1135. Die Hand, die aus dem Grabe wächst.

[70] Schon mehrere Abende hatte der brave Sigrist von Sisikon, wenn er zur Kirche ging, die Betglocke zu läuten, eine Kinderhand aus einem Grabe emporragen gesehen. Sorgsam schob er dieselbe jeweilen in die Erde zurück, aber am nächsten Abend war sie wieder emporgestreckt. Endlich setzte er besorgt den damaligen Ortspfarrer Imhof (gest. 1798, Pfarrer seit 1765), der im Rufe grosser Gelehrtheit und Frömmigkeit stand, in Kenntnis. Nachdem dieser die Eltern des Kindes in Erfahrung gebracht, liess er die Mutter zu sich berufen und teilte ihr alles mit. Diese wurde darüber sehr traurig, und da sie sich nicht zu helfen wusste, fragte sie den beliebten Seelsorger um guten Rat. Dieser fragte, ob sie nicht etwa das Kind straflos habe ausgehen lassen, wo es Strafe verdient hätte. »Ich erinnere mich nur, dass es einmal mit der Hand nach mir geschlagen hat; da es aber kaum über zwei Jahre alt war, liess ich den Fehler ungeahndet«, bekannte die Mutter. »So gehet nun«, belehrte sie der Geistliche, »nehmet eine Rute und schlaget damit einigemal die emporgestreckte Hand, dann wollen wir hoffen, dass das arme Kind im Grabe die ersehnte Ruhe finde.« Schweren Herzens ging die Mutter und handelte nach dem weisen Ratschlag des eifrigen Priesters. Von dieser Zeit an liess sich die Hand nicht mehr blicken.

Die gleiche Geschichte wird auch im Schächental erzählt, wo noch zu Menschengedenken das Grab des Kindes gezeigt worden. Die Mutter musste so lange auf die Hand schlagen, bis sich diese von selber in das Grab zurückzog. Es habe eine hübsche Anzahl Streiche erfordert.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 70.
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