[118] Es war einmal, wie's kein Mal war, wäre es nicht gewesen, würde es nicht erzählt. Als die Wölfe sich mit den Schafen im Stall zur Ruhe legten, die Schäfer mit den Kaisern und den Königen auf grüner Flur tafelten, als eine Sonne unter und die andere aufging.
Es war einmal ein Mann, meine lieben, guten Leute. Dieser Mann wäre jetzt, – daß ich nicht lüge – wahrhaftig, er wäre jetzt hundert Jahre alt, wenn nicht noch so an zwanzig mehr; auch seine Frau war alt, wie ich weiß nicht wer; sie war wie die heilige Freitagsgöttin (Venus); und von Jugend auf bis zum hohen Alter hatte sie kein einzig Kind bekommen. Und nur wer da weiß, was die Kinder im Hause sind, der kann die unbändige Trauer im leeren Haus der alten Frau und des alten Mannes verstehen. Was hatte der arme Alte nicht Alles gemacht, um zu versuchen, ob ihm nicht doch das Haus erhellt[118] und mit Freude angefüllt werden könnte durch das, was er sich so sehr wünschte! An die Klöster und Kirchen hat er Almosen gegeben, Liturgien in sieben Kirchen hat er lesen lassen, hat Priester mit weißen Bärten kommen lassen, denn die sind heiliger und haben mehr Nachdruck beim Gebet, hat die Messen für alle Heiligen und die Gebete zur letzten Oelung lesen lassen. Aber Alles war ohne jeden Nutzen. Die Alte hatte sich an die Hexen und Zauberer gehängt. Welch Hexenmeister wäre von der Alten nicht zu Rath gezogen worden, wohnte er selbst eine Woche Wegs entfernt? Und glaubt Ihr, daß auch nur ein Kraut von denen, die man am heiligen Kreuztag pflückt und auf dem Boden des Hauses trocknet, von ihr unbenutzt geblieben wäre? nein, alle wurden gekocht und besprochen. Wie ich schon sagte, was hätte sie nicht gethan! Aber vergebens, all Dies nutzte nichts!
So sagte also der Alte an einem Tage, den der Herr werden ließ, traurig und gedankenvoll zur Alten:
»Du, Alte!«
»Was willst Du?«
»Gieb mir Zehrung mit auf den Weg, denn ich will in die weite Welt, ich will dahin gehen, wohin ich schaue, ob ich nicht ein Kind finde, denn sieh mal an, mich brennt und schmerzt es in der Seele, wenn ich daran denke, daß mit mir sich das Leben abschließt, daß nach mir Niemand Haus und Hof verwalten wird, daß Alles zum Hohn und Raub in fremde Hände fällt. Auf alle Weise habe ich es versucht, so will ich auch dies noch versuchen. Und wisse Eins: wenn ich kein Kind finde, komme ich nicht mehr nach Hause.«
So sprach der Alte, nahm den Reisesack auf den Rücken,[119] ging hinaus und machte sich auf den Weg. Und er wanderte, wanderte und wanderte weiter durch Reich und Welt, wie's Gott gefällt. Hört, Ihr guten Leute, ich sag' lauter Wahrheit heute. Und er wanderte, bis er in einen dichten Wald kam, der wie vermauert schien so dicht war er. Und Baum war mit Baum verschlungen, Gesträuch mit Gesträuch, so daß durch das dichte Laub das Sonnenlicht nicht einmal soviel wie durch ein Nadelöhr dringen konnte. Als der Alte einen so ungeheuerlichen Wald sah, schlug er drei Kreuze gen Osten, dreimal fiel er nieder, auch gen Osten, und trat dann mit großem Weh hinein. Wie lange er durch den Wald getappt ist und wie lange nicht, kann ich nicht wissen, eins weiß ich aber, daß er eines Tages an den Eingang einer Höhle gelangte. Die Höhle war hundert und tausendmal dunkler als der tiefe Wald; so wie Nachts, wenn man die Augen zudrückt, nämlich so dunkel, wie es in endlosen Höhlen zu sein pflegt. Der Alte bekreuzte sich noch drei Mal, fiel einige Male auf die Kniee nieder und bog dann mit Gottes Hülfe bei einem Felsenvorsprung ein. Er ging ungefähr einen Schuß weit, als er auch ein Licht in einer Einhöhlung sah. Er näherte sich und näherte sich, und glaubte seinen Augen nicht, als er das sah, was dort am Licht stand. Ein alter Einsiedler! Ganz alt war er, so alt wie der liebe Gott. Und hatte einen weißen Bart, der bis zu den Knieen reichte, und seine Augenbrauen, wenn er sie zitternd gegen das Licht hob und wieder herunterließ, beschatteten die ganze Höhle.
So stand der Einsiedler wie eine Steinsäule, die Augen in ein Psalmenbuch gebohrt, auf das er die Ellbogen stützte, und das mit großen, rothen Zeichen besprenkelt war, alt,[120] alt war es, Gott der Herr allein weiß, aus welcher Zeit es stammte; und auf einem breiten Stein leuchtete mit rother Flamme und blauem Rauch, dick wie ein Gewölk, eine gelbe Wachskerze. Als er sich dem betenden Heiligen näherte, immer wieder in die Kniee fallend, sprach der Greis:
»Guten Abend, heiliger Vater!«
Der Einsiedler war so vertieft in seine Litanei, daß er nichts hörte. Darauf rief unser Alter noch lauter. Der Einsiedler rührte sich nicht, sondern machte mit der Krücke nur ein Zeichen, daß er zur Seite treten sollte. So blieb der Alte abseits stehen, bis der Einsiedler sein Gebet vollendet. Als er damit zu Ende war, hob er seine Augenbrauen in die Höhe und sprach:
»Mein Sohn, was suchst Du hier bei mir in dieser öden und dunklen Behausung? Seit so vielen Jahrhunderten von Zeiten sahen meine Augen kein menschliches Gesicht und jetzt befängt mich Verwunderung, was Deine Schritte hierher hat lenken können.«
Der Greis erwiderte:
»Ich küsse Eure Rechte. Nun, mein Elend hat mich hierher geführt. So viele Jahre lebe ich schon mit meiner Frau, und sie hat mir kein Kind geschenkt, und ich möchte, daß nach mir ein Sproß zurückbliebe, so wie ich das verklärte Antlitz des Herrn zu sehen wünsche.«
Darauf nahm der Einsiedler einen Apfel, und nachdem er ihn geheiligt und gesegnet, schnitt er ihn in zwei Theile und sagte:
»Nimm diese beiden Hälften des Apfels; diese gieb der Alten, und diese sollst Du essen, und geh mit Gott und irre nicht mehr so in der Welt umher.«[121]
Der Greis nahm das gesegnete Geschenk, küßte die Rechte und die Füße des Einsiedlers und ging aus der Höhle. Und er schlug die Richtung durch den dichten Wald ein und gelangte nach langem Wandern auf die Wiesenflur. Dort überfiel ihn auf der Ebene ein furchtbarer Durst und ein Brennen in der Kehle. Was sollte er machen, da er kein Wasser fand? Er that also, was ihm zu thun bestimmt war. Er nahm den einen halben Apfel und aß ihn. Aber, anstatt die Hälfte zu essen, die ihm bestimmt war, aß er diejenige der Alten. Und er hatte sie noch nicht ordentlich verschluckt, als er nicht weiter gehen konnte. So ließ er sich auf das Gras nieder, wo eine Menge gelbes Labkraut wuchs, und schlief wie todt ein. Und der Engel des Herrn stieg aus dem Himmel herab und stellte sich neben ihn als Wache. Als er zu sich kam und erwachte, was erblickte er mit offenen Augen? Das Wunder der Wunder. Das Unerhörteste des Unerhörten. Neben ihm weinte in dem Labkraut ein kleines Kindchen und bewegte seine kleinen Händchen! Der Engel des Herrn holte Basilikumkraut und seit neun Jahren geweihtes Wasser, benetzte das Mädchen und taufte es, indem er ihm den Namen »Waldröschen« gab. Der Alte, so guter Dinge wie noch nie, da er ein so wunderniedliches Mädchen sah, nahm sie in den Arm, küßte ihr Gesicht und machte sich mit ihr auf den Weg zu seiner Alten. Als er an die Erdhütte kam, nahm er eine Backmulde, legte das Mädchen in dieselbe und stellte sie oben auf die Erdhütte drauf, dann kroch er in's Haus mit den Worten im Munde:
»Komm schnell, Alte, schnell, damit Du schaust und doch nicht glaubst, was für einen Schatz von Tochter mir der Herr gegeben hat, mit Goldhaaren und Sternenaugen!«[122]
Als sie herauseilten, um den Schatz von einem Mädchen zu sehen und die Mulde von der Erdhütte nahmen, sahen sie nichts, keine Spur von einem Mädchen nirgends. Der Alte bekreuzigte sich und seufzte von Herzen. Er suchte dort und suchte hier, links, rechts, das Mädchen war und war nicht zu finden. Er suchte noch im Stroh der Hütte, auf der Erde, hinter dem Hause, ob sie nicht vielleicht heruntergefallen sei; wenn sie aber nicht da ist, ist sie nicht da und ist die Sache zu Ende, denn aus der Erde stampfen kann man sie nicht.
Du, mein Gott, was quälte sich der Alte, und rang die Hände vor Verzweiflung. Aber wie sollte er sich über so etwas auch nicht entsetzen! Denn er hatte sie doch in die Mulde gethan und hatte sie gesehen, als er sie hineingelegt, und wußte doch genau, wo er sie gelassen hatte, und nach einem Augenblick sie nun nicht zu finden, das war doch zu arg!
»Was kann dem Kindchen geschehen sein! Hat der Engel des Herrn sie genommen? Haben die Elfen und die bösen Gnomen sie fortgestohlen? Was um Gott und aller Welt willen könnte denn sein!« sagte die Alte seufzend. Daß Jemand sie genommen hatte, war klar! Aber weder Engel noch Elfen, noch böse Geister verkehrten in der Gegend. Sondern hört nur, guten Leute, das Unglaubliche: Ein Geier oder ein Riesengreif, was es nun gewesen sein mag, aber wir wollen ein Riesengreif sagen, kam da vorbei und hörte das Weinen des Kindes; da ließ er sich schnell auf die Erdhütte nieder, ergriff die Kleine, steckte sie unter seinen rechten Flügel und schwang sich mit ihr in den Himmelsraum. Er brachte sie in seinen Horst, um seine Kinder mit ihr zu füttern. Als[123] er sie in's Nest gesetzt, flog der Greif wieder davon. Die Jungen aber schauten mitleidig und liebevoll auf die Kleine, und anstatt sie zu essen, fingen sie an, ihr weiche Brotkrümchen aufzuheben, machten ihr ein Lager und bedeckten sie mit ihren Flügeln, damit die Morgenkühle sie nicht erreiche.
Jetzt muß ich Euch erzählen, daß in jenem schrecklichen Walde, in einem Brunnen mit lauter Giftwasser, ein Lindwurm mit zwölf Köpfen lebte, und dieser Brunnen war nicht fern von dem Baum, auf dessen Wipfel das Nest der Greife ruhte. Dieser schreckliche Lindwurm ließ die kleinen Greife nie groß und kräftig auswachsen, sondern jedesmal wenn der Greif Junge bekommen hatte, und diese so ungefähr flügge werden sollten, streckte er zwei Feuerköpfe aus und endete ihre jungen Lebenstage, sodaß der arme, bedauerliche Greif, seitdem er sich am Leben kannte, noch nicht dazu hatte gelangen können, auch nur eins seiner Jungen ausfliegen zu sehen. Da also jetzt die Jungen groß geworden waren und das Tageslicht erwarteten, um in den weiten Hochwald und die Bergwelt zu fliegen, siehe, da läßt sich um Mitternacht so ein Rauschen im Wasser des Brunnens hören, und was läßt sich blicken beim Glanz des Mondes, der durch die Zweige der Bäume schimmert? Zwei rothe Feuerköpfe, die sich dem Nest zuwenden und ein Heulen und Gebrüll anstimmen, daß die Berge in ihrem Grunde erzittern, und die Thäler wie Mulden, die man wiegt, hin und her wanken. Plötzlich, wie man mit den Augen blinkt, erschüttern und erzittern die Gefüge des Himmels und der Erde und in einer Goldwolke erscheint der Erzengel mit dem Schwert in der Hand und zuckt wie ein Blitz hernieder; und gerade wie der Lindwurm die jungen Greife packen will, zuckt der Engel das Schwert[124] von Osten nach Westen und wiederum von Westen nach Osten, und mit göttlichen Streichen scheert er die zwei Köpfe herunter, als ob man einen Löffel Wasser trinkt. Darauf kamen zwei noch furchtbarere zum Vorschein, auch sie wurden zu Stücken zerhauen. Wiederum kamen zwei hervor, auch sie sahen ihr Ende. Und so fort mit den zwölf Köpfen. Und der Wald und das Thal wurden ein Morast von geronnenem Blut und Gift; und die Köpfe stießen sich an dem Baum, der das Nest trug, so daß die Blätter von den Zweigen fielen, zehn Meilen im Umkreis. Darauf nahm der Engel Basilikumkraut, und mit Wasser, das im Paradiese vor neun Jahren geweiht worden war, besprengte er die vier Gegenden der Welt, und die Blutlachen zogen sich alle auf einen Fleck zusammen und die Köpfe verloren die Besinnung, und die Erde öffnete sich und verschluckte sie und alles Blut, so daß der Wald wieder sauber und hell wurde, wie der liebe Gott ihn uns hat werden lassen.
Als der Greif mit dem Morgengrauen zugleich erschien und seine Jungen heil im Nest schlafen, den verfluchten Brunnen aber vom Erdboden verschwunden fand, stieß er einen Schrei der Freude aus, so daß die Erde auf neun Meilen erzitterte und erbebte.
Darauf weckte er seine Jungen und fragte:
»Sagt mir schnell, Ihr Herzchen, wer hat mir diese große Wohlthat erweisen können?«
Die Jungen schüttelten den Kopf und sagten: »Wir wissen nichts, denn wir haben die ganze Nacht süß geschlafen!«
Als der Greif sich darauf umsah, fiel sein Blick auf das Mädchen, deren Goldhaar und Sternenaugen in der[125] Morgendämmerung glänzten wie die Fackeln des Paradieses in der Sonne, und ihm fuhr durch den Sinn, daß nur dieses schöne Licht von einem Mädchen ihm die unsägliche Wohlthat hätte erweisen können.
»Kinder«, sprach der Greif mit ärgerlicher Stimme, »Ihr habt das Mädchen nicht verspeist, was soll das heißen?« Die Jungen schwiegen mäuschenstill, der Greif aber ging hin und verschluckte das schöne Waldröschen, als sie aber wieder zum Vorschein kam, war sie siebenmal schöner als vorher.
Jetzt ging der Greif an ein großes Werk: einen ganzen Tag lang schleppte er von den Waldwiesen Blumen und weiches, grünes Moos herbei und machte dem Mädchen ein Schlafkämmerlein zurecht, wie ein Feennest, und das Kämmerlein schwankte hin und her wie eine Wiege, wenn der Wind wehte. Von jetzt ab war Waldröschen ihm so lieb wie seine Kinder, nein, wie die Augen im Kopfe, und er pflegte sie und fütterte sie mit dem Besten, was so ein Greif finden konnte.
Und das Waldröschen mit dem goldnen Haar begann zu wachsen und zu erblühen wie eine stolze Lilie. Morgens küßte und erweckte sie das fröhliche Morgenroth, um Mittag fächelten sie die Schatten der buschigen Zweige, und Abends wiegten sie die weichen Lüfte des leichten Windes und die Lieder, die von weither aus den Hörnern der Hirten durch den Wald drangen.
So wuchs sie schön heran, bis sie aufrecht stehen konnte, als eines Tages, wie der Abendstern sich in dem Rosenlicht der hinter den Bergen verschwundenen Sonne badete, der Herrgott geschehen ließ, was vorher bestimmt war zu[126] geschehen, und was sich noch nicht ereignet hatte, seitdem diese Welt geschaffen und die Sonne ihren Lauf am Himmelszelt begonnen. Es geschah nämlich also, daß das Waldröschen aufstand und aus dem Schlafkämmerlein trat und zum ersten Mal in die Welt schaute. Als aber der Abendhimmel sie erblickte, erzitterten augenblicklich die Lüfte und schwankten die Sterne, die im Aufgehen waren, und wie aus einem Feuermeer erstand mit Pracht und ungesehener Herrlichkeit eine andere Sonne an der Grenze des Ostens, schöner und hundert Mal goldiger als die hinter den Bergen verschwundene Sonne. Und die Wälder, Tiefen und Thäler schauerten, und die Blumen flüsterten süß unter einander und wandten die Köpfchen den neuen belebenden Lichtwellen zu. Und nun schau mal an und glaub' doch nicht dran: die Blumen des Waldes bemühten sich, des Mädchens Blicke aufzusaugen, und die Bäume ringsumher senkten die Wipfel, um sich an Waldröschens Schönheit zu erfreuen. Kurzum, die ganze Schöpfung Gottes, die Vögel unter dem Himmel wie die Thiere im Hochwalde jubelten und sprangen vor Freude über das göttliche Wunder.
Nach diesem Abend hellen Freudenfestes vergingen zwei mal drei Tage, dann drei mal drei, schließlich vergingen noch einige, und Waldröschen war vierzehn Jahre alt.
Als sie vierzehn Jahre alt war, war Waldröschen schön ... aber so schön, daß mir bange ist, sie zu preisen und zu sagen, wie und warum sie schön war; mir ist nämlich bange, Ihr sagt nachher, daß Ihr etwas so Schönes, wie ich beschreibe, schon gesehen habt. Aber sie war einzig, so weit das Reich der Sonne geht. Wie hätte sie auch nicht schön sein sollen, hatte doch kein menschliches Wesen sie noch erblickt[127] und sie von Kaiserreichen und Städten noch keine Ahnung; nur mit Blumen schwesterlich lebte sie, tanzend mit Schmetterlingen webte sie, eingelullt von Baches Klang, mit Vögeln um die Wette sang. Jetzt verzeiht mir, meine Lieben, daß ich zuerst sagte, ich würde nichts sagen und nachher doch zwei Worte zu Waldröschens Lob und Preis gesagt habe. Wer kann es aber lassen, vom Waldröschen zu reden, wenn er sie gesehen hat?
So verging der Tag wie die Stunde, und die Stunde wie die Minute, bis eines Tages, den der Herr gab, eine große Jagd in diesen schönen Wäldern stattfand.
Auf die Jagd ging auch der Kaisersohn.
Nun, augenscheinlich hatte es so sein sollen. Nämlich daß der Kaisersohn zu guter oder zu böser Stunde – ich weiß nicht, welches von Beiden ich sagen soll – ein Wild in das Gebüsch springen sah, und schnell, schnell, schnell ihm nach eilte, bis sich der junge Held da befand, wo er nicht einmal im Traum gewesen war: gerade in der Tiefe des dichten Waldes, der noch nie von einem menschlichen Fuß berührt worden war.
Als der Kaisersohn sich dort sah, stand er still und lauschte, um in der Einsamkeit etwas zu hören, ein Anschlagen der Hunde, irgend ein Jagdhorn, einen Gewehrknall oder so etwas, was dem Jüngling hätte gefallen können. Aber vergebens lauschte er, nur das verschwiegene Schweigen und die stumme Einsamkeit umgaben ihn. Nach einer Weile, als er mit den Augen rund um sich geschaut, schimmerte ihm durch die Blätter der Bäume ein blendender Strahlenglanz entgegen. Er warf den Blick noch einmal dorthin und fühlte, daß wirklich war, was da war. Eins,[128] zwei drei war er dort, um zu sehen, was es sei. Und er fand ... fand den Baum mit dem Kämmerlein und den jungen Greifen, die ihn anschauten. Was er auch dachte oder nicht dachte – kurz, er spannte den Bogen an, und jetzt, gleich, gleich hätte er den Pfeil und die Köpfe der Jungen abgeschossen, als plötzlich wie ein Blitz ein Lichtstrahl ihm das Gesicht blendet, so daß der Bogen ihm entfällt und er die Augen mit den Händen bedeckt. Als er noch einmal hinschaute, erblickte er für einen halben Augenblick das Gesicht und die Gestalt des Waldröschens, und ihm war zu Sinn, als sei er im Jenseits und müsse ohnmächtig werden und in's Gras fallen. Als er zu sich kam, rief er dem Mädchen zu, es möge herabsteigen. Aber wie würde Waldröschen so etwas thun! Sie stieg wahrhaftig nicht zu einem Jüngling hinab, sondern saß schön ruhig bei ihrer Mama zu Hause!
Als der Kaisersohn das sah, kehrte er heim, wie er gekommen. Doch nein, nicht wie er gekommen, kehrte er heim, denn seufzend und mit dem Herzen voll Sehnsucht und heißer Liebe war er nicht gekommen. Und durch das Gestrüpp, ohne eine Spur von Pfad und Lichtung war er auch nicht gekommen. Aber jetzt machte er doch überall Purzelbäume, wo er auch ging, als ob er keine Augen hätte. Wie er aber auch zurückgekehrt war, zurückgekehrt war er doch und gerade zur Zeit, als der Ochsenhirte seine Ochsen von der Weide in's Dorf hinein trieb, und da begegnete er zum Glück zwei Jagdgefährten.
Am nächsten Tage in der Frühe zogen vom kaiserlichen Hofe Herolde aus in's ganze Land, welche verkündigten, wer sich anheischig mache, ein Wunder von Mädchen aus dem Walde des Brunnens mit den zwei Bäumen zu holen, den[129] würde der Kaiser bis zum Tode als seinen Rath halten und der ganze Hof würde ihn ehren. Sieh da: ein altes, lahmes Weib, mit einem Buckel auf dem Rücken und so viel Haaren auf dem Kopf wie – auf der flachen Hand: »Ich bin die, welche das Mädchen aus dem Walde des Brunnens mit den zwei Bäumen bringen kann.« Die Herolde sahen das alte Weib an und brachen in ein Gelächter aus.
»Bist Du aus dem Höllenreich, Du Vogelscheuche von Weib?« sagte ein Herold. »Wer in der Waldhexe Namen hat Dich uns in den Weg gebracht, denn jetzt muß es uns schlecht gehen. Scher Dich aus unsern Augen fort.«
Die Alte aber blieb dabei, daß sie das Mädchen aus dem Walde bringen könne. Und sie hielt sich an die Herolde, wie die Klette an die Schafe.
Darauf sagte der Aelteste unter den Herolden: »Helden, nehmt sie mit, denn der Kaiser hat klar genug gesagt, wer sich rühmt, seinen Befehl ausführen zu können, den sollen wir an den Hof bringen, sei es, wer es auch sei; nehmt die Alte und setzt sie in den Wagen.«
Und sie nahmen die alte Frau und vorwärts mit ihr zu Hofe.
»Du hast Dich gerühmt, daß Du das Mädchen aus dem Walde bringen könntest?« sprach der Kaiser vom Kaiserthron herab.
»Du sollst leben, Majestät. Ja, ich mache mich anheischig.«
»So mach' Dich an's Werk!«
»Das laß der Alten ihre Sorge sein, aber gieb mir einen Kessel und einen Dreifuß.« Und man gab ihr schnell einen Kessel und einen Dreifuß, und so machte sich die Alte auf den Weg, hinter dem Jagdtroß des Kaisers immer mit dem Munde plappernd und dem Kessel klappernd, wie es die[130] Zigeuner thun, wenn sie die Braut zur Hochzeit abholen. Auch der Kaisersohn war nicht zu Hause geblieben. Als ob er hätte zurückbleiben können und das wie und warum nicht erfahren! Als der Troß im Walde anlangte, machten die Jäger und der Kaisersohn Halt, und die Alte ging allein wie die Waldhexe weiter.
Unter dem Baum, auf dem das Mädchen war, zündete die gewiegte und gewitzigte Alte Feuer an, stellte den Dreifuß hin und den Kessel drauf. Der Kessel stand aber schief und fiel um, so oft sie ihn hinstellte. Waldröschen aber, die von der Oeffnung des Schlafzimmers aus herunterschaute und die Dummheit der Alten sah, verlor die Geduld und rief:
»Nicht so, Alte, stell' den Dreifuß anders.«
»Wenn ich mich aber nicht drauf verstehe, mein Herzenskind!«
Und vergebens stellte die Alte ihn auf, wandte ihn um und rückte daran zurecht, der Kessel wollte und wollte nicht stehen. Waldröschen wurde immer mehr von seiner Ungeduld und seinem Aerger beherrscht.
»Habe ich Dir nicht schon einmal gesagt, daß es so nicht geht? Drehe den Kessel mit dem Henkel zum Baumstamm!«
Die Alte that es verkehrt. Drauf sagte sie: »Komm herunter, liebes Kind, und zeig mir's!«
Und Waldröschen, in den einen Gedanken verrannt, klettert eins zwei drei vom Baum, um die Alte zu belehren. Aber die Alte hat sie gelehrt, so daß sie keine weiteren Lehren bedurfte! Sie nahm sie beim Arm, hob sie auf ihre Schulter und rannte mit ihr zu dem verliebten Kaisersohn. Als der Kaisersohn sie sah, kam er ihr entgegen, bat sie um ihr Leben und küßte sie mit Beben. Dann legte man ihr[131] prächtige Kleider an, in Gold gewirkt und mit Perlen durchzogen, von neun jungfräulichen Königstöchtern gearbeitet.
Darauf setzte man sie in den kaiserlichen Wagen, und bis nach Hause holten die Pferde nur einmal Athem, denn sie hatten ihres Gleichen höchstens unter den Sonnenpferden. Und dort hob sie der Kaisersohn heraus, trug sie in's Haus, setzt sie an den Tisch geschwind, wie ein wahres Königkind. Und die Eltern des Jünglings, die armen Alten schauten sie mit Freuden an und gedachten ihrer Jugend. Nach acht Tagen aber wurde eine glänzende Hochzeit hergerichtet, die drei Tage und drei Nächte gedauert hat, darauf war ein Tag Ruhe und dann wiederum drei Tage und drei Nächte in Herrlichkeit und Freude.
Auch ich war dabei, da ich aber auf einem Fuße lahm bin, langte ich an, als die Hochzeit schon vorüber, und fand mit großer Mühe nur noch klare Brühe, suchte vergebens drin herum, fand von Fleisch nicht eine Krum, schlürfte dann aus einem Sieb, stell' Dir vor, wie viel mir blieb, und wie ich die Zeit vertrieb!
Buchempfehlung
Zwei weise Athener sind die Streitsucht in ihrer Stadt leid und wollen sich von einem Wiedehopf den Weg in die Emigration zu einem friedlichen Ort weisen lassen, doch keiner der Vorschläge findet ihr Gefallen. So entsteht die Idee eines Vogelstaates zwischen der Menschenwelt und dem Reich der Götter. Uraufgeführt während der Dionysien des Jahres 414 v. Chr. gelten »Die Vögel« aufgrund ihrer Geschlossenheit und der konsequenten Konzentration auf das Motiv der Suche nach einer besseren als dieser Welt als das kompositorisch herausragende Werk des attischen Komikers. »Eulen nach Athen tragen« und »Wolkenkuckucksheim« sind heute noch geläufige Redewendungen aus Aristophanes' Vögeln.
78 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro