20. Ribike.

[214] Ein König hatte drei Söhne, und eine Witwe hatte eine Tochter, die hiess Ribike1. Und diese Ribike lebte von nichts anderm als von Johannisbeeren, und einstmals wurde sie krank. Als ihre Mutter ihr keine Johannisbeeren mehr kaufen konnte, ging sie hin zum Klostergarten, sprang in den Garten und holte einen Korb Johannisbeeren. Die Oberin sah sie, kam heraus. Sie sprach: »Was machst du, Frau?«

»Wahrlich,« antwortete sie, »nie im Leben habe ich gestohlen; doch jetzt hat mich die Not dazu gezwungen; denn ich habe eine so wunderschöne Tochter, dass man ihresgleichen nicht finden kann; aber wenn sie nicht Johannisbeeren isst, denn heute ass sie keine, wenn sie morgen keine isst, so stirbt sie.«

Da verzieh ihr die Oberin und ging mit ihr fort. Sie wollte nicht glauben, dass die arme Frau die Tochter habe.

»Nun, du arme Frau, gib deine Tochter zu mir! Hier kann sie sich an Johannisbeeren satt essen.«

Das Mädchen war dort, und damals war noch erlaubt, dass die Klosterfenster weit offen waren, und das Mädchen schaute hinaus. Die drei Königssöhne gingen dort vorbei. Der älteste begann, dass er nicht ruhen werde, bis diese seine Gemahlin sei, der mittelste, dass er nicht ruhen werde, bis sie die seine sei, der jüngste: »Ich erlaube es nicht.«

Die drei Brüder gerieten aneinander; die Vorübergehenden schützten sie. Die Oberin kam hinzu, Ribike sagte: »Die schlagen sich um mich.« Da erschrak die Oberin, dass sie Schelte von der Königin bekommen werde. Und gleich liess sie sie hineinrufen und strafte sie und schalt sie, und als sie heimging, sagte sie:[215]

»Ribike, deine Schönheit und deine Güte soll sich in eine Eidechse wandeln, deine Wohnung aber sei am Ende der Welt!«

Und alsogleich war sie in eine Eidechse verwandelt, und in ein paar Augenblicken war sie bis zum Ende der Welt gewandert.

Die Mutter der Prinzen starb; ihr Vater war sehr alt, und er konnte sich nicht entscheiden, wem er das Königreich geben sollte, denn er hatte alle drei gleich lieb. Da sprach er:

»Ihr wisst, meine Söhne, ihr seid eurer drei, und ist keiner trefflicher als der andere; drum gebe ich euch drei Aufgaben; wer sie vollbringen kann, der bekommt das Königreich.«

Da standen alle drei bereit, dass er nur die drei Wünsche nenne.

»Es ist genug an einem fürs erste, mein Sohn!«

Dann sagte er, er sollte ihm solche Wunderleinwand bringen, die hundert Ellen lang sei und hundert Ellen breit und dennoch durch seinen Ring hindurch gehe, wenn man sie zusammenfalte.

Da versicherten die Prinzen alle, dass sie es vollbringen würden. Sie nahmen viel Geld mit und gingen fort in die Stadt. Drei Wege fanden sie; zwei Wege waren schön, auf denen gingen die zwei ältesten; auf dem holprigsten ging der jüngste.

Die beiden ältesten fanden auch bald eine Stadt. Der jüngste wanderte, wurde müde und traf nicht einmal einen Vogel. Seine beiden Brüder kauften viel Leinwand ein; er jedoch wanderte nur. Einstmals kam er hin zum Ende der Welt; dort fand er eine Steinbrücke; dort sass er nieder; er grämte sich, was er nun wohl machen sollte, konnte er doch nicht einmal seines Vaters ersten Wunsch erfüllen. Auf einmal kam ein goldrückiges Eidechslein daher. Das war die Ribike; sogleich erkannte sie den Prinzen wieder, der sich um[216] sie geschlagen hatte. Da sprach sie gleich zu ihm also (zu jener Zeit konnten die Tiere noch sprechen):

»Mein Prinz, was grämt, was bekümmert dich?«

»Was fragst du, goldrückiges Eidechslein? Du kannst mir doch keinen Rat schaffen.«

»Sag es nur! Vielleicht kann ich es doch.«

Da erzählte er, sein Vater habe drei Söhne, und das sei sein Wunsch, wer von ihnen seine drei Wünsche erfüllen könne, der solle das Königreich erhalten. »Sein erster Wunsch war der, wir sollten ihm eine solche Wunderleinwand bringen, die hundert Ellen lang sei und hundert Ellen breit und dennoch durch seinen Ring hindurch gehe.«

Da entgegnete sie: »Wohlan, Prinz, bleib nur hier sitzen! In ein paar Augenblicken kann ich dir vielleicht schon aus der Not helfen.«

Sie ging zurück hinab zur Steinbrücke und ging zu den Spinnen; und sie war mit den Spinnen gut Freund, denn sie wusste ihnen schöne Märchen von der Erde zu erzählen; und da webten sie zehn Tage, zehn Nächte eine Leinwand, und die trug sie hinauf. Sie hatte Raum in seiner Tasche.

Seine zwei Brüder waren längst heimgekehrt; sie brachten die Leinwand zu Wagen; doch nicht eine war die rechte; lang war sie, aber sie war nicht breit, und ihr Vater konnte sie nicht durch seinen Ring ziehen.

Und er kam auch, zog sie aus seiner Tasche. »Die geht sehr leicht durch; doch ich weiss nicht, ob sie passt oder nicht.«

Sogleich liess er Techniker kommen; sie massen sie aus, und siehe, sie war genau nicht mehr und auch nicht weniger: hundert Ellen lang, hundert Ellen breit.

»Seht ihr, meine Söhne, der jüngste hat hier schon den Vogel abgeschossen; doch wer auch noch jene beiden Dinge vollbringen kann, des sei das König reich. Bringt mir solch ein Hündchen, in einer goldenen Nussschale habe es Raum,[217] doch wenn es herausspringt, schalle sein Quietschen siebenmal sieben Königreiche weit.«

Als der Jüngste am Ende der Welt anlangte, sprach er: »Goldrückiges Eidechslein, komm auf meinen Ruf herbei!«

Sie kam. »Diesmal« sprach er, »glaube ich, kannst du mein Gebot nicht erfüllen.«

»Sprich nur, vielleicht kann ich es doch.«

Dann sagte sie: »Bleib nur hier! Vielleicht kann ich helfen.«

Seine Brüder kehrten alle beide heim, dass sie solchen Hund nicht gefunden hätten. Jene aber stieg sogleich hinab zu dem kleinwinzigen Zwergmenschen, bat ihn, er möchte so gut sein und ihr solch kleinen Hund geben. Er übergab ihr seinen ersten Minister: das war ein solcher Hund. Sie tat ihn in die Nussschale und trug ihn hinauf. Sie sagte ihm:

»Stecke die in deine Tasche; doch öffne sie nicht unterwegs, sondern eil dich nur!«

So eilte er heimwärts.

»Na, mein Sohn, kommst du auch leer heim wie deine Brüder?«

In grosser Freude zog er den kleinen Hund hervor; er öffnete die goldene Nussschale, der kleine Hund sprang heraus. Er quiekte einmal, dass es sogleich durch siebenmal sieben Königreiche erscholl, was das für ein Gequiek sei. Dem König tat das Quieken so wohl, wie wenn man seinen Rücken mit Butter geschmiert hätte. Dann sagte der König freundlich:

»Na, meine Söhne, ihr seht, der Jüngste hat auch das vollbringen können. Wer aber nun das letzte vollbringt, der wird König. Jetzt ist mein drittes Begehren, wer die schönste Braut bringt.«

Da bestanden die beiden Brüder sogleich darauf, dass sie jetzt ihren Bruder übertrumpfen würden; denn sie kämen überall hin. Der härmte sich, dass das goldrückige Eidechslein die schöne Braut nicht unter der Erde hervorholen könne. Er[218] zog von dannen, war traurig, setzte sich nieder auf die Steinbrücke. Er sprach:

»Jetzt, glaube ich, kannst du mir in meiner Not nicht helfen.«

Sie sprach: »Was weisst du? Vielleicht kann ich es doch!«

Er sprach: »Diesmal ist meines Vaters Begehr, dass der von uns König werde, der die schönste Braut heimbringe.«

Da errötete das goldrückige Eidechslein: »Greif mich nur und wirf mich auf die Steinbrücke!«

»Das tue ich nicht, denn ich bin dir grössten Dank schuldig.«

»Ich sage dir, wirf mich nur dort auf die Steinbrücke.«

Da sah er, dass die Schlange traurig wurde. Er schloss die Augen und schleuderte sie so hin. Und siehe, da stand ein herrlich schönes Frauenbild. Sie war wieder ein Mädchen geworden. Sie sprach:

»Nun Prinz, kennst du mich?«

»Es kommt mir so vor, aber ich weiss nicht, ob du die bist.«

»Ich bin, die aus dem Klosterfenster schaute.«

»Nun, jetzt bin ich dein lebenslang bis in den Tod!«

Er wusste nicht, wie er sie herzen sollte; so führte er sie heim.

Seine Brüder waren heimgekehrt und hatten jeder eine Braut mitgebracht. Doch als jene zu Hause anlangte, setzte der alte König Kartoffeln im Garten, und die wurden alle zu goldenen Äpfeln. Und der [Jüngste] wurde König. »Na,« sagte der [Vater], »seid nicht böse darüber! Der da verdient das Königreich.«

Da wünschten ihm alle Gutes: Er lebe glücklich!

1

In einer andern Fassung dieses Märchens (Magy. Népk. Gy. IX. 460) wird vom Erzähler ausdrücklich hinzugefügt, das Mädchen wurde Ribike genannt, weil es so gern Johannisbeeren (ung. Ribiszke) ass.

Quelle:
Róna-Sklarek, Elisabet: Ungarische Volksmärchen. Neue Folge. Leipzig: Dieterich 1909, S. 214-219.
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