502. Der verschwundene Wärwolf.

[600] Mündlich von Frau Courtmans.


Auf einem Hofe wollte man Flachs hecheln und ließ den Hechler rufen. Der kam und man wurde einig mit ihm; jedoch erklärte er, er könne nicht allein mit der Arbeit fertig werden, sondern müsse noch einen Knecht zu sich nehmen. Am andern Morgen langten beide an und der Hechler ging zu dem Pachter und sprach: »Mein Knecht ist ein guter Arbeiter, aber er ist ein Wärwolf; darum bitte ich euch, das Thor in der Nacht nicht zu schließen, sondern es nur anzulehnen, damit er aus und ein kann.« Der Pachter sprach, das könne geschehen, und erzählte alles den andern Knechten und Mägden, und die lachten darüber und sagten, sie möchten doch gerne einmal einen Wärwolf sehen. Abends schlossen sie das[600] Thor und es ging auch alles gut; sie blieben mit dem Hechelknechte auf bis nach ein Uhr und dann legten sich alle schlafen. Am zweiten Abende ging es auch gut und sie merkten nichts; am dritten aber war der Hechelknecht gar unruhig und sprach, man müsse das Thor öffnen. Die andern lachten und öffneten nicht, und die Unruhe des Menschen wurde immer ärger. Um elf Uhr endlich sprach er zu einer Magd: »Wenn ihr mir nicht öffnet, dann banne ich euch den Teufel in den Leib.« Da lachte die Magd ihn aus und die andern mit, und das Thor war und blieb geschlossen. Der Hechelknecht lief aber aus der Kammer und auf den Boden, wo er schlief, und als die andern eine Weile nachher auch hinaufgingen, um zu sehen, was er mache, da sahen sie, daß er sich an den Leintüchern herunter gelassen hatte. Er kam auch nicht wieder.

In der folgenden Nacht aber rasselte es schrecklich um den Hof herum, und besonders am Fenster des Mädchens, welches den Hechelknecht so verspottet hatte, und das dauerte von zwölf bis eins. Vor dem Fenster lief die Dachrinne nieder, und so war es dort stets feucht. In dem Boden daselbst fand man vier Pfoten, wie von einem großen Hunde eingedrückt. Am zweiten Abende nachher klopfte es an ein Fenster im ersten Stocke. Der Pachter, welcher in der Kammer schlief, lief erschrocken hin und hob die Gardine auf, um zu sehen, was das war, und da erblickte er einen Wolf so groß, als das größte Pferd, und der stand mit den Vorderfüßen auf dem Fenster.

Das war das letzte Mal, daß man etwas von dem Wärwolfe hörte. Im folgenden Jahre aber starben auf dem Hofe siebenzehn Kühe hinter einander und Unglück kam über Unglück.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 600-601.
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