[1] 2. Die drei Brüder

[1] Es waren einmal drei Brüder, zwei kluge und ein dummer. In ihrem Garten stand ein Baum mit goldenen Äpfeln, und ein Eber kam oft und fraß von diesen Äpfeln. Da sandte der Vater seine Söhne auf die Wache. Der Älteste ging hin, saß und saß und wartete und wartete, doch er hielt es nicht aus und schlief ein. Dann kam aber der Eber, wühlte mächtig herum, fraß einen Apfel und lief wieder fort. Am Morgen stand der Vater auf und zählte die Äpfel, da fehlte einer. Der Vater schickte den zweiten Sohn aus. Der wartete und wartete und schlief ebenfalls ein. Der Eber kam, wühlte herum, fraß einen Apfel und lief wieder fort. Am Morgen stand der Vater auf und zählte die Äpfel, aber wieder fehlte einer. Da sagte der Dumme: »Laß mich jetzt gehen!« Der Vater aber rief: »Ach, Dummkopf, Dummkopf! Wozu willst du denn hin? Die klugen Brüder haben gewacht, aber den Eber nicht gefangen, wie wirst du's denn fertigbringen?« Der Dumme aber antwortete: »Oi, oi, oi! gebt mir nur eine Flinte!« Der Vater wollte sie ihm jedoch nicht geben, da nahm sie sich der Dumme selbst und ging, um zu wachen. Er brach stachliges Gesträuch ab, steckte es rund um sich herum in den Boden und wachte. Er saß dort lange Zeit, aber der Eber kam und kam nicht. Der Dumme nickte ein und beugte sich vornüber, doch als es ihn stach, richtete er sich wieder auf und saß da wie zuvor. Dann hörte er den Eber kommen. Und kaum hatte der mit dem Wühlen begonnen, da spannte der Dumme den Hahn und – bum! ging der Schuß los. Die Brüder hörten's und kamen hinzu. Sie sahen den Eber daliegen und sprachen: »Der soll jetzt aber unser sein!« [2] Und der älteste Bruder sagte zum jüngeren: »Wir wollen den Dummen totschlagen und in einer Grube verscharren und sagen, daß wir es waren, die den Eber getötet haben.« Da erschlugen sie den Dummen und scharrten ihn ein; den Eber aber luden sie auf, kamen zum Vater, weckten ihn und sprachen: »Wir saßen gerade beide auf der Schwelle, da kam der Eber, und wir haben ihn sofort getötet.«

Ein Gutsherr aber fuhr seines Weges und sah, daß auf einem Erdhügel ein wunderschöner Schneeballstrauch gewachsen war. Er stieg aus, ging hinzu und schnitt ihn ab. Dann machte er sich eine Flöte und spielte auf ihr. Sie spielte aber von selber und sang dazu:


»Spiel, Gutsherr, spiel auf mir,

Brich aber nicht das Herze mir!

Der Bruder hat mich erschlagen,

Der Bruder hat mich begraben,

Um des Ebers willen,

Der im Garten hat gegraben.«


Dann kam der Herr zur Dorfschenke, und dort war des Dummen Vater. Der Gutsherr sagte: »Ich fuhr und schnitt mir eine Flöte, und sie spielt von selber!« Der Vater nahm sie vor, und sie sang:


»Spiel, Vater, spiel auf mir,

Brich aber nicht das Herze mir!

Der Bruder hat mich erschlagen,

Der Bruder hat mich begraben,

Um des Ebers willen,

Der im Garten hat gegraben.«


Der Vater trug die Flöte heim und gab sie der Mutter, darauf zu blasen:


»Spiel, Mutter, spiel auf mir,

Brich aber nicht das Herze mir!

Der Bruder hat mich erschlagen,

Der Bruder hat mich begraben,

Um des Ebers willen,

Der im Garten hat gegraben.«


[3] Der Vater gab die Flöte den Brüdern zum Spielen, aber die Brüder wollten nicht. »Ihr müßt spielen!« befahl er ihnen. Da nahm der Jüngere die Flöte, und sie sang:


»Spiel, Bruder, spiel auf mir,

Brich aber nicht das Herze mir!

Der Bruder hat mich erschlagen,

Der Bruder hat mich begraben,

Um des Ebers willen,

Der im Garten hat gegraben.«


Der Vater gab sie dem Ältesten zu spielen, der den Dummen getötet hatte, aber er wollte nicht. Der Vater schrie ihn an: »Spielen sollst du!« Da nahm er die Flöte, und sie sang:


»Spiel, Bruder, spiel auf mir,

Brich aber nicht das Herze mir!

Du hast mich erschlagen,

Du hast mich begraben,

Um des Ebers willen,

Der im Garten hat gegraben.«


Da rief der Vater sogleich: »Führ uns dorthin, wo du ihn erschlagen hast!« Der Bruder konnte nicht anders, er führte sie hin. Sie gruben nach, hoben den Toten heraus und bestatteten ihn auf dem Friedhof. Den ältesten Bruder aber banden sie an einen Hengst, und der zerstampfte seine Knochen kurz und klein.


Auch ich war dort, trank Met und Wein,

Über den Bart floß es, doch kam nichts in den Mund hinein.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Russische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 1-4.
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