Äther

[89] Äther – Ein leer gewordenes hübsches Gefäß aus der Griechenzeit, in welches Chemie und Physik neuerdings neuen Inhalt zu gießen wetteifern. Die Bezeichnung Äther für Alkoholderivate stammt aus einer Zeit, da die Chemie ihre neue Universalsprache noch nicht ausgebildet hatte; wohl um der Flüssigkeit des Stoffes willen wurde das Bild gewählt und ist nach den in der Chemiesprache geltenden Gesetzen zu Ester weiter gebildet worden. Nicht viel älter ist die gleiche Bezeichnung Äther für den Träger der Licht-, Wärme- und Elektrizitätserscheinungen. Hier lag doch etwas wie eine Entwicklung des griechischen Wortes aithêr vor. Dies aithêr bezeichnete (außer einer unkontrollierbaren, blutschänderischen Figur aus der niedern Mythologie, dem Sohne und dem Bruder des Erebos und der Nacht, einem Enkel des Chaos) etwa die obere strahlende Luftschicht, im Gegensatze zu aêr der Atmosphäre; wohl auch poetisch den Himmelsglanz. Da war es kein großer Schritt, den Ungeheuern Weltraum mit Äther zu füllen, als man um der Wellentheorie des Lichtes willen einen Wellenträger im Weltenraum brauchte. Und als jüngst die Lichtwellen mit den elektrischen und magnetischen Wellen gleich gefunden wurden, wurde dieser Äther zum Träger aller dieser Erscheinungen und der Wärme dazu. Er trat allein an Stelle der alten Fluiden oder Imponderabilien. Das war, wie jede Zusammenfassung verschiedener Hypothesen auf eine, ein Fortschritt in der Physik.

Nur sollte die Physik als die Lehre von dem Stofflichen eine Antwort haben auf die Frage: was ist der Äther? Ist er ein Stoff oder nicht? Der starke Newton konnte noch mit dem Stolze des überlegenen Nichtwissens sagen: iste aether quid sit non definio. Heute weiß man vom Äther so viel zu erzählen, daß man einer Definition kaum mehr ausweichen darf. Man beschreibt alle andern Stoffe als undurchdringlich, der Äther ist durchdringlich. Der Äther ist ferner unwägbar,[89] kann also schon darum nicht in der Reihe der Elemente aufgeführt werden. Weiter soll der Äther absolut unbeweglich sein, während die starren Körper mehr und mehr als Tanzfiguren ihrer Moleküle und Atome vorgestellt werden; wobei dann der Äther wieder fast gleichbedeutend wird mit dem unkörperlichen Raume, in welchem die Körper oder Raumnetze sich befinden. So wird ein und derselbe Äther zu der unendlichen Brücke zwischen den Weltkörpern und zugleich zum Kitt oder Mörtel zwischen den unendlich nahen Molekülen der Körper. Zu den neuen Hilfshypothesen gehört es außerdem, daß dieser gefällige Äther inkompressibel, ohne Reibung, aber rotationell elastisch sei. Am Ende sind nicht die Körper, aber auch nicht ihre Atome warm, hell, elektrisch, magnetisch; der Äther ist das alles. Man hätte sagen können: wie nicht die Muskeln weh tun, sondern die an ihnen befestigten Nerven. Was ist nun dieser Äther? Ist er ein Stoff, so muß die gesamte Elementarphysik umlernen, so darf die Physik des Äthers von der übrigen Physik nicht mehr getrennt werden. Ist der Äther aber kein Stoff, dann wirkt es nur verwirrend, daß man ihm einen substantivischen Namen gegeben hat, daß man von ihm als einem Träger adjektivischer und verbaler Erscheinungen spricht.

Ostwald, der Erneuerer der Naturphilosophie, der energetischen, hat denn auch die Ätherhypothese aus dem Tempel hinausgewiesen, »Alle Versuche, die Eigenschaften des Äthers nach Analogie der bekannten Eigenschaften der Materie gesetzmäßig zu formulieren, haben zu unlösbaren Widersprüchen geführt. So schleppt sich die Annahme von der Existenz des Äthers durch die Wissenschaft, nicht weil sie eine befriedigende Darstellung der Tatsachen gewährt, sondern vielmehr, weil man nichts Besseres an ihre Stelle zu setzen versucht oder weiß« (Vorl. über Naturphilosophie² S. 151); »in der Tat handelt es sich hierbei nur um einen Rückstand der Scholastik« (S. 239). Ostwald will eine trägerlose Energie (?) an Stelle der Ätherhypothese setzen. Haeckel, das enfant terrible und oft leider der lustige Rat des materialistischen Monismus,[90] spricht dagegen den Ätheratomen sogar Empfindung zu; als ob es schon ausgemacht wäre, daß Äther existiert und daß er aus Atomen besteht und daß Atome etwas wie Empfindung haben können.

Es wäre noch lustiger, wenn der Äther wissenschaftlich wieder in seinen alten Stand eingesetzt würde, sein Atomgewicht gemessen, und er dann, wie einst bei Aristoteles, wieder zum pempton stoicheion, zur quinta essentia würde. Nur die Zahlung wäre anders. Die Quintessenz der Physik ist er ja doch geworden, ohne daß man erfahren hätte, ob oder was er sei.

Seit einigen Jahrzehnten droht diesem wesenlosen Äther, der beinahe schon zum höchsten Wesen der Physik gemacht worden war, noch näher die Gefahr, endgültig abgesetzt zu werden. Nicht mehr durch eine besonnene Naturphilosophie, die auch ohne Sprachkritik Anstoß zu nehmen anfing an den Widersprüchen des Begriffs, sondern durch die theoretische Physik selbst, deren Rechnungen nicht mehr stimmen wollten, wenn man den unkörperlich-körperlichen Äther als den Träger der einheitlichen Wellen des Lichts und der Elektrizität ansah. Ganz neuerdings (1919, bei Gelegenheit einer Sonnenfinsternis) sollen die allerjüngsten Hypothesen, die von Einstein, sogar durch Experimente bestätigt worden sein. Ich kann ein unbescheidenes Lachen kaum zurückhalten. Die Äther-Anbeter hatten über 100 Jahre lang eigentlich nur so gesprochen und gerechnet, als ob ein Äther, im Grunde nur ein körperliches Symbol für den Raum, existierte, ein Äther, von dem man übrigens gar nichts wußte; so wie die freiem Theologen seit Kant nur noch so redeten, als ob Gott existierte, von dem man übrigens sonst gar nichts wußte. Wenn man nun behauptet, eine Hypothese über die Fiktion Äther sei durch Experimente »bestätigt« worden, so ist das wirklich nicht anders, als wenn exakte aber sprachabergläubische Forscher behaupten wollten, die sprachliche Fiktion Gott wäre (etwa durch die alte Zweckmäßigkeit der Organismen und den neuen Niedergang des Darwinismus) bestätigt worden.[91]

Eine kurze, aber sehr gute Darstellung dieses ganzen Streites findet sich in einer Antrittsrede des Professors Ehrenfest (1913): »Zur Krise der Lichtäther-Hypothese«. Es handelt sich zunächst um die Vorfrage, ob die gewöhnlichen Körper sich durch den feststehenden Äther hindurchbewegen (wie etwa ein Netz durch die Luft) oder ob sie den Äther des Raums, den sie ausfüllen, mit sich reißen (wie etwa ein Faß seinen Inhalt); mir scheint diese Vorfrage doch nur auf die metaphysische Frage hinauszulaufen: ob der Äther ein Körper sei wie andre Körper oder nicht, ob er insbesondere undurchdringlich sei. Ich nenne diese Frage metaphysisch, weil sie innerhalb der Physik nicht zu beantworten ist. Eigentlich ist schon die andre Frage nach der Wirklichkeit oder Scheinbarkeit der gesamten Körperwelt metaphysisch, ist im Grunde die einzige und allgemeine metaphysische Frage; das Dasein von Körpern ist eine Hypothese, aber eine Hypothese ganz einziger und unvergleichlicher Art: der Mensch denkt oder spricht, unter dem Zwange seiner Zufallssinne, sinnlich oder körperlich, nur so kann er sich in der Welt zurechtfinden, in der er steht und lebt. Nichts ist in seinem Denken, was nicht vorher in seinen Sinnen war; Wahrnehmbarkeit durch einen menschlichen Sinn und Körperlichkeit sind nur zwei verschiedene Ausdrücke für eine und dieselbe Vorstellung. Körperlichkeit ist die zwangsläufige Hypothese des hoministischen Denkens. Das Dasein einer Körperwelt ist eine Hypothese, die wir für ein Axiom halten, weil wir Knechte unsrer Sinne sind.

Einen gleichen Rang besitzt die Äther-Hypothese nicht. Das Dasein eines Äthers ist eine ganz verzweifelte Hilfshypothese gewesen, mit deren Hilfe man unlösbare Widersprüche auf eine verständliche Formel zu bringen hoffte. Seitdem man die Lichtbewegung (neuerdings also auch die Bewegung der elektrischen Kraft) als eine Wellenbewegung erkannt zu haben glaubte, d.h. als eine Bewegung an einem Körper, nicht mehr als eine Bewegung von Körpern, hatte sich der alte, immer unfaßbare Ätherbegriff zur Verfügung gestellt: der Äther war nichts andres als der unendliche, leere, unkörperliche Weltenraum,[92] den man ad hoc, d.h. zur Formulierung der Wellentheorie, mit einigen körperlichen Eigenschaften ausstattete. Damit wurde der Äther, mit dessen Hilfe man sich den Vorgang der Wellenbewegung vorstellbar machen wollte, ohne Rettung und für immer unvorstellbar gemacht. Der Mathematiker wäre damit ausgekommen, daß die neue Wellenbewegung in etwas stattfand; der Physiker aber hatte das unabweisbare Bedürfnis, daß die Bewegung – wenn schon kein Etwas da war, das sich bewegte – wenigstens an Etwas wahrgenommen oder vorgestellt wurde. An einem Körper, der aber beileibe kein Körper war. Sondern der alte Raum.

So stand es um den Ätherbegriff, als Einstein, von ganz andern Spekulationen ausgehend, in diesem widerspruchsvollen Äther das Gedankending entdeckte, mit dessen Hilfe die tiefste Gedankenschwierigkeit seiner Relationstheorie scheinbar gelöst werden könnte. Kein Zweifel: alle Körperbewegungen des Weltalls sind relativ; es gibt kein ausgezeichnetes, absolutes Koordinatensystem der Messung; relativ sind die Koordinatensysteme, die man auf die Erde, auf die Sonne oder auf den Fixsternhimmel bezieht. Der Raum ist nicht absolut zu messen. Denkt man sich aber den Raum als einen Körper, ruht dieser Raum in einem Inertialsystem, dann bietet dieses Gedankending, eben der Äther, die Möglichkeit, so etwas wie ein absolutes Koordinatensystem auf etwas Ruhendes zu beziehen. Dem Äther war alles zuzutrauen, wenn die Vorstellung erst den salto mortale gemacht und einem Nichtkörper körperliche Eigenschaften zugestanden hatte. Mit der hohem Analysis wurde ein unerhört geistreiches Spiel getrieben; auch die ebenso geistreiche wie unfruchtbare nichteuklidische Geometrie wurde nicht verschmäht, bis endlich eine nichtnewtonische Mechanik herauskam; nur daß es in der Mechanik aller Größenordnungen, in den Bewegungen der irdischen und der himmlischen Körper schließlich beim alten bleiben sollte. Ich will darum die Leistung von Einstein nicht unterschätzen, nur vor einer journalistischen Überschätzung warnen, die ihn zu dem hohem Nachfolger der Kopernikus, Galilei und Newton[93] machen möchte. Zu einem Überphysiker, der doch nur der Metaphysiker der Relativitätsidee ist. Er hat mit den subtilsten Differentialrechnungen, denen ich nur eben folgen kann, die ich aber leider nicht zu integrieren vermag, nicht in die Sprache der Physik übersetzen, – er hat mit einer wirklich unerhörten Abstraktionskraft in der Geheimsprache der Mathematiker Sprachkritik getrieben: am Begriffe des Äthers, am Begriffe der Bewegung, am Begriffe der Zeit; ich könnte mich darauf berufen, daß ich – beinahe aus der Anschauung heraus – die Zeit bereits einige Jahre vorher als die vierte Dimension der Wirklichkeit vorstellig gemacht hatte. Doch das neue Bild der Welt, von dem geschäftige Zeitungsschreiber reden, ist noch nicht gezeichnet, ist eigentlich noch nicht geahnt; nur eine überaus wertvolle Kritik an den Grundbegriffen der alten Mechanik – die man die klassische nennt, weil sie die alte ist – ist bisher geübt worden. Sollte es wirklich zur Ausgestaltung einer neuen irdischen und himmlischen Mechanik kommen, so wird der Name Einstein in Ehren genannt werden müssen (neben den Namen Lorentz und Minkowski); aber nicht dem großen Revolutionär Kopernikus wird er gleichgestellt werden, sondern höchstens etwa – und das wäre nicht wenig – dem Metaphysiker von Kues, der ja auch als Mathematiker seine Zeitgenossen überragte und die Widersprüche der damals geltenden Physik aufdeckte.

Es ist mir darum zu tun, keinen geistigen Aufwand zu scheuen, der die abgründigen Fragen der Relativitätstheorie faßlich machen könnte: ohne höhere Mathematik und ohne Metaphysik. Da habe ich mir die folgende Reihe von Bildern ausgedacht. Es handelt sich darum, über die unbefriedigenden, relativen Koordinatensysteme hinweg zu dem einzig befriedigenden absoluten Koordinatensysteme zu kommen, das sich auf einen festen Punkt bezieht, auf etwas Ruhendes. Die Alten hatten noch keine Vorstellung von Koordinatensystemen, aber sie waren in der Physik nicht dümmer als wir; nur daß ihnen die Erde etwas Ruhendes war. In diesem Glauben aller Zeiten: dos moi pou stô kai gên kinêsô. Gibt man dem[94] Ingenieur einen festen Standpunkt im mechanischen Koordinatensystem der Erde, so kann er wirklich mit seinen Hebeln und Schrauben den Erdball bewegen. Aber die Erde ruht nicht; sie bewegt sich um die Sonne, welche ruht. Also müßte ein nachkopernikanischer Archimedes seinen festen Standpunkt außerhalb der Sonne suchen und könnte von da aus wirklich den Sonnenball bewegen und nebenbei das ganze Planetensystem. Kai hêlion kinêsô.

Und so weiter, wenn nicht die Sonne ruht, sondern erst die Übersonne, um welche unsre Sonne sich bewegt.

Wir kennen aber die allerletzte Zentralsonne nicht, auf welche wir unsren Raum beziehen könnten. Darin, in diesem bescheidenen Sinne, ist Einstein im Recht. Nicht aber mit seiner absoluten Bewegung des Äthers.

Ich möchte die Frage so fassen; der alte Raum, von dem wir gar nichts wissen, als daß wir alles Sein und alles Geschehen in ihn hineinverlegen, gehört der substantivischen, der mythologischen Welt an; der neue Äther, aus dem alles geschieht, gehört (trotz der substantivischen Form seines Namens) der verbalen Welt an; Raum und Äther sind nur die beiden unverträglichen Aspekte einer und derselben Hypothese; der Raum wird zum Äther, wenn wir ihn in das Treiben der Kausalität hineinbeziehen; der Äther wird zum Raum, wenn wir an ihn glauben als ein Ding.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. 89-95.
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