29. Warum der neugeborene Mensch nicht laufen kann.

[43] Aus Ungarn.


Als der Herrgott schon alle Tiere geschaffen hatte, da erschuf er endlich Adam und Eva, und am letzten Tage rief er sie alle zusammen in die Mitte des Paradieses. Denn seht, das wollte er, daß jeder seine Nahrung selbst suchen könnte, sobald er geboren wäre. Dann sprach er zum Pferde: ›Laß dein Füllen los, auf daß es laufe?‹ Das Pferd tat also, ließ sein Füllen los, und es lief sogleich auf die Wiese, Gras zu fressen.

Darauf sprach der Herrgott zur Henne: ›Laß dein Küchlein los, auf daß es scharren gehe!‹ Die Henne tat also; das Küchlein lief sogleich[43] auf den Misthaufen und scharrte. Seitdem ist es dort am allerliebsten und scharrt, wo es reines Korn findet.

Zuletzt sprach der Herrgott zu Eva: ›Nun, Eva, laß auch du dein Kind los, auf daß es ein wenig umherspaziere!‹

›Wie könnte ich es schon loslassen, mein Herr und Schöpfer? Wahrlich, ich lasse es nicht los, denn wenn es fällt, bricht es das Bein!‹

›Laß es nur los, wenn ich es dir sage! Fürchte nichts; kein Schade wird ihm geschehen!‹

Aber da Eva, wie die Frauen pflegen, gerne widersprach, so entgegnete sie dem Herrgott: ›Ich, mein lieber Herr und Schöpfer, ich werde es nun und nimmermehr schon jetzt loslassen. Seine Knochen sind noch schwach; es kann noch nicht gehen.‹

Darob ergrimmte der Herrgott und sprach zu Eva: ›Nun, wenn du es nicht niedersetzt, so sollst du es ein Jahr lang auf deinem Arm herumschleppen, und auch wenn das Jahr vorüber ist, soll es immer noch mehr fallen, als alle die anderen.‹

Darum ist es seitdem so, daß alle Tiere gleich ihre Nahrung suchen können; der Mensch ist aber noch nach einem Jahr so ungeschickt wie ein neugeborenes Fohlen.[44]

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Naturgeschichtliche Märchen. 7. Aufl. Leipzig/Berlin: 1925, S. 43-45.
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