Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten zwei Kinder: einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter liebten sie, den Sohn aber nicht. Als der Hunger zu ihnen kam, da hatten sie kein Krümchen Brot mehr und kein Stäubchen Mehl. Was sollten sie nun beginnen?
[4] »Wir wollen unseren Sohn schlachten«, sagten sie, »er ist uns zu nichts nütze!« Da nahmen sie ihn und schlachteten ihn, doch das Fleisch stellten sie in die Vorratskammer, damit die Tochter es nicht sehen sollte.
Die beiden aber, Sohn und Tochter, hatten sich sehr lieb gehabt: das eine aß nie etwas ohne das andere und ging auch nirgends hin ohne das andere; immer, immer waren sie beisammen! Mit einem Wort, sie waren wie Bruder und Schwester. Als die Eltern den Bruder geschlachtet hatten, fragte die Tochter: »Vater, wo ist mein Brüderchen?« Der Alte antwortete: »Ach, es ist irgendwohin spielen gegangen.« Da wartete sie und wartete, aber es kam nicht; dann fragte sie die Mutter: »Mutter, Mutter! Wo ist denn mein Brüderchen, daß es so lange fortbleibt? Seit es fortging, ist es auch verschwunden!« – »Lauf ich denn hinter ihm her? Laß mich zufrieden!« antwortete die Mutter. Die Tochter aber merkte bereits etwas und war schon fast von Sinnen. Doch gegen Abend machte es sich so, daß der Alte und sein Weib für eine Weile fortgingen, da fing die Tochter sofort an zu suchen. Sie suchte lange, lange und guckte in alle Winkel. Als sie aber in die Vorratskammer hineinschaute – da fand sie ihn. Wie flossen ihr die Tränen über das Gesicht!
Am andern Tage wirtschaftete die Frau herum, kochte das Mittagessen und briet das Fleisch. Sie setzten sich zu Tisch, und die Alte rief: »Komm essen, Töchterchen!« Die Tochter aber sah sich vor und kam nicht. »Eßt ihr nur, ich bin nicht hungrig, ich mag nicht«, sagte sie. »So komm nur«, redeten ihr die Alten zu, »iß wenigstens ein Stückchen Fleisch.« – »Nein, ich will nicht!« Und so ging sie denn auch nicht hin zu ihnen. Als sie mit dem Mittagessen fertig waren, wusch die Tochter die Löffel ab; die Knochen aber sammelte sie auf, vergrub [5] sie unter dem Tisch und begoß sie mit Wasser. So tat sie es jeden Morgen und jeden Abend.
War es lang nachher oder nicht? – da flog eine Taube aus den Knochen hervor, und so schön war diese Taube! graublau mit dichtem Federkleid. Die Alte fragte: »Wie ist diese Taube zu uns gekommen? Sicherlich hat sie sich verflogen und ihren Schlag verlassen.« – »Vielleicht hat sie sich vor dem Habicht versteckt, Mutter!« sagte die Tochter, doch verriet sie nicht, was sie getan hatte. Als sich aber die Alten zum Mittagessen hinsetzten, flog die Taube auf die Kleiderstange und sang:
»Geschlachtet hat Väterchen
Die Seele mein!
Gebraten hat Mütterchen
Die Seele mein!
Schwesterchen war hilfsbereit,
Hat die Knöchelchen betreut;
Unterm Tisch begrub sie mich,
Früh und spät begoß sie mich,
Kukuru, Kukuru!«
Wie die Alten das hörten, überlief sie's ganz kalt, so daß sie kein Wort herausbrachten. Dann hatten sie fertig gegessen, wie sollten sie auch noch viel an das Mittagessen denken, und der Alte fragte: »Was sollen wir jetzt tun, Frau?« – »Nun, was denn? Wir müssen die Taube schlachten!« Die Tochter aber hatte sie belauscht, und als sich die Alten schlafen gelegt hatten, ließ sie die Taube frei.
Die Alte erwachte und wollte die Taube schlachten, da war sie aber nicht mehr dort. »Töchterchen, wo ist unsere Taube?« – »Ich weiß nicht, Mutter; sie war mitten unter den Hühnern.« – »Jetzt ist sie nicht mehr dort; vielleicht haben die Kinder irgendeines Lumpen sie gesehen und gestohlen.« Die Tochter aber verriet nicht, daß sie es getan hatte.
[6] Kaum hatten sich jedoch die Alten zum Mittagessen hingesetzt, da flatterte die Taube gegen die Scheibe, ließ sich am Fenster nieder und sang:
»Geschlachtet hat Väterchen
Die Seele mein!
Gebraten hat Mütterchen
Die Seele mein!
Schwesterchen war hilfsbereit,
Hat die Knöchelchen betreut;
Unterm Tisch begrub sie mich,
Früh und spät begoß sie mich,
Kukuru, Kukuru!«
Der Alte und sein Weib erschraken gewaltig! »Wie könnten wir wohl diese Taube fangen?« – »Mach eine Schlinge, Alter, dann wirst du den verdammten Vogel schon fangen!« sagte die Frau. Da fertigte er eine Schlinge an, streute Lockfutter drauf und legte sie aus. Die Taube aber ging immer nur um die Schlinge herum; fangen ließ sie sich nicht. Und immer, immer saß sie auf der Hütte; trieb man sie fort, so setzte sie sich später wieder hin. Wenn aber das Mittagessen kam, flog sie zum Fenster und fing an:
»Geschlachtet hat Väterchen
Die Seele mein!
Gebraten hat Mütterchen
Die Seele mein!
Schwesterchen war hilfsbereit,
Hat die Knöchelchen betreut;
Unterm Tisch begrub sie mich,
Früh und spät begoß sie mich,
Kukuru, Kukuru!«
Da wurden auch die Leute im Dorf aufmerksam: »Was ist das für eine Taube, die dort immer auf der Hütte sitzt?« Der Alte hatte schon mit Erdklumpen und Knüppeln nach ihr geworfen, aber kaum hatte er sie verjagt, so setzte sie sich wieder hin. Nun geschah es eines Tages, daß die Nachbarn auf der [7] Tenne draschen. Zur Mittagszeit aber hörten sie etwas singen:
»Geschlachtet hat Väterchen
Die Seele mein!
Gebraten hat Mütterchen
Die Seele mein!
Schwesterchen war hilfsbereit,
Hat die Knöchelchen betreut;
Unterm Tisch begrub sie mich,
Früh und spät begoß sie mich,
Kukuru, Kukuru!«
Die Drescher eilten hin, – da war es die Taube. Dann ging's zum Alten in die Hütte. Der war aber kaum noch lebendig; und nun gab es kein Ausweichen, er gestand es ein. Da packten sie ihn und banden ihn an einen Pferdeschweif und die Alte an einen andern, und fort damit ins Feld, dort wurden sie zu Tode geschleift. Die Tochter aber machte eine gute Heirat und lebte glücklich und zufrieden.
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