1294. Schlange und Eidechse.

[181] a) Ein müder Waldarbeiter legte sich auf der blanken Erde zur Ruhe nieder und schlief ein. Da kam eine Schlange herangeschlichen, trug ein Laubblatt im Maul, legte es dem Schläfer auf das Herz und kletterte dann eine Tanne hinan, um von da aus auf den Menschen hinunterzuschiessen und ihn zu töten. Das ersah ein flinkes Eidechslein; eiligst kroch es herbei, nahm das Laubblättchen und legte es auf einen[181] Stein neben den Schläfer. Die Schlange schoss jetzt auf das Blättchen los und zerschmetterte ihren Kopf am harten Stein.


Fr. Hartmann, 80 Jahre alt, Seedorf.


»Das het mä scho meh g'heert, äs Heidoxli heig einisch ammänä Mansch ds Läbä grettet.«

b) Nach einer Erzählart im Maderanertal war es ein Buchenblatt, und die Schlange erhob sich in die Lüfte und wollte aus der Luft auf den Schlafenden herabschiessen.


Paulina Tresch, 24 Jahre alt.


c) Mein Vater hat erzählt, die Schlange habe ein welkes Laubblatt dem Schläfer auf das Herz gestellt. Da kroch zufällig ein Eidechslein über den Mann, fällte das Blatt und schob es mit sich fort. Darüber erwachte er und war gerettet.


Maria Ziegler, 60 Jahre alt, Bauen.


d) Nach einer Erzählart aus dem Reusstal legte die Schlange ein Kräutlein auf das Herz des Schläfers. Der Gerettete suchte später oft ein solches Kräutlein, fand aber nie eines.


Heinrich Gamma, Gurtnellen.


e) Es war ein Blättchen von einer Mattätättsche (Plantago maior), das vom Eidechslein auf eine Reusskugel gelegt wurde.


Jos. Gamma, 30 Jahre alt, Gurtnellen.


f) Die Schlange legte ein Efeu- oder auch ein Erdbeerblatt auf die Stirne des Schläfers, bäumte sich hoch auf und wollte auf das Blättchen losschiessen und den Menschen töten. Jetzt kam eilig ein flinkes Eidechslein und nahm das Blättchen weg. Da hatte die Schlange keine Gewalt mehr. »Däheimä hennt si ys eister g'seit: tiänd doch niä keim Heidoxli nytt z'leid, diä hennt scho mängem Mänsch ds Läbä g'rettet, sy sind äs Müettergottestiärli!«


Hans Exer, 80 Jahre alt, Seedorf, und a.


g) Ein müder Reisender legte sich unter einen Kirschbaum zur Ruhe und schlief ein. Bald kam ein Eidechslein daher und biss ihn in ein Ohr, worauf der Schläfer erwachte und im Schrecken einen gewaltigen Seitensprung tat. Wie er sich aber besann, sah er eine Schlange, die vom Baum herabschoss und ihren Grind an einem Stein zerschellte. Sie hatte es auf ihn abgesehen; das Eidechslein hat ihm das Leben gerettet. Zum Andenken sieht man noch heutzutage an jedem Blattstiel das Bild einer Schlange mit dem Kopf gegen das Blatt gerichtet. So habe ich es in meiner Jugend zu Schattdorf gehört erzählen.


Josef Maria Imholz, Handlanger, 56 Jahre alt.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 181-182.
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