Es war einmal ein Mann, der lebte im Austragsstübchen; er hatte sein Gut an den Erben übergeben, aber außerdem hatte er noch drei Söhne, die hießen Peter, Paul und Esben, das Nesthäkchen. Alle drei lungerten daheim herum und wollten nichts arbeiten, denn es ging ihnen zu gut, und sie selbst dünkten sich zu vornehm für alles, und nichts war gut genug für sie. Schließlich hörte Peter einmal, der König wolle einen Hirten für seine Hasen haben, und da sagte er zu seinem Vater, er wolle sich dazu melden; das passe ihm gerade, denn er wolle keinem geringeren Mann als dem König dienen. Zwar meinte der Vater, es gebe doch wohl Arbeiten, die besser für ihn paßten, denn wer Hasen hüten wolle, der müsse flink und rasch und keine Schlafhaube sein, und wenn die Hasen nach allen Windrichtungen hin auskniffen, so sei das ein anderer Tanz, als wenn man bloß in der Stube herumlaufe. Aber das half nichts, Peter wollte durchaus, nahm[225] seinen Rucksack und bummelte bergabwärts, und als er eine Weile gegangen war, sah er ein altes Weib, die hatte ihre Nase beim Holzhacken in einen Baumstrunk hineingeklemmt, und als Peter sah, wie sehr sie riß und zerrte, um wieder herauszukommen, schlug er ein schallendes Gelächter an.
»Steh doch nicht herum und lache so dumm«, rief die Frau, »komm und hilf mir alter schwacher Frau; ich wollte mir etwas Kleinholz richten und habe dabei meine Nase hier hereingebracht, und nun stehe ich hundert Jahre hier und reiße und zerre und habe die ganze Zeit keinen Bissen Brot in den Mund bekommen«, sagte sie.
Aber da lachte Peter noch viel ärger; er fand die Sache sehr lustig und sagte, wenn sie schon hundert Jahre so dastehe, könne sie es wohl noch weitere hundert Jahre aushalten.
Als er an den Hof kam, nahmen sie ihn gleich als Hirten an. Der Dienst war nicht übel, gutes Essen und guter Lohn und vielleicht obendrein die Prinzessin zu bekommen, aber wenn nur ein einziger von des Königs Hasen abhanden käme, würde man ihm drei rote Riemen aus dem Rücken schneiden und ihn in die Schlangengrube werfen.
Solang nun Peter auf der Trift oder im Gatter war, hatte er alle Hasen schön beisammen, aber als er später den Wald erreichte, rannten sie ihm über alle Berge davon. Peter setzte ihnen in großen Sprüngen nach, solange er meinte, auch nur einen wieder einfangen zu können, und als auch der letzte verschwunden war, war ihm aller Atem vergangen, und er sah weiter nichts mehr von ihnen.
Gegen Nachmittag machte er sich gemächlich auf den Heimweg; und am Gatter schaute er nach allen Seiten nach ihnen aus; aber es kamen keine Hasen. Als er dann ins Schloß kam, stand der König schon mit dem Messer parat und schnitt ihm drei rote Riemen aus dem Rücken, streute Pfeffer und Salz hinein und warf ihn in die Schlangengrube.
Nach einiger Zeit wollte Paul sich auch auf den Weg zum Schloß machen und des Königs Hasen hüten. Der Vater sagte zu ihm das gleiche und noch mehr, aber er wollte[226] durchaus fort und ließ sich nichts sagen, und es ging ihm nicht besser und nicht schlechter, als es Peter gegangen war. Das alte Weib stand da und zerrte und riß an ihrer Nase im Baumstrunk, er lachte und fand es recht spaßhaft und ließ sie stehen und sich plagen. Den Dienst erhielt er gleich, aber die Hasen rannten ihm über alle Berge davon, obgleich er ihnen nachsetzte und sich abarbeitete wie ein Schäferhund im Sonnenbrand, und wie er ohne Hasen am Abend ins Schloß zurückkam, stand der König schon parat mit dem Messer und schnitt ihm drei breite rote Riemen aus dem Rücken, streute Pfeffer und Salz hinein und warf ihn ins Schlangenverlies.
Nachdem wiederum einige Zeit vergangen war, wollte sich das Nesthäkchen auf den Weg machen, um des Königs Hasen zu hüten, und sagte sein Vorhaben dem Vater. Er meinte, das sei eine passende Arbeit für ihn, in Wald und Feld herumzutreiben, nach Erdbeerplätzen aus zu sein, eine Herde Hasen zu hüten und dazwischen in der Sonne zu liegen und zu schlafen. Der Vater meinte, es gebe wohl Arbeiten, zu denen er besser passe, und wenn es ihm nicht schlimmer ginge als seinen beiden Brüdern, so werde es ihm doch ganz gewiß nicht besser ergehen. Wer des Königs Hasen hüten wolle, der dürfe nicht so schwerfällig daherkommen, als hätte er Blei an den Füßen, oder wie eine Fliege auf der Leimrute; und wenn die Hasen über alle Berge davonliefen, so sei das ein anderer Tanz, als wenn man mit Handschuhen Flöhe fange; wer mit heilem Rücken davonkommen wolle, müsse mehr als flink und gelenkig sein und schneller als ein Vogel.
Es war aber nichts zu machen, Esben sagte immer nur, er wolle an den Hof und dem König dienen, denn bei einem Geringeren wolle er nicht in Dienst treten, sagte er, und auf die Hasen wolle er schon achtgeben, das könne doch nicht viel schlimmer sein als eine Herde Ziegen oder Kälber. Damit nahm er seinen Rucksack und wanderte gemächlich den Berg hinunter.
Als er eine Weile gewandert war und anfing, gehörig hungrig[227] zu werden, kam er zu der alten Frau, die mit der Nase im Baumstrunk eingeklemmt war und zerrte und riß, um loszukommen.
»Guten Tag, Mütterchen«, sagte Esben, »was plagst du dich denn so mit deiner Nase ab, du arme Haut?« – »Niemand hat mich Mütterchen genannt seit hundert Jahren«, sagte die Alte, »aber komm und hilf mir heraus und gib mir auch einen Bissen zu essen, denn ich habe die ganze Zeit keinen Bissen gekostet, ich will dir auch wieder etwas zuliebe tun«, sagte sie.
Ja, er glaube wohl, Essen und Trinken werde sie wohl sehr nötig haben, meinte Esben.
Dann hieb er den Holzklotz auseinander, daß sie die Nase aus der Spalte freibekam, setzte sich zum Essen nieder und teilte mit ihr. Die Alte hatte einen guten Appetit und bekam ein brüderliches Teil von dem Mundvorrat.
Als sie nun fertig waren, gab sie Esben eine Pfeife, die hatte die Eigenschaft, daß, wenn er in das eine Ende blies, sich in alle Winde zerstreute, was er zerstreut haben wollte, und wenn er in das andere blies, so kam alles wieder zusammen; und wenn ihm die Pfeife abhanden käme, so sollte sie sich wieder bei ihm einstellen, sobald er sie zurückwünschte. ›Das ist ja eine wunderbare Pfeife‹, dachte Esben.
Als er ins Schloß kam, nahmen sie ihn sofort als Hirten an; der Dienst sei nicht schlecht, Kost und Lohn sollte er auch bekommen, und wenn er es fertigbrächte, des Königs Hasen zu hüten, ohne daß ihm einer abhanden käme, so könnte er vielleicht die Prinzessin bekommen; aber wenn er auch nur einen Hasen verlöre, und wenn es auch nur ein kleines Häschen wäre, würde man ihm drei rote Riemen aus dem Rücken schneiden; und der König war seiner Sache so sicher, daß er schon ging und das Messer wetzte.
Das sei eine einfache Sache, diese Hasen zu hüten, meinte Esben; denn als sie auszogen, waren sie so brav wie eine Schafherde, und solange sie auf der Trift und im Gatter waren, gingen sie auch in Reih und Glied. Aber als sie in[228] den Wald kamen und es gegen Mittag ging und die Sonne über Höhen und Tälern brannte, da kniffen sie aus und rannten über alle Berge davon.
»Holla, wollt ihr wohl fort!« schrie Esben und blies in das eine Ende seiner Pfeife, und da rannten sie noch schneller nach allen Enden der Welt auseinander. Aber als er an einen alten Kohlenmeiler kam, blies er in das andere Ende der Pfeife, und ehe er sich's versah, waren die Hasen wieder da und standen in Reih und Glied, so daß er sie übersehen konnte wie ein Regiment Soldaten auf dem Exerzierplatz. ›Das ist ja eine herrliche Pfeife!‹ dachte Esben und legte sich auf einen sonnigen Hügel und schlief, und die Hasen spielten und blieben sich selbst überlassen bis zum Abend; dann pfiff er sie wieder zusammen und zog mit ihnen zum Schloß wie mit einer Schafherde.
Der König und die Königin und auch die Prinzessin standen im Hausgang und wunderten sich, was das für ein Kerl sei, der die Hasen hüten könne, ohne einen zu verlieren; der König zählte und rechnete und deutete mit den Fingern und rechnete wieder, aber es fehlte auch nicht das kleinwinzigste Häschen. »Das ist ein Kerl, der«, sagte die Prinzessin.
Am anderen Tag zog er wieder in den Wald und hütete seine Hasen, aber wie er so recht mit Behagen an einem Erdbeerplätzchen lag, schickten sie ihm das Stubenmädchen vom Schloß hinaus, sie sollte herausbringen, wie er es anstelle, die Hasen des Königs zu hüten.
Er zeigte ihr seine Pfeife und blies in das eine Ende, da stoben die Hasen nach allen Windrichtungen und über alle Berge auseinander, und dann blies er in das andre, und da kamen sie von allen Seiten angehoppelt und standen wieder in Reih und Glied.
»Das ist eine wunderbare Pfeife«, sagte das Stubenmädchen. Sie wolle ihm gerne hundert Taler dafür geben, wenn er sie verkaufen wolle.
»Ja, es ist eine prächtige Pfeife«, sagte Esben, »und für Geld ist sie mir nicht feil. Aber wenn du mir hundert Taler[229] und zu jedem Taler noch einen Kuß geben willst, dann würde ich sie wohl hergeben.«
Aber freilich, das sei ihr tausendmal recht; sie wolle ihm für jeden Taler gern zwei Küsse geben und noch dankbar sein. Also bekam sie ihre Pfeife, aber als sie ins Schloß kam, war die Pfeife auf einmal fort. Esben hatte sie sich zurückgewünscht, und als es gegen Abend ging, kam er mit seinen Hasen wie mit einer Schafherde an. Der König rechnete und zeigte und rechnete, aber es half alles nichts, es fehlte kein einziges Häschen.
Als Esben am dritten Tag seine Herde hütete, schickten sie ihm die Prinzessin in den Weg, damit sie ihm seine Pfeife abspenstig mache. Sie war kreuzvergnügt und bot ihm schließlich zweihundert Taler, wenn er ihr die Pfeife lassen und ihr auch sagen wollte, was sie zu tun hätte, um sie auch sicher heimzubringen.
»Ja, das ist eine sehr wertvolle Pfeife«, sagte Esben, »und ist mir nicht feil«, aber ihr zuliebe wolle er sie schließlich hergeben, wenn sie ihm zweihundert Taler und obendrein einen Kuß für jeden Taler geben wolle; aber wenn sie sie behalten wolle, müsse sie gut darauf aufpassen, das sei dann ihre Sache.
»Das ist aber ein hoher Preis für die Hasenpfeife«, sagte die Prinzessin, und es grauste ihr eigentlich, ihn zu küssen, »aber weil wir hier mitten im Wald sind, wo es niemand sehen und hören kann, so mag es schließlich hingehen, denn die Pfeife muß ich durchaus haben«, sagte sie, und als Esben die ausbedungene Bezahlung eingesteckt hatte, bekam sie die Pfeife und hielt sie auf dem ganzen Weg krampfhaft in der Hand, aber als sie ins Schloß kam und sie vorzeigen wollte, war sie ihr aus den Händen verschwunden.
Am nächsten Tag machte sich die Königin selber auf den Weg, und sie war ganz sicher, daß es ihr gelingen würde, ihm die Pfeife abzulocken.
Sie war geiziger und bot nur fünfzig Taler, aber sie mußte zulegen, bis es dreihundert waren. Esben sagte, es sei eine[230] prächtige Pfeife, und es sei ein schändlicher Bettelpreis, aber weil sie die Frau Königin sei, wolle er sich's gefallen lassen; sie solle ihm dreihundert Taler bezahlen und zu jedem Taler noch einen Schmatz; dann könne sie die Pfeife haben. Er bekam alles wohlgerechnet, denn in dem letzten Punkt war sie nicht so geizig.
Als sie die Pfeife in Händen hatte, band sie sie fest und versteckte sie wohl, aber es ging ihr doch kein Haar besser als den beiden andern; als sie die Pfeife vorzeigen wollte, war sie fort, und am Abend kam Esben mit seinen Hasen wie mit einer wohlgezogenen Schafherde nach Hause.
»Ihr seid dumme Frauenzimmer!« sagte der König. »Ich muß mich wohl selbst auf den Weg machen, wenn wir diese lumpige Pfeife wirklich bekommen wollen! Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig!« Und als am nächsten Tag Esben wieder seine Hasen hütete, ging ihm der König nach und fand ihn an demselben Plätzchen, wo die Frauenzimmer mit ihm verhandelt hatten.
Sie waren rasch gute Freunde, und Esben zeigte ihm die Pfeife und blies in das eine und in das andere Ende, und der König fand die Pfeife sehr hübsch und wollte sie schließlich kaufen, und wenn sie tausend Taler kosten sollte.
»Ja, das ist eine prächtige Pfeife«, sagte Esben, »und für Geld ist sie mir nicht feil, aber seht Ihr den Schimmel dort?« sagte er und zeigte in den Wald hinein.
»Ja, der gehört ja mir, das ist ja meine Schneehex!« rief der König, denn die kannte er recht genau.
»Ja, wenn Ihr mir tausend Taler geben wollt und dazu die Schimmelstute küßt, die da unten im Moor bei der großen Föhre weidet, dann könnt Ihr meine Pfeife haben!«
»Ist sie um keinen anderen Preis feil?« fragte der König.
»Nein«, sagte Esben.
»Aber ich darf doch wenigstens mein seidenes Taschentuch dazwischenlegen?« fragte der König.
Das wurde ihm zugestanden, und auf diese Art bekam er die Pfeife. Die legte er in seinen Geldbeutel, steckte ihn in[231] seine Tasche und knöpfte sorgfältig zu; so machte er sich auf den Heimweg. Aber als er ins Schloß kam und die Pfeife herausholen wollte, ging es ihm nicht anders als den Frauenzimmern, er hatte die Pfeife auch nicht mehr. Und am Abend kam Esben mit der Hasenherde heim, und es fehlte auch nicht ein Häschen.
Der König war böse und zornig, weil er sie alle zum Narren gehalten und auch ihn selbst um die Pfeife beschwindelt hatte; und jetzt wollte er Esben umbringen lassen; die Königin war derselben Ansicht und sagte, es sei am besten, einen solchen Betrüger sofort hinzurichten.
Esben aber fand das weder recht noch billig, denn er habe nichts anderes getan, als ihm aufgetragen war, und habe sich nur nach Kräften seiner Haut gewehrt.
Da sagte der König, das könne ihm gleich sein, aber wenn Esben es fertigbrächte, den großen Braukessel bis zum Überlaufen vollzulügen, so wolle er ihm das Leben schenken.
Die Arbeit werde weder lang noch schwer sein, das traue er sich schon zu, sagte Esben und fing an zu erzählen, wie es ihm von Anfang an gegangen war; er berichtete von der Alten mit der Nase in dem Baumstrunk, und zwischendurch sagte er: »Ich muß gehörig lügen, damit der Kessel voll wird« – dann erzählte er von der Pfeife und von dem Stubenmädchen, das zu ihm kam und die Pfeife für hundert Taler kaufen wollte, und von allen Küssen, die sie ihm noch obendrein auf dem Waldhügel geben mußte; dann erzählte er von der Prinzessin, wie sie gekommen sei und ihn so wundernett für die Pfeife geküßt hätte, weil es im Wald niemand sehen und hören konnte – »ich muß gehörig lügen, damit der Kessel voll wird«, sagte Esben. Dann erzählte er von der Königin, wie geizig sie mit dem Geld war und wie gar nicht geizig mit den Schmatzküssen – »ich muß gehörig lügen, damit der Kessel voll wird«, sagte Esben.
»Nun ist er aber voll, meine ich«, sagte die Königin.
»Ach, keine Spur«, sagte der König.
Da fing Esben an zu erzählen, wie der König zu ihm gekommen[232] sei, und von der Schimmelstute, die im Moor weidete, »und weil er die Pfeife durchaus haben wollte, so mußte er – so mußte er – ja, mit Verlaub, ich muß ordentlich lügen, damit der Kessel voll wird«, sagte Esben.
»Halt! Halt! Er ist voll, Bursch!« schrie der König. »Siehst du denn nicht, daß er überläuft?«
Der König und die Königin waren der Ansicht, es wäre am besten, wenn Esben die Prinzessin und das halbe Königreich bekäme; man könne nun einmal nichts anderes tun.
»Das war eine prächtige Pfeife!« sagte Esben.
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