71. Das Kloster St. Hubert.

[107] An einem heißen Sommertage kam Plektrude,[107] die Gemahlin Pipin's von Herstal, welche durch des Himmels Fügung zu einem Besuche auf ihre Besitzungen von Amberloup angeregt worden war, mit ihrem Gefolge in die Nähe der Ruinen des Schlosses Ambra, welches die Hunnen zweihundert Jahre früher gänzlich zerstört hatten. Es war Mittag, und die Sonne warf ihre glühendsten Strahlen herab auf die nach Erquickung lechzende Erde. Schon seit dem frühesten Morgen waren Plektrude und ihre Begleiter unterwegs. Nun hatten sie den großen Ardennerwald hinter sich und lagerten am Rande einer der zahlreichen und geschwätzigen Quellchen des Lhomme auf einem von Bäumen überschatteten Wiesenabhange. Die Reisenden nahmen einige Erfrischungen zu sich und überließen sich dem Schlafe.

Kaum war Plektrude eingeschlummert, als sie wieder erwachte und sah, wie die frei auf der Wiese umher weidenden Pferde sich dem Walde näherten. Vergebens suchte sie, ihre Diener zu wecken; ein bleischwerer Schlaf hält alle umfangen. Da geht die Fürstin selber hin, um die Pferde vom Walde zu entfernen. Als das geschehen war, setzte sie sich auf den Stumpf einer umgestürzten Säule und dachte mit Wehmut, Bitterkeit und nagender Sorge an die Ränke der schönen Buhlerin Alpaïde, die mit jedem Tag ihren Gatten Pipin, den gewaltigen Hausmeier des Königs Dietrich, immer mehr und mehr in ihre falschen Netze zog, und deretwegen sogar der h. Lambertus später ermordet wurde. Die fromme Plektrude fing an zu beten, und betete leise aber inbrünstig. Plötzlich fiel ein mit goldnen Buchstaben beschriebener Zettel vom Himmel vor ihre Füße.

Nachdem Plektrude sich von dem Schrecken, welchen ihr dieses Wunder verursacht, erholt hatte, hob sie den Zettel auf und fühlte sich, obschon sie wie die meisten Fürstenleute ihrer Zeit nicht lesen[108] konnte, im Besitze dieser himmlischen Botschaft wunderbar gestärkt und getröstet. Voll Ungeduld weckte sie ihre Leute und kehrte in aller Eile nach dem Hofe von Austrasien zurück.

Zu Jupille angelangt, überreichte Plektrude ihrem Gemahl den Zettel. Da Pipin aber auch nicht lesen konnte, so hieß er seinen Beichtvater und geistlichen Ratgeber, den gelehrten h. Beregis, rufen, damit dieser das wunderbare Rätsel deuten sollte. Auf dem Zettel stand Folgendes geschrieben: »Dieser Ort ist zum Heile vieler Seelen von Gott auserwählt; es ist eine heilige Erde, wert berühmt zu werden; den Dienern Gottes als Eigentum bestimmt. Er wird sich, von weltlicher Macht beschützt, vergrößern; erfährt aber auch Mißgeschicke. Möge derjenige, der sich an ihm vergreift, so in der Wurzel verdorren, daß seine Zweige niemals Früchte tragen, oder möge ihn die rächende Strafe des göttlichen Zornes erreichen!«

Auf den Rat des gelehrten und frommen Beregis beschlossen nun Pipin und Plektrude, an dem Orte, wo letztere den himmlischen Zettel erhalten, und welcher der vielen Quellen wegen, die dort flossen, Andage oder Andain hieß, ein Kloster zu erbauen. Beregis selbst, der als Kind von seinen Eltern nach dem Kloster St. Trond gebracht und dort erzogen und später zum geistlichen Ratgeber für Pipin und dessen Familie erwählt worden war, sehnte sich nach dem stillen Klosterleben zurück und bat um die Leitung des zu erbauenden Klosters. Es fiel Pipin schwer, den liebgewonnenen Mönch scheiden zu lassen. Schließlich willigte er doch in dessen Verlangen ein.

Schon im folgenden Jahre kam Pipin in Begleitung seiner Gemahlin, seiner zwei Söhne, der Grafen Sigebert von Ardenne, Gottfrieds des Alten von Bouillon, des Grafen Hubert von Aquitanien43,[109] der ein Neffe Plektrud's war, und mehrerer andrer hoher Herrschaften nach Andaïnum und schenkte dem frommen Beregis und dessen Nachfolgern als den Stellvertretern des h. Petrus, dessen Kirchlein ehemals zu Ambra gestanden, ein für immer lastenfreies und unabhängiges Gebiet, um darauf das Kloster zu bauen. Beregis und seine Mönche bauten nun ihre Zellen und ruhten nicht eher, bis sie die Wildnis urbar gemacht und das Heiligtum des h. Petrus wieder aufgebaut hatten.

Nach dem Tode des h. Beregis bekamen die Mönche einen neuen Führer und fuhren fort, in ihrer stillen Einsamkeit Gottes Macht und Güte zu verehren und zu verkünden. Allein die frommen Mönche waren arm, und das begonnene Werk fing an zu verfallen und hätte schließlich ganz aufgegeben werden müssen, wenn nicht der Bischof Walkand von Lüttich hülfreiche Hand geleistet hätte. Derselbe ließ das Kloster ganz neu und vergrößert aufbauen; und am 10. August 817 erhielt dasselbe einige Benediktinermönche als Bewohner. Um dem neu aufblühenden Kloster einen größeren Glanz zu verleihen, baten die Mönche den ihnen so wohlwollenden Bischof Walkand um die Reliquie des zu Tervüeren verstorbenen und auf seinen Wunsch zu Lüttich begrabenen h. Bischofs Hubertus, da ja die Stadt bereits die ehrwürdigen Reste des h. Lambertus besitze.

Der Bischof gewährte mit Billigung andrer in einem Konzil versammelter Bischöfe und mit Zustimmung Kaiser Ludwigs des Frommen seinen lieben Söhnen von Andaïnum die Erfüllung ihrer Bitte. Am 30. September 825 kam der Leib des großen Heiligen unter großartiger Feierlichkeit und endlosem Zuströmen der Gläubigen in dem Ardenner[110] Kloster an; und von jenem Tage an vertauschte dasselbe seinen alten Namen gegen den von St. Hubert.44

43

Der spätere h. Hubertus, von dem das Kloster seinen Namen hat.

44

Vgl. A.L.P. de Robaulx de Soumoy. Chronique de l'abbaye de St. Hubert, dite Cantatorium. Traduction. Bruxelles, 1847. – p. 25. 26. Jeantin. Chroniques de St. Hubert. Nancy, 1867. – pp. 78. 160. 161. Schœtter, 12. – Ed. de la Fontaine, 113. – Institut archéol., III 148. 281.

Quelle:
Warker, N.: Wintergrün. Sagen, Geschichten, Legenden und Märchen aus der Provinz Luxemburg. Arlon: Willems, 1889/90, S. 107-111.
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