48. Die tochter des armen mannes.

[156] Es war ein mann, der eine grosse familie hatte. Weil er (die ganze familie) nicht zu ernähren vermochte, führte dieser mann diejenige tochter, welche er nicht liebte, mit sich in den wald, und er führte sie (dahin) in der absicht, diese seine tochter (im walde) zu verlassen. Sie wanderten, wanderten im walde, und das mädchen verirrte sich. Ihr vater suchte sie nicht. Auf solche weise blieb sie hinter ihrem vater im walde zurück. Das mädchen wanderte zwölf tage im walde.[157]

Wie sollte sie sich nunmehr von hier herausfinden? Während sie dies überlegte, sah sie eine hohe edeltanne, kletterte auf sie hinauf, und es waren ringsherum nur wälder – unübersehbar (eig. sogar das auge sieht nicht)! Nur an einer stelle sah sie einen lichten punkt: da sind dächer zu sehen, da bellen hunde. Sie stieg herab und ging nach der seite zu, wo sie das dorf gewahr wurde. Sie ging etwas zu der linken seite hin und kam nach dem hundegebell abends in der dämmerung nach jenem dorf. Sie schaut sich um – und sie war in ihr heimatdorf gekommen. Unter dem fenster (des elternhauses) fragt das mädchen ihren vater um nachtlager und singt also:

»Mein vater, mein vater, lässt du mich nicht über nacht hinein?«

»Frage deine mutter, ich weiss nicht!«

»Meine mutter, meine mutter, lässt du mich nicht über nacht hinein?«

»Ich weiss nicht, frage deinen älteren bruder!«

»Mein älterer bruder, mein älterer bruder, lässt du mich nicht über nacht hinein?«

»Ich weiss nicht, frage deine schwägerin!«

»Meine schwägerin, meine schwägerin, lässt du mich nicht über nacht hinein?«

»Ich weiss nicht, frage deinen jüngeren bruder!«

»Mein jüngerer bruder, mein jüngerer bruder, lässt du mich nicht über nacht hinein?«

»Ich weiss nicht, frage deine ältere schwester!«

»Oh! Meine ältere schwester, meine ältere schwester, lass mich über nacht hinein!«

»Ich weiss nicht, frage deine jüngere schwester!«

»Lass mich, lass mich, kleines schwesterlein, übernachten!«

»Ich weiss nicht – –!«

»Warum lasset ihr mich nicht übernachten?

Warum habt ihr mich nicht lieb gewonnen?

Wenn ihr mich nicht in eure stube hineinlasset,

so werde ich unter der heuschuppentreppe übernachten!«

In der nacht frass ein wolf das mädchen auf. Als ihre jüngeren brüder am morgen ausgingen um das vieh zu füttern, fanden[158] sie nur die haare ihrer schwester. Die brüder sammelten die haare auf und verfertigten eine zither.

Quelle:
Wichmann, Yrjö: Wotjakische Sprachproben, 2.: Sprichwörter, Rätsel, Märchen, Sagen und Erzählungen, Helsingfors: 1893/1901, S. 156-159.
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