122. Der Engel

[522] Es war einmal ein kleines Mädchen, das hatte auf der ganzen Welt niemanden außer einer bösen Stiefmutter, und das war schlechter, als wenn es gar niemanden gehabt hätte. An einem Sonntag ging sie in die Kirche, befahl aber dem Kinde, es solle, bis sie heimkomme, den großen Garten putzen. Es ging in den Garten, setzte sich nieder und weinte, denn es wußte nicht, wie es in der kurzen Zeit fertig werden sollte, und fürchtete sich vor den Schlägen. Da kam ein Engel, brachte ihm zwei Äpfel und Brot und sagte, es möge nur sitzen bleiben und essen. Nun fing der Engel fleißig an zu putzen: bis das Kind gegessen hatte, war auch der Garten fertig, und der Engel flog fort. Als die Stiefmutter aus der Kirche kam, verwunderte sie sich.

Am nächsten Tage gab sie ihm Milch und Brot zu essen, da kam der Engel wieder, verbot ihr, die Milch zu essen, denn sie war vergiftet, und brachte ihr Brot und eine Traube. Am andern Abend machte die Stiefmutter ein schönes Bett unter dem Schopfen, darunter grub sie ein tiefes Loch, damit das Mädchen, wenn es ins Bett steige,[522] hineinfalle, denn sie wollte es umbringen und wußte nicht mehr, auf welche Weise, denn im Garten hatte es sich nicht zu Tode gearbeitet, von der vergifteten Milch war es auch nicht gestorben. Als es sich grade entkleiden sollte, kam der Engel wieder und sprach: »Komm mit mir, mein Kind, hier ist deines Bleibens nicht mehr. Ich trage dich in den Himmel, da sollst du mit den Englein spielen, und es wird dir gut gehen.« Er nahm es unter seine Flügel und flog mit ihm fort.


Maria Georgi, Alzen

Quelle:
Schullerus, Pauline: Rumänische Volksmärchen aus dem mittleren Harbachtal. Bukarest: Kriterion 1977, S. 522-523.
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