[418] 344. Maria als Pförtnerin.

Mündlich von einer alten Klostergeistlichen.


In unserer Abtei (Parc des Dames bei Löwen) hatten wir auf dem Chor für die Diener ein Muttergottesbild, von dem die Schwestern eine sehr merkwürdige Geschichte erzählten. Es gab solcher Geschichten viele bei uns, aber diese ist die schönste von allen.[418]

Vor langer, langer Zeit lebte in unserm Kloster eine Schwester Pförtnerin, welche Beatrix hieß und bei sehr hoher Frömmigkeit besonders der heiligen Mutter Maria mit Innigkeit anhing. Trotzdem aber hatte sie, nachdem sie viele Jahre ihre Reinheit unbefleckt bewahrt, sich endlich von einem Klosterbedienten verführen lassen. Als sie aber einmal die böse Fleischeslust geschmeckt, da glaubte sie, ihr fürder nicht mehr widerstehen zu können. Sie trat darum eines Tages zu dem besagten Bilde und hing diesem ihre Kleider nebst den Schlüsseln des Thores an, indem sie sprach: »Ich finde, o heilige Jungfrau Maria, daß ich dir nicht mehr als eine reine Magd dienen kann, nimm deßhalb meine Kleider und die Schlüssel zurück, welche mir anvertraut worden sind, denn die Lust des Fleisches ist stärker als ich, und sie überwältigt mich.« Nach diesen Worten entfloh sie mit dem Diener aus dem Kloster. Ihr Verführer verließ sie aber bald, und da sie nicht wußte, wovon sie fortan leben sollte, ergab sie sich der schändlichsten Unzucht und verdiente damit ihren Lebensunterhalt.

Fünfzehn ganzer Jahre hatte sie also sich herumgetrieben, als sie eines Tages neugierig ward, zu wissen, was man im Kloster wohl über ihr Verschwinden geurtheilt haben möge. Sie ging darum zum Kloster und fragte eine der Geistlichen, welche sie gerade sah, ob man nicht wisse, wo die Schwester Beatrix sei und was aus derselben geworden. Die Schwester aber entgegnete, daß dieselbe nie das Kloster verlassen habe und durch ihr heiliges Leben allen andern noch jetzt vorleuchte.

In tiefem Staunen und Nachdenken entfernte sich die Gefallene. Da erschien ihr die heilige Mutter Maria im Traume und sprach: »Beatrix, vor Zeiten meine liebe Tochter, komm wieder in dein Kloster zurück; keine von den Schwestern weiß, was du bist und was du gethan.[419] Lege deßhalb dein sündiges Leben ab und thue deine Pflicht, wie früher.« Reuevoll ging Beatrix in das Kloster und zuerst zu dem Altare, und siehe, ihre Kleider hingen sammt den Schlüsseln an dem Bilde der Muttergottes, welche während fünfzehn Jahren für sie die Dienste einer Pförtnerin verrichtet hatte. Sie legte das Habit unter heißen Thränen von neuem an und kam ihren Pflichten wieder treulich nach, und keine der Schwestern ahnte auch nur das mindeste von ihrem vergangenen Leben. Nach ihrem Tode erst hat der Beichtvater des Klosters den andern erzählt, daß sie es ihm in der Beichte anvertraut habe. Seitdem war die Muttergottes auf dem Dienerchor dem Convente ein theurer Edelstein, und nachher haben sich noch viele Wunder durch sie ereignet.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 418-420.
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