Zwanzigste Geschichte
Was sich in Paris zwischen dem Domkapitel und den Minoriten zugetragen

[122] Der Graf Lucanor sagte einmal zu seinem Rate Patronius: Ich habe einen Freund, der gemeinschaftlich mit mir etwas unternehmen will, das uns beiden zu Ehre und Vorteil gereicht; nun könnt ich es zwar auch ohne ihn tun, allein ich traue mich nicht, bis er ankommt, und bitte Euch, ratet mir hierin nach der Einsicht, die Euch Gott verliehen hat.

Herr Graf, erwiderte Patronius, damit Ihr hierbei so handelt, wie es mir für Euch am vorteilhaftesten dünkt, wünschte ich, Ihr hörtet, was sich mit den Domherren und Minoriten zu Paris begeben hat. Was war das? fragte der Graf.

Das Domkapitel, sagte Patronius, behauptete, ihm, als dem Haupt der Kirche, käme es zu, zuerst zu[123] den Horen zu läuten; die Mönche dagegen sagten, sie müßten den Studien obliegen und Horen und Frühmetten abhalten, dürften also keine Zeit verlieren, überdies seien sie auch exemt, und sei es daher nicht abzusehen, weshalb sie auf irgend jemand warten sollten. Darüber nun entstand ein großer Streit, die Advokaten kosteten beiden Parteien einen Haufen Geld, und der Handel vor dem päpstlichen Gerichtshof nahm kein Ende. Nach langer Zeit endlich übergab ein neuer Papst einem Kardinal den Prozeß mit dem Befehl, ihn auf die eine oder die andere Art zu schlichten. Der Kardinal ließ sich die Akten vorlegen, und es war ein solcher Stoß, daß alle Welt sich darüber entsetzte. Nachdem er alle Verhandlungen beisammen hatte, setzte er den Parteien den andern Tag zum Termin an, um die Entscheidung zu vernehmen; als sie aber vor ihm erschienen, ließ er sämtliche Akten verbrennen und sagte: Freunde, der Prozeß hat lange genug gedauert und euch viel Ungelegenheit und Kosten gemacht, ich will euch nicht noch mehr machen, und mein Ausspruch ist: Wer zuerst kommt, der läutet zuerst.

Ist nun aber in Eurem Falle, Herr Graf, das Unternehmen beiden nützlich und Ihr könnt es allein ausführen, so rate ich Euch, es ohne Verzug abzumachen, denn aufgeschoben ist oft aufgehoben, und wenn man hernach auch wollte, so ist's vielleicht zu spät.[124]

Der Graf hielt sich damit für wohlberaten, handelte danach und fuhr wohl dabei. Don Juan aber, dem dieses Beispiel gut dünkte, ließ es in dieses Buch niederschreiben und machte folgenden Vers dazu:


Wo dir dein Glücksstern winkt,

Greif zu, bevor er sinkt!

Quelle:
Don Juan Manuel: Der Graf Lucanor. Übertragen von Joseph von Eichendorff. Leipzig: Insel, 1961, S. 122-125.
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