[633] De brabantsche Yeesten door Jan de Klerk van Antwerpen. Herausgegeben von Willems (in Collection des chroniques belges inédites publiées par ordre du gouvernement). Brüssel 1839. S. 288.
Woher Gotfried von Löwen zubenamt war »mit dem Barte«, das will ich euch in kurzen Worten sagen. Zu den Zeiten, als Heinrich der Vierte Kaiser war, im Jahre 1003, da hatte Gotfried zwölf Jahre und sein Vater war Graf von Löwen und Brüssel und besaß das Land zwischen der Nethe und Schelde. Dieser Graf Heinrich saß eines Christtages mit seinen Genossen in seinen weiten Sälen zu Löwen bei der Tafel, wie er das zu thun pflegte an allen Hochzeiten. Zu seiner Seite saß Herr Robert von Assche; der hatte einen wackern Diener in seinem Sohne Heinrich; auch war der stolze Herr von Oesmale zugegen und der junge Werner von Graven.[633]
Während nun der Graf fröhlich beim Mahle saß, gedachte er, wie jämmerlich sein Vater, der reiche Graf, in seiner Burg ermordet worden, und er versank darob in Betrübniß. Das sah Gotfried, sein Sohn, und sprach: »Vater, warum seid ihr so betrübt, da ihr doch unter euren liebsten Freunden sitzet: machet sie nicht mit traurig, sondern erfreuet sie vielmehr.« Darauf er wiederte der Graf: »Du sprichst ein wahres Wort, aber wenn ich gedenke, wie mein Vater von Hermann, der ihn gefangen genommen, ermordet wurde, dann kommt mir großer Zorn; und gedenke ich der großen Güter, welcher meine Väter beraubt worden, dann betrübe ich mich mit Recht und über die Maßen. Stamme ich doch von so edelm Geschlechte und bin so ohne mein Gut.« Da sprach Gotfried: »Laßt die Betrübniß, Vater, und den Zorn: nackt werden wir geboren und kehren nackt zur Erde zurück; darum bekümmert diese Herren nicht.« Der Graf antwortete: »Nein, ich will's nicht mehr thun, doch es macht meinem Herzen groß Weh.« Da fuhr Gotfried fort: »Laßt euer Weh und eure Sorge fahren; es kommt doch alles wieder an mich; alles muß ich wieder gewinnen, was unsere Väter besaßen, so Gott mir das Leben schenkt, und müßte der Kaiser selbst davon abstehen.« – »Schweige, Sohn«, sprach der Vater, »du bist noch zu jung und hast noch zu kurze Härchen in deinem Barte, als daß du dich dazu vermessen möchtest.« Da sprach Gotfried, wie es einem wackern Manne wohl gebührt hätte: »Vater und Herr, verstehet mich wohl: ich sag' es euch sonder Spiel und schwöre es euch bei unserm Herrn im Himmelreich und bei der Treue, die ich euch schulde, daß ich meinen Bart nimmermehr scheeren werde, ich habe denn Lotharingen und Brabant wieder und all das Land, welches Herzog Karl verlor, dessen ihr so oft gedenket und um welches ihr so viel[634] klagt.« – »Sohn, dann wirst du deinen Bart lange tragen«, sprach der Graf und all die Herren lachten ob dem kühnen Worte des jungen Gotfried. Doch es wurde wahr, und er hielt sein Versprechen und eroberte alles Land seiner Vorfahren wieder; dann ließ er auch seinen Bart scheeren, nicht eher.