Raum

I.

[6] Der Satz, die Zeit sei die vierte Dimension der Wirklichkeit (außer den drei Dimensionen des Raums), leidet an einer sprachlichen Liederlichkeit. Man hat eine Lehnübersetzung von Dimension nicht beliebt, weil sie schwierig gewesen wäre. Richtung wäre falsch, weil der Raum unendlich viele Richtungen hat und[6] bloß drei. Ausmessungen oder Maße wäre nicht ganz richtig, weil es sich nicht um Ausmessungen usw. des Raumes handelt, sondern um Ausmessungen am Raume. Es wäre vielleicht gut, trotzdem das Wort schon ein Terminus ist, für Dimension Determinante oder Bestimmung zu sagen und dann meinen Satz so auszudrücken: Die Zeit ist die vierte Determinante der Wirklichkeit.

Die alte Frage, ob Zeit und Raum selbst Wirklichkeiten seien wie in der Sprache der Poesie, oder ob sie (nach Kant) apriorische d.h. angeborene Formen der Anschauung seien, kann durch den Satz, die Zeit sei die vierte Determinante der Wirklichkeit, durchaus nicht entschieden werden; denn Zahlen und Kräfte, Menschen und Ideen können Determinanten sein. So könnten Zeit und Raum als Determinanten alles dieses sein. Auch ein strenger Beweis dafür, ob Zeit und Raum Substanzen seien oder nicht, würde nicht helfen; denn wir wissen von den Substanzen mit Sicherheit nur das eine, daß sie substantivisch, in unsern Sprachen also Substantive sind. Ich weiß nicht, ob über diese Berührung von Metaphysik und Grammatik schon gebührlich laut gelacht worden ist.

Wir haben gelernt, d.h. die Sprachkritik behauptet, daß Grammatik und Logik jede Erkenntnismöglichkeit auf den Kopf gestellt haben, als sie die Dinge, die hypothetischen, zu Hauptsachen machten, zu Hypostasen, zu Substantiven, und die einzigen psychologischen Wirklichkeiten, die Eigenschaften oder Empfindungen zu Nebensachen machten, zu Beigaben, Epitheten oder Adjektiven. Das einzige Positive in unserer Welterkenntnis ist die Eigenschaft, die Empfindung; die Grammatik aber nannte schon vor nahezu zweitausend Jahren das Substantiv ein Positivum.

Dieses Aufdenkopfstellen der Gelehrtensprache wäre aber nicht der Rede wert, wenn nicht der urälteste Instinkt des gemeinen Mannes und der Gemeinsprache genau ebenso hypothetisch und doch unausweichlich die angenommenen Ursachen aller Eigenschaften zur einzigen Wirklichkeit machte, zum Ding; der naive Realismus des gemeinen Mannes, vielleicht der verstiegenste Idealismus, hält die handgreiflichen oder augensichtbaren oder ohrhörbaren Empfindungen für unwirkliche Vorstellungen, und ihre[7] instinktiv erschlossenen gemeinsamen Ursachen hält er für palpable Wirklichkeiten. Die ganze Geschichte der Philosophie ist ein Kampf zwischen diesem Menscheninstinkt und einer unmenschlichen Erkenntnistheorie, die auf Lebensgefahr instinktlos sein möchte.

Solche Gedanken leiten dazu, Raum und Zeit ein wenig besser als bisher dort unterzubringen, wo sie einmal sprachlich zu Hause sind: unter den substantivischen Begriffen. Raum und Zeit gehören nicht zu den konkreten Begriffen, den hahnebüchenen, weil Raum für sich und Zeit für sich nicht gemeinsame Ursache verschiedener Empfindungen sein kann, die dann auf ein Ding hinweisen (Raum und Zeit zusammen könnten als so eine Ursache aufgefaßt werden, deren Wirkung die Welt wäre); Raum und Zeit gehören aber gewiß auch nicht zu den Scheinbegriffen, wie z.B. Hexe, Gespenst, weil Raum und Zeit mindestens Bedingungen von Wirklichkeiten, von allen Wirklichkeiten sind; Raum und Zeit gehören aber auch nicht zu den unverschämten abstrakten Substantiven auf heit, keit, schaft usw., die ihrem Wesen nach eigentlich nachgemachte Eigenschaften sind, innere Empfindungen besten Falls, keine richtigen Empfindungen, und die darum mit erstaunlich sprachkritischer Selbsterkenntnis, weil sie keine rechten Adjektive sind, sich zu falschen Substantiven verkleidet haben.

So gehören Raum und Zeit wohl sprachlich zu den Substantiven, stehen aber abseits von den Gruppen der Gemeinsprache. Niemand ist auf den Einfall gekommen, etwa die Wärme, die doch auch eine Ursache ist, eine bloße Form der Anschauung zu nennen; denn die Wärme ist dem gemeinen Mann handgreiflich und erschien darum der alten Physik als ein Stoff, als ein Fluidum. Niemand nannte die Elektrizität eine bloße Form der Anschauung. Aber auch Stoffe nennt man Wärme und Elektrizität jetzt nicht mehr. Sollte die Wissenschaft oder die Sprache einmal dahin gelangen, das Fluidum, den Fluxus oder den Strom der Zeit als Ursache zu begreifen, dann wäre die Einreibung der Zeit unter die Kräfte möglich, und recht fein müßte schon der sein, der dann lachend fragen würde, ob denn die Kräfte zu den [8] Ursachen oder zu den Wirkungen, zu den Dingen oder zu den Eigenschaften gehören.

Der Raum schließt sich der Zeit gern wie ein unentrinnbarer Schatten an; er würde auch die Verdinglichung der Zeit gern mitmachen. Es wird aber schwer halten, wenn wir uns nicht entschließen, das Verhältnis zwischen Ursache und Bedingung endlich zu verstehen. (Vgl. Art. Ursache.)

Der Widerspruch, zu welchem die Vorstellungen des naiven Realismus und die des transzendentalen Idealismus in ihrer Lehre vom Raume sich verwirren, läßt sich kaum stärker formulieren als durch die Gegenüberstellung der beiden Bilder: daß der Raum das Wesentlichste an dem Stoffe sei (die Körper sind Ausdehnung) oder gar der Stoff selbst, und daß der Raum nur eine Form der Anschauung sei. Wir werden noch erfahren und haben es oft genug angenommen, daß der Ursachbegriff der mythologischen Welt angehöre, daß also weder Zeit noch Raum Ursachen einer unserer drei Welten genannt werden können. Wohl aber treten wir der idealistischen Lehre soweit entgegen, als wir in Raum und Zeit die allgegenwärtigen Grundbedingungen der adjektivischen Welt erblicken, der einzig wirklichen Welt des Sensualismus; so wie wir aber von einer dieser beiden eigentlich untrennbaren Bedingungen abstrahieren, wird der Raum zur Bedingung der substantivischen Welt oder der Welt des Seins, wird die Zeit zur Bedingung der verbalen Welt oder der Welt des Werdens. Wir können uns das Sein ohne den Raum nicht vorstellen; aber wir müssen dann die Zeit hinwegdenken. So verwandelt sich uns die alte metaphysische Frage nach der Realität des Raums zu einer erkenntnistheoretischen, ja zu einer sprachkritischen Frage. Wir können mit Anspannung unserer Phantasie in der Durchflechtung von Schuß und Kette, in einem Gewebe also, ein Bild der Verbindung von Raum und Zeit sehen; aber in der Wirklichkeit können wir Schuß und Kette auch getrennt wahrnehmen, Raum und Zeit können wir nicht aus dem Gewebe der Natur bloßlegen; immer können wir nur entweder vom Raume oder von der Zeit gewaltsam abstrahieren und so von der Zeit allein oder vom Raume allein reden.[9]

II.

Die Frage, ob der Raum, der uns nach unserer Vorstellung als etwas Wohlbekanntes umgibt, wirklich drei Dimensionen habe, läßt sich mit Worten gar nicht beantworten. Denn wirklich heißt hier nur der Gegensatz zu unserem Vorstellen, zum Denken, also zur Sprache. So viel aber ist gewiß, daß die Dreiheit der Dimensionen entsprechend der Dreiheit der Ordinaten nicht der natürlichen Orientierung entspricht. Die fliegende Mücke findet Raum in jeder Dimension, und der zum Kristall zusammenschießende Körper scheint mir je nach seiner Form eine Mehrzahl von Dimensionen zu nutzen. Die drei Dimensionen oder Ordinaten dürften also doch dem Raume selbst nicht zugehören, sondern nur der Sprache, dem Diskurs, dem diskursiven Denken, das gelernt hat, mit diesem Minimum von Richtungen zur Ortsbestimmung im Raume auszukommen.

Dieses Ordinatensystem des Raums, das sich für jedermann in seinem eigenen Kopfe kreuzt (und nicht in einem mathematischen Punkt), ist ebenso subjektiv, wie es beweglich ist. Die senkrechte Ordinate tragen wir, wenn wir den Standort wechseln, überall mit uns herum. Die beiden andern Ordinaten drehen sich bis zu ihren unendlich weiten Enden, wenn wir den Kopf wenden oder neigen.

So ist jeder menschliche Kopf an das Koordinatenkreuz des Raums geschlagen. Und wie der Schein eines Ichbewußtseins nur erhalten wird durch die Kontinuität des Gedächtnisses, so bleibt dem Menschen eine persönliche Raumvorstellung nur durch die Kontinuität seiner Ortsbewegungen.

Also ist das Individuum nicht nur Träger, sondern unaufhörlich auch Neuschöpfer seines Raums. Und dadurch unterscheidet sich vom Raum die vierte Richtung oder Dimension: die Zeit. Der Raum des individuellen Ich hält nur still, wenn der Kopf dieses Individuums still hält und mit ihm die sich kreuzenden Koordinaten. Für die Zeit aber muß das Ich immer still halten. Ewig kommt die Zukunft an das Ich heran (der Moment der Begegnung heißt die Gegenwart), um durch den dunklen Moment hindurchzugehen und sich sofort in Vergangenheit[10] zu verwandeln. Dann kommt eine Zeit, und es gibt kein Ich mehr (unser Ich nicht mehr) und die Zeit stößt sich nicht mehr an das Ich, sie fließt nicht mehr aus der Zukunft in die Vergangenheit, sie steht still oder sie nimmt – wenn sie fließt – die Leiche des Ich in ihrer Strömung mit.

Ich will hier endlich die Bemerkung machen, daß auch solche Schriftsteller, welche die logische Ordnung höher schätzen als ich, immer wieder auf die Zeit hinweisen müssen, wenn sie vom Raume allein reden wollten. Die beiden Begriffe oder Wörter lassen sich freilich trennen; als Bedingungen der Erfahrungswelt sind sie aber untrennbar. Es gibt nichts, was nicht zugleich im Raume und in der Zeit zu unserer Kenntnis käme. Wollten wir übrigens diese Partikel in genau analysieren, so würde sich eine neue Hilflosigkeit der Sprache herausstellen, vielleicht gar ein Wink dafür finden, daß das metaphysische Problem des Raums (in unserer Sprache: die sprachkritische Frage nach der Realität des Raums) gar nicht zu lösen sei; denn wenn es auf den ersten scharfen Blick so scheint, als ob im Raume eine sinnliche Vorstellung gebe, in der Zeit aber nur ein kühnes Bild nach dieser Vorstellung, so belehrt uns ein noch schärferes Hinsehen darüber, daß in auch in Beziehung auf den Raum kein sinnliches Bild liefert; man kann den Standpunkt wechseln und ebensogut sagen: ein Körper sei im Raume, wie: der Raum sei im Körper.

Da ich so das Recht in Anspruch genommen habe, hier gleich von der Zeit zu reden, will ich jetzt einen Gedanken vorwegnehmen, der erst bei der Analyse des Zeitbegriffs ganz deutlich werden kann. Wir können die Zeit bildlich viel besser eine Kraft nennen als den Raum, weil der Raum niemals verbraucht wird, wohl aber die Zeit. Der Raum, sowohl der unendliche als der endliche Raum, bleibt nach seiner Benützung ganz wie vorher; nur in einem gegebenen Zeitmoment ist ein bestimmter Raum nicht zweimal zu besetzen, was man die Undurchdringlichkeit der Körper nennt; die Zeit aber wird verbraucht. Daß sie auch ohne Benützung vergeht, das hat sie mit manchen Kräften gemein; auch die Wärme zerstreut sich, wenn sie nicht in Arbeit verwandelt wird. Fast wie das Weberschiffchen auf dem Webstuhl[11] hin und her durch die Kette fährt, auch dann, wenn kein Garn mehr in dem Schiffchen ist.

III.

Raum ist ein Begriff wie ein anderer, und so wird er wohl wie ein anderes Wort auf Nervenangaben zurückzuführen sein. Es wird auch seit längerer Zeit von der Wissenschaft gelehrt, daß unsere Sinneswahrnehmungen wie mit Gefühlszeichen, so auch mit Lokalzeichen versehen sind. Wenn wir irgendwo Kühle empfinden, so haben wir dabei erstens die Nebenempfindung des Angenehmen oder Unangenehmen, zweitens die Nebenempfindung, an welcher Körperstelle es kühl geworden ist.

Die Gefühlszeichen gehen den Willen an und verknüpfen sich als Wertgefühle im endlosen Gange der Entwicklung zu den Begriffen von Ethik und Ästhetik.

Unsere Sinneswahrnehmungen sind aber auch mit Lokalzeichen verbunden; wir empfinden jedesmal mit größerer oder geringerer Genauigkeit, an welcher Stelle unseres Körpers die Nachricht von der Außenwelt in uns gedrungen ist.

Wir empfinden es also als eine Eigenschaft aller unserer Wahrnehmungen, daß wir sie an eine bestimmte Stelle unseres Körpers (mitunter in den ganzen Körper oder auch auf die ganze Oberfläche des Körpers) verlegen und daß wir auch den Erreger der Wahrnehmung in einer bestimmten Richtung der Außenwelt suchen. Auch hier fehlen die so beliebten Krankenbeobachtungen nicht. Der Mensch mit einem Stelzfuß kann bekanntlich einen Schmerz in die Fußspitze seines vor Jahren abgeschnittenen Beines verlegen. Für gewöhnlich aber beschreibt ein Kranker den Ort seines Schmerzes richtig, auch wenn er von der Lage seiner inneren Organe keine Ahnung hat. Der Arzt erfährt auch von ungebildeten Kranken, wo es ihnen wehe tue – und besonders Rückenmarksleidende sollen gewissermaßen a priori anatomische Kenntnisse besitzen. Man hat daraus schließen wollen, daß diese Lokalzeichen nicht durch Übung erworben, daß sie angeboren seien. Dagegen erinnere ich an den Stelzfuß, an die Unsicherheit vieler solcher Schmerzbeschreibungen und nehme an, daß die[12] eingeübte Lokalkenntnis unseres Leibes groß genug sei, um es aus ihr zu erklären, wenn von Kranken bisher unbekannte Nachbarstellen annähernd richtig angedeutet werden. Jedenfalls verlegen wir bewußt unsere Empfindungen an bestimmte Orte und glauben sie von bestimmten Richtungen her zu empfangen.

Nehme ich an, ich wisse von jeder Empfindung zugleich ihren Ort, so muß ich auch annehmen, daß der Ort oder Raum ebenso wirklich sei wie die Empfindung.

Nebenbei muß ich auch glauben, daß unsere Nerven bei solchem Denken unbewußt mit tätig sind; und da Denken für mich Sprache oder Bewußtsein ist, so gerate ich für einen Augenblick in das sprachliche Unfaßbare. Ich komme gleich darauf zurück.

Die Örter unserer Empfindung, der Raum also und zunächst unser eigener Körper im Raum, ist demnach nicht mehr, aber auch nicht weniger wirklich als das übrige Empfinden, der Raum ist nicht weniger wirklich als eine Farbe oder ein Klang. Und ich möchte behaupten, daß wir für die relative Realität des Raumes fast bessere Beweise haben als für die von Farben und Klängen. Über diese stimmen die Menschen nicht nachweisbar überein; falsche Raumvorstellungen aber sind als Sinnestäuschungen mit Sicherheit nachzuweisen; und wenn die Menschen ohne Täuschung etwas sehen, so führen – z.B. beim Anblick eines Punktes – alle ihre Sehrichtungen ganz geometrisch zu ihm hin und kreuzen sich da, so daß dieser Punkt als einziger Erreger der verschiedenen Lokalzeichen gewiß angenommen werden kann.

Was ist nun dieser Raum? Ein Zeichen für Empfindungen, für Nebenempfindungen, haben wir gesagt. Was ist die Sprache? Zeichen für Empfindungen. Der Raum ist also Sprache, stumme Sprache, wobei besonders bemerkt werden muß, daß auch das andere Denken oder Sprechen auf Erinnerung von Sprechmuskelbewegungen, also wieder auf Raum, zurückgeht.

Diese Raumsprache ist ursprünglich, individuell; jedes Tier hat sie ausreichend; diese Raumsprache ist nicht etwas zwischen den Individuen. Wollen sie sich über den Raum verständigen, müssen sie ihn messen, bezeichnen, Worte für ihn bilden. Die[13] Sprache der Geometrie ist also eine Sprache in zweiter Potenz und darum für viele zu schwer.

Und ich möchte fragen, ob ein Unterschied zwischen Tieren und Menschen nicht gerade darin zu suchen sein könnte, daß die Menschen die Wortsprache übermäßig ausgebildet haben, daß die Tiere dafür eine unendlich feinere Raumsprache (erster Potenz, ohne Wort) besitzen, daß aber den Tieren die vierte Dimension, die Zeit, nur dämmernd aufgegangen ist. Mein Hund weiß sicher Vergangenes und Künftiges (Prügel und Fraß), aber er differenziert die Erinnerung nicht frei; man sagt: er habe ein dämmerndes Bewußtsein.

Denken oder Sprechen ist Vorstellen ohne Lokalzeichen. Der Traum wieder wird gerade dadurch zur Wirklichkeitstäuschung, weil wir im Traume nicht auf das Vorhandensein von Lokalzeichen achten.

Unser Ergebnis ist also: daß Raum ebenso relativ wirklich sei wie Farbe oder Klang, daß er beim Tiere und beim ungeometrischen Menschen eine Sprache für sich besitze, die der Lokalzeichen, daß das Fabeln vom Angeborensein dieser Kategorien endlich aufhören müsse. Cheselden berichtet über einen operierten Blindgeborenen (Helmholtz: Phys. Opt. 587), der urteilte, alles, was er sehe, berühre seine Augen. Er hatte den Raum außerhalb seines Körpers noch nicht gelernt, noch nicht eingeübt.

In dieser Darlegung ist natürlich Realität als ein relativer Begriff zu verstehen. Die Menschen allein haben sich für den Raum, in dem sie sich bewegen oder der in ihnen, ruht, eine besondere Sprache der Geometrie erfunden, und diese Sprache scheint ihnen die untrüglichste und die realste unter allen Sprachen zu sein. Aber diese Sprache der Geometrie ist nur untrüglich, solange sie sich auf räumliche Zeichen der Raumverhältnisse beschränkt; will sie etwas über den Raum selbst aussagen, so wird sie zu Gemeinsprache und weiß nicht, was der Raum sei; wir haben eine Psychologie und können die Psyche nicht definieren; wir haben eine Geometrie oder Raumlehre und wissen vom Raume nichts zu sagen, als daß er eine relative Realität sei. Eine Möglichkeit des Nebeneinanderseins hat Lotze (Mikrok.[14] III 494) den Raum genannt, aber sofort die Tautologie erkannt: es ist ja ein Zugleichsein (in der Zeit) mitverstanden und der Raum wird im Nebeneinander vorausgesetzt.

Auch die Frage nach der Gültigkeit der Axiome des Raums läßt an der Untrüglichkeit der geometrischen Sprache zweifeln; die nichteuklidische Geometrie lehrt nicht mehr, daß eine Gerade der nächste Weg zwischen zwei Raumpunkten sei.

IV.

Gibt es einen Raumsinn oder ein Raumorgan, wie es im Auge ein Lichtorgan, im Ohr ein Tonorgan gibt, dann wird die Analogie nicht abzuweisen sein, daß es erstens ein auf Raumerscheinungen besonders eingestelltes oder einstellbares Zentrum gibt, eben das Organ, und daß es zweitens Wirkungen des Raums oder der Raumerscheinungen oder der Raumverhältnisse auf dieses Organ gibt. Einwirkungen können aber von etwas bloß Gedachtem nicht ausgehen, wenigstens nicht unmittelbar. Der Raum müßte also etwas Wirkliches sein, wenn wir ein Raumorgan besäßen, ja damit sich ein Raumorgan bilden konnte. Versteht man unter Sinn nicht ein besonderes Organ, versteht man unter Raumsinn z.B. eine Nebenfunktion des Gesichtssinnes, dann könnte ein Raumsinn recht gut ohne wirklichen Raum angenommen werden. Wie das Sehorgan in einer Nebenfunktion den Farbensinn entwickelt hat. Nur daß freilich auch die Farben, die sekundären Eigenschaften, immer noch einer weit hohem Wirklichkeitsordnung angehören könnten als der Raum.

Ähnliches wäre von einem Zeitorgane zu sagen. Ein bloßer Zeitsinn als Nebenfunktion z.B. des Gehörs oder aller Sinnesorgane mag eine wirkliche Zeit nicht zur Voraussetzung haben. Gäbe es aber irgendwo ein Zeitorgan, so wäre die Vorstellung nicht abzuweisen, daß nur eine reale Zeit in diesem Organ Veränderungen weiter geben könnte.

Um der Vorstellbarkeit willen denke man nur wieder an die Wärme. Durch Jahrtausende hielt man die Wärme für ein materielles Ding, für ein Fluidum, wunderte sich gar nicht darüber, daß wir Wärme empfinden, und kannte kein besonderes Wärmeorgan.[15] Gegenwärtig hat die Wärme ihre brutale Realität verloren, besitzt nur noch, wie die Farbe, eine relative Realität, Erscheinungsrealität, gegenüber ihrem Ding an sich, das eine Bewegung ist. Aber zugleich wird unablässig nach dem genauem Organ dieser Erscheinung geforscht. Niemand zweifelt daran, daß die Bewegungserscheinung Wärme auf ein für sie besonders eingestelltes Organ müsse wirken können.

Für die Frage, ob der Raum der Wirklichkeitswelt angehöre oder nur unserem Denken, wird es vielleicht entscheidend sein, die einfachere Frage zu beantworten, ob wir den Richtungsunterschied von rechts und links erst in die Natur hineintragen oder ob er in ihr vor uns, vor unserem Denken und Sprechen, schon vorhanden ist. Nun ist es ganz selbstverständlich, daß die Worte rechts und links von Menschen herrühren, ja sogar, daß ein gewisser Wertunterschied in diesen Ausdrücken bildlich von der Natur oder der Übung der menschlichen Hände hergenommen ist. Es ist unbedingt menschlich, gedanklich und in diesem Sinne unwirklich, wenn wir an den symmetrisch gebauten Organismen eine rechte und eine linke Seite unterscheiden, wenn wir die Schlingpflanzen in rechtsdrehende und linksdrehende trennen. Was aber denn doch vor unserem Denken und vor unserem Sprechen in der Wirklichkeitswelt vorhanden zu sein scheint und was keine Psychologie ihr nehmen kann, das ist die Polarität selbst der beiden Richtungen. Die plastische Natur weiß nichts von rechts und links, aber sie ordnet die Glieder in zwei wirklichen Richtungen des Raums, wie sie sie in der lebendigen Kristallbildung im Raume (wir sagen: nach drei Dimensionen, also in sechs Richtungen) wirklich gruppiert.

Es scheint mir darum, daß die Frage nach der Realität oder Idealität des Raums falsch gestellt worden ist. Auch der Raum wie so vieles andre, ist nur ein mythologischer Begriff, in welchem wir die Erscheinung zusammenfassen, daß wirkliche Bewegungen nach Richtungen erfolgen. Wir sollten fragen, ob es in der Wirklichkeit Richtungen gibt oder nicht.

Wenn aber Richtung ein viel schwierigerer Begriff ist, als man bis vor kurzem glaubte, wenn wir mit Goldscheid in der [16] Richtung von Veränderungen einen gemeinsamen Oberbegriff für Kausalität und Zweck erblicken dürfen (vergl. Art. Richtung), dann ist vielleicht der Gedanke nicht abzuweisen: die Richtungen im Raume werden erst von uns Menschen in den Raum hineingetragen und haben mit der relativen Realität des Raums nichts zu schaffen. Hängen aber die Bewegungen im Raume immer mit Richtungen zusammen, so werden mit dem Richtungsbegriff auch der Bewegungsbegriff und der Realitätsbegriff (des Raums) zu psychologischen Problemen, zu viel ernstem psychologischen Problemen als die Frage nach der Entstehung der Raumvorstellung eine war.

Mit der Bewegung fällt dann jedes dieser Probleme der verbalen Welt zu, der Welt der Zeit, und für die substantivische Welt, die wir noch besser als bisher in der Welt des Seins oder des Raums wiedererkennen werden, bleibt vom Raume nicht viel mehr übrig als der Raumbegriff selbst, d.h. die Welt, insofern wir von der allgegenwärtigen Zeit abstrahieren.

V.

Daß unsere Vorstellungen vom Raum (und von der Zeit als seiner vierten Dimension) nur eine besondere Art Sprache seien, wird ganz seltsam beleuchtet durch eine geistreiche Bemerkung Strickers.

Dieser ruhige Forscher macht (Stud. üb. d. Bewußtsein S. 49) einen Unterschied zwischen Ort und Raum. Örter sind ihm die ausdehnungslosen Stellen, an die wir den Eintritt der Außenwelt in unser Bewußtsein verlegen. Nun deutet er darauf hin, daß wir uns gerade jene Örter ohne Ausdehnung vorstellen, deren Kenntnis wir durch Organe erlangen, die mit der Umgebung unverschiebbar verbunden sind. Es ist wirklich so, daß wir unsere Seele raumlos vorstellen und zugleich die Hirnrinde (wohin man jetzt den sogenannten Sitz der Seele verlegt) unbeweglich oder wenigstens ohne Muskelbewegung unter der Schädeldecke ruht; und daß wir den Tönen keinen Raum zuschreiben (obwohl eine Richtung), wie denn auch das eigentliche Gehörorgan tief im Felsenbein unbeweglich, d.h. wahrscheinlich ohne eigene Muskelbewegung liegt.

Dagegen halte man, daß unsere Vorstellung vom Raum teils[17] auf unserm Tastgefühl, d.h. die Mitteilung unserer vielbeweglichen Finger, zurückgeht, teils auf unsern Gesichtssinn und zwar – wie jetzt wohl alle Fachgelehrten anerkennen – auf die Muskelbewegungen, durch die wir unsere Augen, ja selbst die Linse im Auge je nach den Eigenschaften des Raumes einstellen. Es ist begreiflich, daß wir aus solchen (immer räumlichen) Muskelbewegungen entweder auf den Raum schließen oder nach ihnen einen Raum vorstellen. Und auch die Sprache, als Bewegungserinnerung, ist im Grunde ein Gedächtnis an Vorgänge räumlicher Art.

Für die Bestimmung eines Ereignisses im Weltlauf ist Raum und Zeit zu beachten; beide »Formen der Anschauung« sind für die Bestimmung jedes Ereignisses notwendig. Man könnte das analytisch so ausdrücken, daß der Ort durch die drei Koordinaten sich bestimmen lasse, der Zeitpunkt durch eine vierte Koordinate oder auch durch ein zweites Koordinatensystem von einer einzigen Dimension, von einer einzigen Richtung. Wenn ein Ereignis häufig nur durch den Ort oder nur durch die Zeit bestimmt wird, so kommt das daher, daß man in allen solchen Fällen die Zeit, beziehungsweise den Raum, als bekannt voraussetzt oder für gleichgültig hält. Die Verhältnisse von Raum und von Zeit ergänzen einander; und wirklich kann von einem von beiden allein nur schwer gesprochen werden. (Vgl. Art. Zeit.)

Um so merkwürdiger ist es, daß in manchen Sprachen (franz. espace, ital. spazio), besonders aber im Deutschen, das Wort Raum geradezu den Begriff der Zeit aussprechen kann, wie wir denn auch die unschöne Koppelung Zeitraum gebildet haben. Diese sprachliche Kühnheit entwickelte sich wahrscheinlich über einen biblischen Sprachgebrauch, der Raum machen, Raum geben, Raum haben, lassen, im Sinne von Statt, Gelegenheit geben usw. zuließ; aber auch über die Bedeutung Zwischenraum, intervallum, hinweg mag die bildliche Anwendung dieses Begriffs auf die Zeit häufig geworden sein. Sehr auffallend ist dieser kecke Sprachgebrauch bei Goethe, der doch die Kantsche Lehre von Raum und Zeit gut genug kannte, um einmal (»Vier Jahreszeiten« Nr. 23) übermütig mit ihr spielen zu können (»Raum und Zeit, ich empfind' es sind bloße Formen des Anschauns; da das Eckchen mit dir,[18] Liebchen, unendlich mir scheint«), und dennoch, von andern Stellen ganz abzusehen, in der wunderbar schönen und fast steif feierlichen Dichtung »Legende« (»Paria« II.; ist schon 1821 gedichtet) den Ausruf »noch ist Raum« ganz und gar im Sinne von »noch ist Zeit« wagte.

Die Möglichkeit, das Begriffspaar Raum und Zeit zu dem Worte Zeitraum koppeln, die entgegengesetzten Begriffe Zeit und Raum mit dichterischer Kühnheit sogar vertauschen zu können, erscheint weniger merkwürdig, wenn wir uns darauf besinnen, daß wir nicht wissen, was wir als den Oberbegriff von Raum und Zeit aufstellen sollen. Beide Begriffe gehören offenbar zusammen, sowohl für die Gemeinsprache des naiven Realismus wie für die letzte Verstiegenheit des Idealismus. Aber wir können beide nicht definieren, weil wir den Oberbegriff nicht kennen; es wäre denn, daß wir uns an den Begriff Ordnung halten und sagen wollten: wir ordnen die Welt der Erfahrung zunächst nach Raum und Zeit. Doch auch dann bliebe ein Widerspruch vorhanden, weil wir eben nur sprachlich, menschlich, bald von der einen Ordnung, bald von der andern abstrahieren können, die adjektivische Welt der Erfahrung aber nichts darbietet, was nicht zugleich in der Zeit und im Raume erschiene.

Daß wir bei der Lehre, Zeit und Raum seien Formen der Anschauung, nicht stehen bleiben können, das ist schon gesagt worden; der Raum ist so wenig bloße Form, daß er in alter und neuer Zeit oft mit dem Stoffe gleichgesetzt worden ist; und die Zeit kann keine bloße Form sein, weil sie in mancher Beziehung wie eine Kraft verbraucht wird.

Ich gelange also nicht über den bescheidenen Versuch einer Definition hinaus, über den vorsichtigen Gedanken: wie die Zeit eine Bedingung der verbalen Welt ist, der Welt des Werdens und des Wirkens, so ist der Raum die Bedingung der substantivischen Welt, der Welt des Seins. Und die Schwierigkeit, über diese Begriffe in der immer materialistischen Sprache zu reden, kommt daher, daß wir von der Raumbedingung vollständig absehen müssen (und es nicht können), wenn wir von der Zeit reden wollen, daß wir von der Zeitbedingung absehen müssen (und[19] es nicht können), wenn wir vom Raume reden wollen. Wir haben aus der Erfahrungswelt den Raumbegriff und den Zeitbegriff sprachlich erschlossen; aber es ist uns nicht gelungen, die Realitäten Raum und Zeit getrennt zu verstehen. Für den naiven Sensualismus ist nur eine adjektivische Welt da; die Welt des Raums und die Welt der Zeit können wir nur ahnen.

Sobald wir aber erfahren werden, daß die substantivische Welt oder die Welt des Seins auch die der Mystik ist, werden wir uns der Schwierigkeiten des Raumbegriffs wieder erinnern dürfen. Wir können von einer Welt des Seins oder des Raums nur solange reden, auch bildlich nur so lange, als wir die Zeit hinwegdenken; und auch die Welt der Mystik, die der substantivischen Welt angehört, versucht es immer, die Zeit hinwegzudenken, zeitlos zu sein.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 2 1923, Band 3, S. 6-20.
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