Vorrede

Es ist von Alters her ein schönes Vorrecht der Deutschen gewesen, den Geisteserzeugnissen auch der fremden Völker die Anerkennung zu zollen, auf welche die darin erreichte Stufe ein Recht gibt; aber der Vorzug ist zum Tadel geworden, seit das Fremde nicht mehr durch die Reinigung des Urdabrunnens hindurchging, sondern unvermittelt verpflanzt und zum Gesetze für Form und Geist mißbraucht wurde. Die Bewahrerin aller altehrwürdigen Sagenreste allein, das (Land-)Volk[3] im engern Sinne, hat sich auch dieses Recht bewahrt und reichlich geübt; davon wird eine für diesen Zweck angestellte Sichtung seiner Märchen wie eine vergleichende Erforschung der ausheimischen zeugen. Mag das Ergebniß auf dieser oder jener Seite die Quelle finden, Beides wird dem vorurtheilsfreien Forscher gleiche Freude bereiten, und für Beides wird in vorliegenden Märchen und Sagen aus Ungarn, dem alten Tummelplatze orientalischen, deutschen und slawischen Wesens, einiger Stoff geboten. Sie können darum zum Theil als Nachahmungen slawische und deutsche Vorbilder oder Züge erweisen, aber sie werden auch Zeugniß ablegen von unvermischtem magyarischem Leben, das nach so viel Stürmen den nach Pannonien versprengten fünf Millionen innewohnt.[4] Denn der Magyar ist nicht, wie Unkundige zu behaupten nicht müde werden, ein hie und da auftauchendes Meteor am Himmel des Völkerlebens, sondern von je her dem deutschen Volke ein nie ermattender aber übel gelohnter Schirm gewesen gegen den Osten und Süden. Wir dürfen der Sobieskys zweifelhaften Ruhm wohl vergessen über den Zrinyis, und vielleicht haben jetzt da dies gelesen wird Ludwig Kossuths Thaten, dessen Entscheidungswort noch verhallte während ich schrieb, alles Reden überflüssig gemacht. Möge am Balaton Weiß-Grün-Roth in freien Lüften flattern! – Das wünscht ein Deutscher.

Für ungarische Märchen waren bis jetzt einzige Quellen die beiden Sammlungen von Fr. Gaal (Märchen der Magyaren, Wien 1822)[5] und Johann Graf Majláth (Magyarische Sagen, Märchen und Erzählungen, Stuttgart und Tübingen 1837, zwei Bände). Aus diesen namentlich hat Kletke sechs Proben in seinem Märchenschatz (Berlin, Reimarus 1845, Band II), dem ich zunächst nähere Kenntniß jener jetzt seltenen Schriften verdanke, aufgenommen. Beide Herausgeber sind geborne Ungarn, doch verlautet über die Quellen ihrer Märchen, ob sie nach deutscher oder ungarischer Mittheilung und ohne Ausschmückung aufgezeichnet sind, weiter nichts. Dagegen besitzen wir seit Kurzem eine lange verheißene verbürgte Originalsammlung ungarischer Volkslieder und Märchen, besorgt von der Kisfaludy-Gesellschaft (Népdalok és mondák, kiadta Erdélyi János, Pest Beimelnál 1846–47), und[6] die beiden ersten Bände dieser Sammlung sind es, deren Märchen wir hier mit Angabe des Fundorts in treuer Übersetzung wiedergeben, welchen dann auch die in den noch erscheinenden Bänden mitgetheilten folgen werden. Im Einzelnen sind Nro. 1, 2, 17 aus dem ersten Bande, welcher fast lauter Volkslieder enthält, und Nro. 3–14 aus dem zweiten entnommen. Zur Vergleichung sind Nro. 15 aus Majláth und Nro. 16 aus Gaal in vereinfachter Erzählung beigefügt. Nro. 18 endlich enthält eine Übersetzung der Kölcsey'schen Ballade von Michael Dobozi, als Probe der von Dichtern behandelten geschichtlichen Sagen. Ueber Fundort der Märchen so wie über einzelne Dunkelheiten in den Märchen werden die angehängten Anmerkungen einige Andeutungen bieten.[7]

Die Gunst der Leser mag sich diese vielleicht noch zu dürftige Auswahl, welcher aber hoffentlich bald eine reichere wird folgen können, selbst erwerben.


St.[8]

Quelle:
Stier, G.: Ungarische Sagen und Märchen. Berlin: Ferdinand Dümmlers Buchhandlung, 1850.
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