[8] 4. Das fliegende Schiff

Es waren einmal Mann und Frau, die hatten drei Söhne: zwei kluge und einen dummen. Die klugen, die verwöhnten sie, und die Mutter gab ihnen jede Woche ein reines Hemd, auf den Dummen aber schimpften alle und lachten über ihn, denn er lag auf dem Ofen in der Hirse in einem schwarzen Hemd und ohne Hosen. Gab man ihm was, so aß er; bekam er nichts, so hungerte er. Eines Tages kam die Botschaft zu ihnen, der Zar habe verkünden lassen, daß sich alle bei ihm zu einem Schmaus versammeln sollten; und wer ein Schiff bauen würde, das fliegen könne, und käme zu ihm her auf diesem Schiff, dem wolle der Zar seine Tochter zur Frau geben.

[8] Da berieten sich die klugen Brüder und meinten: »Wir müssen auch hin, vielleicht finden wir dort unser Glück!« Nachdem sie sich beraten hatten, baten sie Vater und Mutter: »Wir wollen zum Zaren gehn: wir verlieren ja nichts dabei, vielleicht ist uns dort das Glück beschert!« Der Vater bat sie dazubleiben, und die Mutter bat sie ebenfalls, aber nein! »Wir gehn, und damit ist's gut! Segnet uns für den Weg!« Die Alten konnten nichts machen, sie segneten sie, und die Mutter gab ihnen weißes Weizenbrot mit, briet ein Ferkel, gab ihnen eine Flasche Schnaps, und dann gingen sie los.

Der Dumme aber saß auf dem Ofen und fing ebenfalls an zu bitten: »Ich will auch dorthin, wohin die Brüder gegangen sind!« – »Was fällt dir ein, Dummkopf?« sagte die Mutter, »die Wölfe werden dich noch fressen!« – »Nein«, antwortete er, »sie werden mich schon nicht fressen: ich gehe hin!« Die Alten lachten ihn zuerst aus, dann fingen sie aber an zu schimpfen. Doch es half nichts! Was sie auch sagen mochten, sie konnten mit dem Dummen nichts anfangen, und schließlich sprachen sie: »Nun, so geh! aber daß du nie mehr zurückkehrst und nicht verrätst, daß du unser Sohn bist!« Die Alte gab ihm einen Sack, legte schwarzes, altgewordenes Brot hinein, gab ihm eine Flasche Wasser und begleitete ihn zum Haus hinaus. Und so ging er los.

Er wanderte und wanderte und traf unterwegs einen alten Mann. Ein grauhaariger Alter war's, der Bart aber war ganz weiß und reichte bis zum Gürtel! »Guten Tag, Großvater!« – »Guten Tag, mein Sohn!« – »Wohin gehst du, Alter?« – »Ich wandere durch die Welt und helfe den Menschen aus der Not. Und wohin gehst du?« – »Zum Zaren auf den Schmaus.« – »Verstehst du denn aber ein Schiff zu bauen, das von selbst fliegen kann?« fragte der Alte. »Nein, das versteh ich nicht.« – »Ja, warum gehst du dann hin?« – »Gott weiß, warum ich hingehe! [9] Ich verlier ja nichts dabei, aber vielleicht find ich dort irgendwo mein Glück.« – »Setz dich«, sagte der Alte, »ruh dich ein wenig aus, wir wollen nun etwas essen. Nimm heraus, was du da im Sack hast!« – »Ach, Großväterchen, da ist gar nichts drin! Nur so altes trockenes Brot, daß Ihr es nicht essen könnt.« – »Macht nichts, nimm's nur heraus!« Der Dumme zog es hervor, da war aber aus dem schwarzen Brot so schönes weißes Weizenbrot geworden, wie er es sein Lebtag nicht gegessen hatte; wirklich, wie bei den Herren war es! »Nun, wie steht's?« fragte der Alte, »sollen wir essen, ohne dazu eins zu trinken? Hast du nicht dort in deinem Sack etwas Schnaps?« – »Wie soll der wohl bei mir zu finden sein? Nur eine Flasche Wasser hab ich!« – »Nimm sie heraus!« Der Dummkopf tat es, versuchte – da war es richtiger Schnaps geworden! »Sieh mal an, wie Gott die Dummen beschenkt!« sagte der Alte.

Sie breiteten ihre Röcke auf dem Grase aus, setzten sich nieder und fingen an zu essen. Sie speisten fein, und der Alte dankte dem Dummkopf für das Brot und den Schnaps und sagte: »Jetzt hör zu, mein Sohn: geh in den Wald, stell dich an einen Baum, bekreuzige dich dreimal und schlag mit dem Beil an den Baum; dann fall schnell zu Boden und lieg still, bis dich jemand aufwecken wird; der wird dir auch das Schiff bauen, und du setz dich hinein und flieg, wohin du willst, unterwegs aber nimm auf, wem du begegnen wirst.« Der Dumme dankte dem Alten, und dann nahmen sie Abschied voneinander. Der Alte ging seines Weges, der Dummkopf aber wanderte dem Walde zu.

Er ging hinein, trat an einen Baum heran, hieb mit dem Beile zu, fiel zu Boden und schlief ein. Er schlief und schlief. Plötzlich, nach langer Zeit fühlte er, daß ihn jemand weckte: »Steh auf, dein Glück ist schon bereit, steh auf!« Der [10] Dumme erwachte; und wie er hinschaut, da steht schon das Schiff: ganz von Gold, die Maste aus Silber, die Segel aber von Seide, und sie blähten sich, als wollten sie schon in die Höh! Da bedachte er sich nicht lange und setzte sich in das Schiff, und das Schiff erhob sich und flog davon. Und wie es flog, so flog es auch weiter: niedriger als der Himmel, höher als die Erde, mit dem Auge hättest du's nicht erkennen können.

Und der Dumme flog und flog, plötzlich aber sah er: auf dem breiten Wege lag ein Mensch mit dem Ohr am Boden und horchte. Der Dummkopf rief ihn an: »Guten Tag, Onkelchen!« – »Guten Tag, mein Lieber!« – »Was machst du da?« – »Ich horche«, sagte er, »ob sich die Leute zum Schmaus beim Zaren schon versammelt haben.« – »Ja, willst du denn auch dorthin?« – »Jawohl!« – »Setz dich zu mir, ich bringe dich hin.« Er setzte sich hinzu, und sie flogen weiter.

Sie flogen und flogen, und plötzlich sahen sie: auf der Straße ging ein Mensch, der hatte ein Bein an das Ohr festgebunden, auf dem andern aber sprang er. »Guten Tag, Onkelchen!« – »Guten Tag, mein Lieber!« – »Warum hüpfst du auf einem Bein?« – »Darum«, sagte er, »weil ich mit einem Satz über die ganze Welt hinwegspringen würde, wenn ich das andere Bein losbinden würde. Und das will ich nicht.« – »Wohin gehst du denn?« – »Zum Zaren auf den Schmaus.« – »Setz dich zu uns.« – »Gut.« Und er setzte sich hinzu, und sie flogen wieder weiter.

Und sie flogen und flogen und sahen auf einmal: ein Schütze stand auf dem Wege und zielte mit dem Bogen, aber nirgends war ein Vogel oder sonst etwas zu sehen. Der Dumme rief ihm zu: »Guten Tag, Onkelchen! Worauf zielst du denn, wo doch kein Vogel zu sehen ist und nichts?« – »Wieso ist denn keiner zu sehen? Ihr könnt ihn bloß nicht sehen, [11] aber ich wohl!« – »Wo siehst du ihn denn?« – »Dort«, sagte er, »hundert Meilen von hier sitzt er auf einem dürren Birnbaum!« – »Komm mit uns!« Und er setzte sich hinzu, und sie flogen davon.

Sie flogen und flogen und sahen mit einemmal: ein Mensch ging seines Weges und trug auf dem Rücken einen Sack voll Brot. »Guten Tag, Onkelchen!« – »Guten Tag!« – »Wohin gehst du?« – »Ich gehe mir Brot zum Mittagessen holen«, antwortete er. »Aber du hast doch einen ganzen Sack voll Brot!« – »Was nützt mir das bißchen Brot! es langt nicht einmal für ein einziges Frühstück.« – »Setz dich zu uns!« – »Gut.« Und auch dieser Mensch setzte sich hinzu, und sie flogen weiter.

Sie flogen und flogen, plötzlich aber sahen sie: ein Mensch ging immerzu um einen See herum und schien etwas zu suchen. »Guten Tag, Onkelchen!« – »Guten Tag!« – »Warum gehst du dort herum?« – »Ich will trinken, finde aber kein Wasser.« – »Aber vor dir ist doch ein ganzer See, warum trinkst du nicht?« – »Ach, was nützt mir das bißchen Wasser! es langt nicht einmal für einen Schluck.« – »Dann setz dich zu uns!« – »Gut.« Er setzte sich hinzu, und sie flogen weiter.

Sie flogen und flogen und sahen auf einmal einen Menschen, der trug eine Garbe Stroh. »Guten Tag, Onkelchen! Wohin trägst du das Stroh?« – »Ins Dorf«, antwortete er. »Oho! gibt's denn im Dorf nicht Stroh genug?« – »Ach, das ist doch kein gewöhnliches Stroh!« – »Was für Stroh ist es denn?« – »Solches, daß, wenn es auch noch so heiß wäre und man streute dieses Stroh aus, so gäb es sogleich Frost und Schnee.« – »Setz dich zu uns!« Und er setzte sich hinzu, und sie flogen weiter.

Und sie flogen und flogen, auf einmal aber sahen sie: [12] ein Mensch ging in den Wald und trug ein Bündel Reisig auf den Schultern. »Guten Tag, Onkelchen! Wohin trägst du das Reisig?« – »In den Wald.« – »Oho! gibt's denn im Walde keines?« – »Wie sollt es keins geben! aber das ist kein solches Reisig.« – »Was für welches denn?« – »Dort ist gewöhnliches«, sagte er, »aber dieses ist so, daß, wenn du es auseinanderwirfst, sofort ein Heer vor dir steht.« – »Setz dich zu uns!« Und auch der war es zufrieden und setzte sich hinzu, und sie flogen weiter.

Ob sie nun lange flogen oder nicht, endlich langten sie zum Schmaus beim Zaren an. Dort aber waren mitten auf dem Hof gedeckte Tische aufgestellt, und Fässer mit Met und Schnaps waren herangerollt: iß und trink, liebe Seele, soviel du nur willst! Und Leute waren dort, das kennt man schon! Das halbe Reich war zusammengekommen: und Alte und Junge, und Herren, und Reiche und alte Bettler, wie auf einem Jahrmarkt! Da kam der Dumme mit seinen Gefährten im Schiff angeflogen und ließ sich vor den Fenstern des Zaren hinunter; und dann stiegen sie aus und gingen zum Mittagsmahl. Der Zar sah durchs Fenster, daß jemand in einem goldenen Schiff angelangt war. Er befahl einem Diener: »Geh und frag, wer dort im goldenen Schiff hergeflogen ist.« Der Diener ging hin, sah sie sich an, kam zum Zaren und meldete: »Irgendwelche zerlumpten Bauernkerle!« Der Zar glaubte es nicht. »Wie ist es denn möglich«, sagte er, »daß Bauern auf einem goldenen Schiff hergeflogen sind? Du hast wahrscheinlich nicht richtig nachgefragt.« Und er ging selbst zu den Leuten. »Wer ist auf diesem Schiff hergeflogen?« fragte er. Da trat der Dummkopf vor und sprach: »Ich bin es, Eure Majestät!« Der Zar aber wunderte sich, daß an seinem Rock Flicken auf Flicken saß und die Knie durch die Hosen guckten, und er fuhr sich an den Kopf: »Ist es denn möglich, daß ich mein liebes Kind diesem Bauernjungen zur Frau gebe?!« Was sollte er aber tun? Da stellte er ihm Aufgaben.

[13] »Geh hin«, sprach er zum Diener, »und sag ihm: wenn er auch im Schiff hergeflogen ist, aber nicht das Wasser des Lebens und das Wasser der Heilung herbeischafft, solange die Leute essen, geb ich ihm die Zarentochter nicht; und bringt er's nicht her, so schlag ich ihm mit dem Schwerte den Kopf von den Schultern!« Der Diener ging hin. Der Horcher aber hatte mit angehört, was der Zar gesagt hatte, und erzählte es dem Dummen. Der saß auf einer Bank, wie sie rund um die Tische herumgestellt waren, und fing an zu trauern, aß nichts und trank nichts. Der Läufer sah es und fragte: »Warum ißt du nichts?« – »Wie soll ich denn essen? es bleibt mir ja im Halse stecken.« Und er erzählte, so und so: »Der Zar hat mir aufgetragen, daß ich das Wasser des Lebens und der Heilung herbeischaffen müsse, während die Leute noch äßen. Wie soll ich das anfangen?« – »Gräm dich nicht! ich werd es dir bringen.«

Der Diener kam heran und brachte ihm des Zaren Befehl; er wußte aber schon längst, was und wie. »Melde, daß ich es bringen werde«, sagte er. Da ging der Diener zurück. Der Läufer aber band das Bein vom Ohr los, und wie er ausschritt, hatte er im Augenblick vom Wasser des Lebens und der Heilung geschöpft. Er war aber müde geworden und dachte bei sich: »Ich komme noch leicht während des Essens zurück, jetzt will ich mich unter die Mühle hier setzen und ein wenig Rast halten.« Er setzte sich, schlief aber ein. Die Leute endigten unterdessen schon ihr Mittagsmahl, doch der Läufer kam nicht. Der Dumme saß da halb tot, halb lebendig. »Ich bin verloren!« dachte er im stillen. Der Horcher aber legte sein Ohr an die Erde und fing an zu lauschen. Und er lauschte und lauschte und sprach dann zum Dummkopf: »Gräm dich nicht! Der Hundesohn schläft unter der Mühle!« Der Dumme aber fragte: [14] »Wie könnte man ihn aufwecken?« Da sagte der Schütze: »Fürchte dich nicht, ich werd ihn wecken!« Und wie er den Bogen spannte und abschoß, sauste der Pfeil in die Mühle, daß die Splitter flogen. Der Läufer erwachte und eilte hin: die Leute beendeten eben erst ihr Mittagessen, da hatte er aber das Wasser schon gebracht.

Was sollte der Zar nun machen? Er gab dem Dummen eine neue Aufgabe und sprach zum Diener: »Geh hin und sag ihm: wenn er mit seinen Gefährten auf einmal sechs Paar gebratene Ochsen und Brot aus vierzig Öfen aufißt, so geb ich ihm mein liebes Kind zur Frau; ißt er's nicht auf, so schlag ich ihm mit dem Schwerte den Kopf von den Schultern!« Der Horcher aber hatte das gehört und sagte es dem Dummen wieder. »Was soll ich jetzt tun? Ich kann nicht ein einziges Brot aufessen!« sprach der Dummkopf, ward wieder traurig und fing an zu weinen. Da sagte der Fresser: »Weine nicht! ich werde für euch alle essen, und es wird noch wenig für mich sein.« Der Diener kam hinzu und richtete aus: so und so. Und der Dumme antwortete: »Es ist gut, man soll nur auftragen!« Da brieten sie zwölf Ochsen und buken vierzig Öfen Brot; doch als der Fresser anfing zu essen, blieb nicht ein Krümchen übrig, und er bat noch dazu: »Ach, wie war das wenig! wenn sie mir doch noch ein bißchen geben wollten!«

Da sah der Zar, was der Dumme alles konnte, und gab ihm eine neue Aufgabe: vierzig Fässer Wasser zu vierzig Eimern sollten sie auf einen Zug austrinken und dazu noch vierzig Fässer Wein, »kann er das nicht, so schlag ich ihm mit dem Schwerte den Kopf von den Schultern!« Der Horcher hatte es mit angehört und erzählte es wieder, der Dumme aber weinte. »Weine nicht!« sprach der Säufer, »ich werd es allein austrinken, und es wird noch wenig für [15] mich sein.« Da rollten sie ihm vierzig Fässer zu vierzig Eimern mit Wasser und Wein heran; doch als der Säufer anfing zu trinken, blieb kein Tropfen übrig, und er spottete noch: »Ach, wie war das wenig! Wenn doch noch ein bißchen da wäre!«

Da sah jedoch der Zar, daß er mit dem Dummen nichts ausrichten konnte und dachte bei sich: »Man muß ihn, den Hurensohn, aus der Welt schaffen, sonst kriegt er noch mein liebes Kind in die Hände!« Und er schickte den Diener zum Dummkopf und sprach: »Geh hin und bestell, daß der Zar gesagt hat, ihr sollt vor der Hochzeit ins Bad gehn.« Und einem andern Diener trug er auf, daß man die Badstube so heiß wie glühendes Eisen machen solle: »Dort muß er, ob er will oder nicht, verbrennen!« Der Heizer feuerte so gewaltig, daß eine Glühhitze entstand: den Teufel selbst könnte man braten, meinte er. Dann sagte man es dem Dummen an. Und er ging in die Badstube, doch hinter ihm her kam der Frostmensch mit seinem Stroh. Kaum waren sie aber eingetreten, da gab's eine Hitze, nicht zum Aushalten! Der Frostmensch streute jedoch sein Stroh aus, und auf einmal ward es so kalt, daß der Dumme sich mit Mühe wusch und schnell auf den Ofen kroch; dort schlief er auch ein, denn er war gut durchfroren! In der Früh öffneten sie die Badstube und dachten, daß von ihm nur noch die Asche übriggeblieben sein würde; da lag er aber auf dem Ofen, und als sie ihn weckten, sagte er: »Ach, wie fest hab ich geschlafen!« und ging hinaus.

Sie meldeten dem Zaren, was geschehen war: »Und er schlief auf dem Ofen, und in der Badstube war es so kalt, als ob einen ganzen Winter lang nicht geheizt worden sei.« Der Zar ward sehr bekümmert: was sollte er mit ihm anfangen? Er dachte und dachte, und dachte immerzu ... »Na, wenn er mir bis morgen früh ein Regiment Soldaten verschafft, [16] so geb ich ihm meinetwegen die Tochter zur Frau, wenn nicht, so schlag ich ihm mit dem Schwerte den Kopf von den Schultern!« Er dachte aber bei sich: »Woher soll der einfache Bauer ein Regiment herbekommen? Selbst ich, als Zar, könnte es kaum!« Und er gab den Befehl. Der Horcher hatte es gehört und sagte es dem Dummen, und der saß wieder da und weinte: »Was in aller Welt soll ich nun tun? Von wo soll ich die Soldaten herbeischaffen?« Er ging auf das Schiff und sprach zu seinen Gefährten: »Rettet mich, Brüder! Ihr habt mir schon mehr als einmal aus der Gefahr geholfen, helft mir auch jetzt! Sonst bin ich verloren für diese Welt!« – »Weine nicht!« sagte der, welcher das Reisig trug, »ich werde dich schon retten.« Der Diener kam und meldete: »Der Zar hat gesagt, wenn du morgen früh ein ganzes Regiment Soldaten aufstellst, ist die Zarentochter dein!« – »Gut, ich werde es schaffen«, sagte der Dumme, »aber bestell dem Zaren: wenn er mir sie dann nicht gibt, so führ ich Krieg gegen ihn und nehme mir die Zarentochter mit Gewalt.«

In der Nacht führte der Gefährte den Dummen auf das Feld und hatte auch sein Bündel Reisig mitgenommen. Wie er anfing es auszustreuen: ward ein Mensch, was er hinwarf, ward ein Mensch, was er hinwarf, und solch ein Heer versammelte sich, daß es gar nicht zu zählen war! In der Früh erwachte der Zar und hörte: Musik spielt! Er fragte: »Wer spielt so früh am Tage?« – »Das ist der«, antworteten sie ihm, »der auf dem goldenen Schiff hergeflogen ist; und jetzt exerziert er mit seinem Heer.« Da sah der Zar wohl ein, daß für ihn nichts zu machen sei, und er befahl, den Dummen zu rufen.

Der Diener ging hin und bat ihn zum Zaren. Der Dummkopf aber hatte sich so sehr verändert, daß er nicht mehr zu erkennen war: sein Anzug schimmerte an ihm, der Dreimaster [17] war golden, und er selbst war schön geworden! nicht zu sagen wie sehr! Er führte sein Heer und ritt auf einem rabenschwarzen Roß an der Spitze, hinter ihm der Oberst. Er zog in den Palast ein und rief: »Halt!« Das Heer richtete sich aus, und ein Soldat war besser als der andere! Er ging in den Palast hinein, und der Zar umarmte und küßte ihn. »Setz dich, mein lieber Schwiegersohn!« Auch die Zarentochter kam aus ihren Gemächern und lachte froh, als sie sah, welch ein schöner Mann ihr bestimmt war! Sie wurden nun rasch getraut, und es gab ein Gastmahl, daß der Rauch bis zum Himmel stieg und in den Wolken hängen blieb; als ich aber von dem Gastmahl fortging und auf diese Wolken guckte, da fiel ich hin; und als ich gefallen war, stand ich hier mit einemmal; ihr aber batet um ein Märchen, nun hab ich euch eins erzählt, nicht zu lang und nicht zu kurz: so wie von mir bis zu euch. Würd euch gern noch mehr erzählen, aber ich weiß nichts weiter.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Russische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 8-18.
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