn zusammen und bat die Dame, ihn nach seinem Hause zu senden. Sie nahm den Brief, las ihn und schickte, als sie sah, dass in ihm nichts Verfängliches stand, einen ihrer Türken mit ihm fort. Der Türke ging fort – geh' fort und hol' einen, der fortgehen kann! – und gelangte nach der Wohnung des jungen Menschen. Er klingelte, und es öffnete ihm der Diener und nahm den Brief in Empfang.

Als dieser ihn gelesen hatte und die Treppe hinaufstieg, sprach er bei sich: »Aber mein Signore muss verrückt geworden sein! Weiss er denn nicht, dass der ganze Wein im Keller liegt? In dem Kleiderschranke hier hat er sicher keine Flaschen, denn gerade heute morgen habe ich ihm seine Kleider hineingehangen! Wären die Flaschen darin, so hätte ich sie sicher gesehen.« Der Diener stieg die Treppe weiter hinauf, öffnete das Zimmer, öffnete den Kleiderschrank und begann zu suchen. Aber er konnte die Flaschen nicht finden! Er blickte wieder in den Brief, um zu sehen, ob er ihn auch richtig gelesen habe, und merkte, dass noch anderthalbe Zeile[32] darunter stand, die er zuerst nicht beachtet hatte. Die Zeile besagte: »Die Flaschen findest du in einem Kasten im zweiten Regale.« Der Diener suchte im zweiten Regale nach, fand den Kasten, öffnete ihn – und was fand er darin? Pistolen und Pulver! – Der Diener ward sofort gewahr, dass seinem Herrn etwas zugestossen war, und er sprach bei sich: »Indem er die Flaschen von mir verlangte, liess er mich merken, dass er mich selber brauche; und wenn er die Pistolen nicht nannte (so geschah dies deshalb), weil er Angst gehabt haben wird, der Brief käme nicht in meine Hände! Mein Herr will also gar keinen Wein haben, sondern Hilfe von meiner Seite!«

Um nun den Schwarzen nichts merken zu lassen, nahm der Diener drei Flaschen Wein aus dem Keller und übergab sie dem Wartenden. Dann brach der Schwarze auf, und der Diener brach auch auf, nahm ein paar Pistolen und lief eilends hinter jenem her, ohne dass jener etwas merkte. Nun musste man, um aus der Stadt ins Freie zu gehen, vor einer Polizeistation vorbei. Als der Diener dorthin kam, ging er in die Polizeistation hinein und bat um Hilfe. Der Inspektor gab ihm vier Leute mit, und sie gingen nun vorsichtig hinter jenem Türken her. Sie sahen, dass er in das Haus hineinging, in dem sich der junge Herr befand. Nun rannten sie hurtig herbei, schlugen die Türe ein und eilten ins obere Stockwerk, wo sie den jungen Mann an der Decke aufgehängt erblickten, während die Frau unter ihm sass und ihm sein Blut abzapfte!

Als sie das sahen, befreiten die Polizisten eilends den jungen Menschen und banden der Frau Hände und Füsse. Dann brachen sie soviel Türen auf, als sich dort befanden, und fanden drei weitere Schwarze, – also abgesehen von dem, der wegen des Weines ausgegangen war. Sie fesselten sie; dann begaben sie sich mit ihnen nach der Stadt und brachten sie nach der Polizeiwache. Hierauf kehrte die Polizei nach dem Hause jener Frau zurück und begann alles zu öffnen; dabei fand man in einer Ecke im Keller einen Verschlag. Man machte diesen zugänglich; aber ein abscheulicher Gestank quoll heraus. Schliesslich fassten die Polizisten Mut und kletterten in den Verschlag – und fanden gegen hundert Leichen. Man nahm die Frau und die Schwarzen fest und stellte alle vor Gericht. Die Frau enthauptete man draussen, mitten auf dem Platze, und die Schwarzen hing man auf.

Quelle:
Stumme, Hans: Maltesische Märchen. Gedichte und Rätsel in deutscher Übersetzung, Leipziger Semitistische Studien, Band 1, Heft 5, Leipzig: J.C. Hinrichsche Buchhandlung, 1904, S. 30-33.
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