Als ob

[25] Als obSchon in der ersten Ausgabe meines »Wörterbuchs der Philosophie« habe ich auf die Bedeutung des als ob hingewiesen und dieses »bescheidene Wort der Resignation« sogar schon unter die Schlagwörter des Registers aufgenommen. Ich habe auf Leibniz, auf Weismann, auf den Physiologen Bernard und schon viel früher auf eine entscheidende Stelle bei Kant hingewiesen, sicherlich aber damit nicht erreicht, daß dieser Vergleichspartikel die gebührende Beachtung geschenkt würde. Jetzt wird das als ob nicht mehr übersehen werden können, nachdem Hans Vaihinger der Sache ein ausführliches und gutes Buch gewidmet hat.

Vaihinger war in der Welt der Philosophen seit vielen Jahren nur bekannt als der Verfasser eines sehr brauchbaren und gründlichen, aber durchaus schulgemäßen Kantkommentars und als Begründer der Deutschen Kantgesellschaft, die naturgemäß für die Geschichte der Philosophie mehr leistete als für die Philosophie selbst. Die in Deutschland gegenwärtig sehr mächtige, in Universitätskreisen sehr mächtige Partei der Neukantianer hielt sich an den von Liebmann geformten Wahlspruch »Zurück zu Kant«; man ging zu Kant zurück, hatte aber nicht die Kraft, oft kaum sogar das Verlangen, von diesem auf einem Rückzuge erreichten Ausgangspunkte aus wieder vorwärts und aufwärts zu schreiten.[25]

Da überraschte Vaihinger die dankbaren Leser seines Kantkommentars durch die Herausgabe eines selbständigen Buches, das er in allen wesentlichen Teilen schon 33 bis 35 Jahre früher geschrieben hatte. Der jetzige Titel lautet: »Die Philosophie des Als ob«1. Es ist nicht ganz klar, warum Vaihinger nicht früher den Mut fand, sein Werk zu Veröffentlichen: wahrscheinlich hielt er seine Idee für nicht professorlich genug und glaubte jetzt den Boden, namentlich durch die Wirkung Nietzsches, besser vorbereitet.

Schon 1875 hatte Vaihinger dem sterbenskranken F. A. Lange seinen Gedankengang brieflich entwickelt und die anspornende Antwort erhalten: »Ich bin überzeugt, daß der von Ihnen hervorgehobene Punkt einmal ein Eckstein der philosophischen Erkenntnistheorie werden wird.« Vaihinger hat diesen Satz, nach einer kleinen Änderung, seinem Buche als Motto vorgesetzt.

Die Arbeit Vaihingers zerfällt in einen sehr wertvollen und bleibenden Gewinn versprechenden historischen Teil und einen sehr anregenden, doch zuletzt unbefriedigenden theoretischen Teil. Zu dem historischen Teile rechne ich die überaus lesenswerten begriffsgeschichtlichen Analysen von Schlagworten aus allen Gebieten der Natur- und Geisteswissenschaften, Analysen, aus denen die rein fiktive Geltung der wichtigsten Begriffe zutage tritt; ich rechne ferner zu dem historischen Teile selbstverständlich die zahlreichen Exkurse des Buches und des Anhangs, in denen Vaihinger gewissenhaft Rechenschaft darüber gibt, bei welchen starken Denkern er seine Idee bereits vorgebildet gefunden habe. Wir werden aber sehen, daß Vaihinger bei seinem Bestreben, die Fiktionslehre bei fast allen bedeutenden Denkern und Forschern nachzuweisen, ein wenig zu weit geht; wo immer er in den alten Schriften die Ausdrücke Fiktion oder als ob oder ähnliche Worte findet, da glaubt[26] er eine bewußte Philosophie der Fiktion unterschieben und sich auf alle diese Denker und Forscher als auf Eideshelfer seiner Idee berufen zu dürfen. In diesem meinem letzten Sätzchen steht z.B. die Wortfolge als auf Eideshelfer; wir werden noch sehen, wie Vaihinger dieses rein vergleichende als, das in meinem Sätzchen wie sonst unzählige Male sogar das Bildliche in der Vergleichung wieder eliminieren möchte, für ein fiktives als ausgibt und namentlich in seiner Als-Jagd bei Kant denn doch über das Ziel hinausschießt, so dankenswert übrigens gerade seine Darstellung der Kantschen Fiktionen ist.

Diese Jagd nach Belegen soll darum nicht getadelt werden; wem es bei der Verfolgung eines fruchtbaren Gedankens nicht nur um die Herstellung einer Abhandlung oder einer Doktordissertation zu tun ist, der muß einem Eifer verfallen wie ein Monomane und hört sein Thema leicht aus bloß ähnlichen Anklängen heraus. Das ist ja eben das bleibende Verdienst Vaihingers, daß er einen Gedanken, der freilich vor ihm oft und gut ausgesprochen worden ist, in dessen richtunggebender Bedeutung erkannt und diesen Gedanken durch eine wahre Sammelwut mit so vielen Anwendungsmöglichkeiten und Autoritäten ausgestattet hat, daß die Schulphilosophie genötigt sein wird, den fruchtbaren Gedanken in die Schule einzulassen.

Seit Niederschrift dieser Zeilen hat Vaihingers Buch, binnen 11 Jahren, nicht nur die 7. und 8. Auflage erlebt, sondern hat selbst, in weit stärkerem Maße als die der Neukantianer, eine Schule begründet, Schule gemacht. Gibt es doch sogar schon eine besondre philosophische Zeitschrift »Die Annalen der Philosophie«, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, die Anwendung der Fiktionenlehre auf alle Wissenschaften auszubauen. Ich darf mich dessen um so mehr freuen, als jede solche Untersuchung der Kritik der Sprache zugute kommt. Wer es nicht schon vorher gelernt hatte, der mag jetzt aus Vaihingers Buche lernen, daß die geläufigsten Begriffe der Mathematik, die allgemeinsten Begriffe der Naturwissenschaft (Atom. Kraft, Gesetz), die ältesten Begriffe der Psychologie und der Ontologie (Seele, Ding) nur Fiktionen sind, an sich unwirkliche,[27] nur für das Ziel einer Denkoperation nützliche Hilfsbegriffe in der Ökonomie des Denkgeschäfts.

Vaihinger weist selbst auf viele Männer hin, die vor ihm die Philosophie der Fiktion gelehrt haben; so besonders auf Ernst Mach, auf Steinthai, auf den zu Recht berühmten F. A. Lange, auf den zu Unrecht wenig gelesenen Laas. Zwei andere Männer, denen Vaihinger auch ganze Kapitel gewidmet hat, werden in der Geschichte der Fiktionsphilosophie mit noch größeren Ehren ihren Platz behaupten: Forberg, den Fachleuten wohlbekannt als der Verfasser des kühnen und schönen Aufsatzes, durch den Fichte in seinen für ihn rühmlichen, für die deutschen Universitäten schmählichen Atheismusstreit geriet, Forberg, der um jenes Aufsatzes willen als Franzose jedem Franzosen, als Engländer jedem Engländer ein stolzer Name geworden wäre, der aber in Deutschland so gut wie vergessen ist; und ein ungleich bekannterer Name: Friedrich Nietzsche.

Wir werden – wie gesagt – noch festzustellen haben, daß Vaihinger die religiösen Lehren Kants viel radikaler darstellt, als sie diesem eigentlich frommen Denker jemals zum Bewußtsein gekommen sind, vor allem aber radikaler, als Kant diese Lehren selbst vortragen wollte und konnte: die Lehre insbesondere, daß die Existenz eines Gottes nicht wahrscheinlich, ja unwahrscheinlich oder sogar unmöglich wäre. Daß Gott eine bloße Fiktion wäre, daß der Mensch bloß so handeln müßte, als ob es einen Gott gäbe. Einen solchen theoretischen Atheismus, der sich freilich von der praktischen Philosophie des moralischen Theismus nicht allzu weit entfernte, lehrte nicht Kant, sondern eben Forberg; in dem Aufsatze »Entwickelung des Begriffs der Religion«, der im Jahrgänge 1798 des »Philosophischen Journals« erschienen war und durch den erläuternden Aufsatz des Herausgebers Fichte erst die Verfolgung durch die sächsischen Regierungen zur Folge hatte. (Wieder abgedruckt im IV. Bande der »Bibliothek der Philosophen«.) Folgende Stellen aus dem Aufsatze Forbergs sind besonders zu beachten.[28]

»Glaube, daß das Reich Gottes, das Reich der Wahrheit und des Rechts kommen wird auf der Erde, und trachte du nur danach, daß es komme!... Glaube, daß auf jeden Schritt, den du um der guten Sache willen tust, im Plan der Gottheit von Ewigkeit gerechnet ist usw. Es ist wahr, du kannst von dem allen nicht scientifisch beweisen, daß es so sein müsse; aber genug, dein Herz sagt dir, du sollst so handeln, als ob es so wäre, und wenn du so handelst, so zeigst du eben dadurch, daß du Religion hast.«

»Es ist nicht Pflicht, zu glauben, daß eine moralische Weltregierung oder ein Gott als moralischer Weltregent existiert, sondern es ist bloß und allein dies Pflicht, zu handeln, als ob man es glaubt.«

»Kann man rechtschaffen sein, ohne einen Gott zu glauben? Antwort: Ja (Denn in der Frage ist ohne Zweifel von einem theoretischen Glauben die Rede.) Kann ein Atheist Religion haben? Antwort: Allerdings. (Von einem tugendhaften Atheisten kann man sagen, daß er denselben Gott im Herzen erkennt, den er mit dem Munde verleugnet. Praktischer Glaube und theoretischer Unglaube auf der einen, so wie auf der andern Seite theoretischer Glaube, der aber dann Aberglaube ist, und praktischer Unglaube können ganz wohl beisammen stehen.)«

Endlich muß noch hervorgehoben werden, daß Forberg sich bei seiner Alsob-Religion auf Kant beruft, an der Richtigkeit seiner Interpretation des Kantschen Gedankens nicht zweifelt, aber doch mit Recht hinzufügt, Kant habe den Gedanken bei weitem nicht immer gehörig gefaßt.

Man sieht: Forbergs Alsob-Religion ließe sich nüchtern Und hart auf die Formel bringen, die Fiktion der religiösen Autoritäten genüge für das moralische Handeln der Menschen; nur gelegentlich wird der Begriff der Fiktion auch auf die Ästhetik und auf die Naturphilosophie angewandt.

Ganz anders, fast unbekümmert um bloß religiöse Fragen, hat Nietzsche, eigentlich während der ganzen fünfzehn Jahre[29] seines philosophischen Schaffens, eine Philosophie der Fiktionen vorgetragen, seinen Perspektivismus, d.h. die Lehre: der Mehrwert der Wahrheit gegenüber dem Scheine sei nur ein moralisches Vorurteil; es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivistischer Schätzungen und Scheinbarkeiten. Nietzsche behauptet den biologischen Nutzen, die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Irrtums; er selbst sagt mit einer störend heftigen Antithese gegen den Wahrheitsbegriff nicht: »des Irrtums«, sondern: »der Lüge«. Es ist sicher, daß Nietzsche zu seiner hohen Bewertung des Scheins besonders durch F. A. Langes »Geschichte des Materialismus« angeregt wurde; es ist nicht unwahrscheinlich übrigens, daß ein Plan aus dem Nachlasse Kants, 1884 veröffentlicht, Nietzsche dazu anregte, seine wundervolle Trotzdem-Religion dem alten Zarathustra, der bei Kant noch Zoroaster geheißen hatte, in den Mund zu legen.

Bei Nietzsche dürfte man, wenn Nietzsches Blitze sich überhaupt zu einer ruhig leuchtenden Flamme vereinigen ließen, wirklich von einer Philosophie der Fiktionen reden, die sich weit über das moralische Gebiet hinaus über die gesamte Erkenntnistheorie erstreckt hätte. Sieht man aber genauer zu, so findet man neben Stellen, in denen allerdings klar bewußt die Gleichwertigkeit der sogenannten Wahrheit und des sogenannten Scheins gelehrt wird, auch andere Stellen, in welchen sich Nietzsche nur wie mit Zerstörungswut gegen irgendeine eben erst von ihm gefundene Wahrheit zu richten scheint. Ich kann nicht oft genug wiederholen, daß es wohl ganz gewiß einen Philosophen Nietzsche gegeben hat, eine unglückliche und tragische Persönlichkeit, deren hochgradig vorhandene, ja verstiegene, bis zum Willen zur Macht über die Welt verstiegene Lebenslust und Lebensfreude sich aufrieb und zuletzt ihren Scharfsinn zerrieb in einer Erkenntnisehnsucht, die von keiner zugänglichen Erkenntnis befriedigt werden konnte; daß es aber eine Philosophie dieses genialen Schriftstellers Nietzsche nicht gibt, so viel Mühe sich auch deutsche Forscher und ausländische Bewunderer seit dem Todesjahre von Nietzsches Gehirn gegeben[30] haben, uns eine Philosophie Nietzsches vorzutragen. Es ging Nietzsche mit seinen Ideen wie mit seinen Freunden; mit glühender Leidenschaftlichkeit warb er um Ideen wie um Freunde; kaum aber waren sie gefunden, so begann er zu analysieren und zu kritisieren, wie ein wißbegieriges Kind in das Innere seines Spielzeugs dringen will, und verwarf am Ende Ideen und Freunde.

Ja, der Perspektivismus Nietzsches, wenn sich auch derartige Aussprüche aus allen Jahren seines philosophischen Schaffens zusammenstellen ließen, hat im Grunde etwas Spielerisches. Der Dichter, wohl auch der Humanist Nietzsche findet ein Leben ohne Ideale (die er gelegentlich geradezu als Ideale der Sprache erkannt hat) unerträglich; in diesem Sinne, scheint mir, nennt er die Irrtümer und Idole lebenfördernd, und nur so wird die oft zitierte Stelle zu verstehen sein: »Die Falschheit eines Begriffes ist mir noch kein Einwand gegen ihn: die Frage ist, wie weit er lebenfördernd... ist. Ich bin sogar grundsätzlich des Glaubens, daß die falschesten Annahmen uns gerade die unentbehrlichsten sind, daß ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktion, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der erfundenen Welt des unbedingten Sich-selber-Gleichen, der Mensch nicht leben kann, und daß ein Verneinen dieser Fiktion... soviel wie eine Verneinung des Lebens bedeuten würde. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn, das heißt freilich auf eine schreckliche Weise die gewohnten Wertgefühle von sich abtun.«

Ungleich wichtiger als die sonstige Als-ob-Jagd Vaihingers, als seine Berufung auf Forberg und auf Nietzsche ist seine Darstellung der nach seiner Meinung einzig wahren Kantischen Philosophie. Um den radikalen Kant, den Vaihinger uns in seinem jetzigen Buche nahe bringen will, wird viel mehr Lärmens entstehen als um Vaihingers Kantkommentar, der eigentlich an dem überlieferten Bilde von Kant nicht viel geändert hat. Man muß aber frei genug sein von allen Schulstreitigkeiten und eingestehen, daß gegenüber den Aufgaben der Erkenntnistheorie selbst die Frage, ob Kant in seinem Herzen ein Christ[31] oder ein Atheist gewesen sei, nur von untergeordneter, nur von historischer Bedeutung ist. Ich muß aber bekennen, daß diese Frage unter allen Fragen der Philosophiegeschichte eine der reizvollsten ist.

Nach der landläufigen Vorstellung hat Kant allen metaphysischen Beweisen für das Dasein eines Gottes, namentlich dem ontologischen Beweise ein für allemal ein Ende gemacht, hat dadurch definitiv die Scholastik besiegt oder vielmehr den Schatten der Scholastik 300 Jahre nach ihrem natürlichen Tode, hat aber als Postulate der praktischen Vernunft den lieben Gott nebst einigen andern Glaubensartikeln wieder eingeführt. Nun lehrt Vaihinger und belegt es mit zahlreichen Aussprüchen: der Gott Kants sei weder ein Postulat noch eine Hypothese, noch gar ein Dogma, sondern einzig und allein eine Fiktion des Königsberger Philosophen; nach Kants einzig wahrer Meinung solle der Mensch nur so leben und handeln, als ob es einen Gott gebe; Kant sei in der Theorie ein Atheist gewesen.

Einwandfrei hat Vaihinger das in seinem Vorworte so ausgedrückt, daß bei Kant unter seinen theologisierenden Ideen noch eine radikalere Unterströmung vorhanden sei; wenn der Verfasser aber wenige Zeilen weiter meint: Kant selbst habe einmal gesagt, man werde seine Schriften erst nach hundert Jahren recht verstehen, und Kant habe mit dieser Prophezeiung die »Als-ob-Betrachtung« der Ideen gemeint, so wird – fast möchte ich sagen – der geistigen Persönlichkeit Kants einige Gewalt angetan.

Zunächst muß der Vorstellung von einem Atheisten Kant ein unbefangenes Lesen seiner Werke entgegenstehen; gewiß, Kant war ein vorsichtiger Mann; gewiß, wir brauchen in seinen Gottesbegriff niemals die rohen oder abergläubischen Merkmale hineinzulegen, die der Begriff etwa in der Volkssprache hat; aber Kant nimmt sich doch überall seines lieben Gottes mit einer Wärme an, die einem im Herzen atheistischen Kant nicht möglich gewesen wäre. Sodann spricht eine negative Instanz gegen die Annahme, daß Kant diese höchsten theologischen Ideen als bloße Fiktionen aufgefaßt habe. Die Aufgabe, die Kant sich[32] gestellt hatte, war ja gerade: vor Errichtung eines neuen philosophischen Gebäudes die Grundlagen der Erkenntnistheorie und der Moral zu untersuchen und sicherzustellen. Wäre es nun seine klar bewußte Meinung gewesen, daß der Mensch nur so zu leben habe, als ob es einen Gott gäbe, so hätte Kant doch seinen ganzen Scharfsinn aufwenden müssen, die Gründe dieser Moral ausfindig zu machen, zu sagen: warum der Mensch gerade so und nicht anders zu leben habe. Kants Riesenanstrengungen, einer künftigen Metaphysik gesicherte, kritische Substruktionen zu bauen, gelten jedoch viel eher der Vernunft-Religion als der Vernunft-Moral.

Vaihinger drückt sich einmal (Seite 713) so unhistorisch modern aus, daß er sagt, Gott sei für Kant nur eine Arbeitshypothese gewesen. Wieder muß ich zugeben, daß Kant sich mitunter recht undogmatisch ausdrückt, so, wenn er den dichterischen Satz des Ovidius »est deus in nobis« so zitiert, als ob das Wörtchen in den Hauptton hätte; aber Kant hofft ja durch solche Sätze den Atheismus oder die Gottesleugnung auszutilgen und verteidigt so oft außer dem Dogma von Gott auch das von der menschlichen Unsterblichkeit. Dadurch, daß Kant solche abstruse Ideen wie reale Dinge auffaßt, daß er eigentlich solche Wörter vielfach mit ihrem ganzen populären Inhalte begrifflich zu verwenden scheint, dadurch wird es ganz besonders deutlich, wie – ich habe kein andres Wort – reaktionär Kant in einem Hauptstreitpunkte der abendländischen Philosophie wirkte und wirken wollte. Ich denke an den niemals genügend gewürdigten Gegensatz, der in der Ausdrucksweise der Scholastik die Nominalisten und die Wortrealisten scheidet. (Ich nenne diesen scholastischen Realismus immer Wortrealismus, um schon durch das Wortbild auf den Unterschied von dem gegenwärtigen Realismus hinzuweisen.) Jener Streit zwischen Nominalisten und Wortrealisten wird von der Philosophiegeschichte andauernd so behandelt, als ob es sich da um alte, längst überwundene Spitzfindigkeiten gehandelt hätte; ich habe in meiner Sprachkritik und durch meine Sprachkritik zu beweisen gesucht, daß die Thesen des Nominalismus, natürlich in[33] veränderter Sprachform, die Ausgangspunkte der neuen Erkenntnistheorie sein und bleiben werden.

Zieht man nach den Fragen dieses alten, aber niemals ganz erloschenen Streites (zwischen den rückständigen Wortrealisten und den fortschrittlichen Nominalisten des späten Mittelalters) eine Trennungslinie zwischen die führenden Geister der Philosophie, so kommt Kant, wenigstens mit den positiven, aufbauenden Versuchen in seinen Schriften auf die falsche Seite zu stehen. Und es muß leider gesagt werden, daß die gesamte kontinentale Philosophie bis vor wenigen Jahrzehnten mehr oder weniger wortrealistisch genannt werden muß, wenn man sie vorurteilslos mit der mehr nominalistischen Philosophie der Engländer vergleicht. Eine ganz kurze Andeutung zweier Beispiele muß genügen. In Locke mochte sein Landsmann Occam nachgewirkt haben, da Locke im Fortgange seiner Untersuchungen über den menschlichen Verstand zu seiner Überraschung beinahe vor die Aufgabe gestellt wurde, die Grundlage seiner Philosophie nachträglich zu legen, das heißt sprachkritisch oder doch sprachpsychologisch der Herkunft der menschlichen Begriffe nachzugehen; so scharfsinnig nun Leibniz in seiner Gegenschrift auch viele Gedankengänge Lockes vertieft und verbessert, in der Hauptsache macht er den Eindruck, als verstehe er gar nicht die Bedeutung der Aufgabe. Und wenn Hume, mehr noch Nominalist als Skeptiker, den tiefsten und ältesten Begriff unter den anthropomorphischen Begriffen der Menschheit, den der Ursache, in seiner fast unfaßbaren Unwirklichkeit erkannt hat, so tritt bald darauf Kant als Humes Widerpart auf, möchte zwar den lieben Gott aus ganz anderen Gründen (aus den Gründen seiner transzendentalen Ästhetik) nicht mehr die erste Ursache genannt wissen, schreibt aber sogar dem Ding-an-sich eine Kausalität zu, was bekanntlich zuerst schon Schulze-Änesidem getadelt hat.

Wenn nun Vaihinger seine These, daß der Gott für Kant nur eine bewußte Fiktion gewesen sei, scharf mit den Worten formuliert, Kant habe nicht die Notwendigkeit der Gottesidee, sondern nur die Notwendigkeit der Gottesidee nachgewiesen,[34] so ist zu erwidern, daß Kant als ein Wortrealist solche Ideen doch allgemein als real auffaßte. So wie Kant in seiner überaus scharfsinnigen, aber dennoch unfruchtbaren Antinomienlehre mit dem Begriff der Unendlichkeit (von Raum und Zeit) fast wie mit einem körperlichen Spielzeuge spielte, so daß für ihn der abstraktere Begriff Unendlichkeit konkreter wurde als die immerhin konkreteren Begriffe Raum und Zeit, so hat Kant auch sein Leben lang (wie der Verfasser des Kantkommentars recht gut weiß) über das Verhältnis Gottes zu Raum und Zeit nachgedacht; eine Fiktion aber hätte irgendein Verhältnis zu Raum und Zeit überhaupt nicht haben können. Ich bemerke ferner, daß Kant an mehr als einer Stelle seinem lieben Gott eine Erkenntnis, eine intuitive Erkenntnis sogar zuschreibt, eine Intuition, die von selbst zum Schaffen wird; auch so etwas ließe sich nicht leicht von einer Fiktion behaupten. In dem Bestreben, Kant zu radikalisieren, scheint mir Vaihinger auch da zu weit zu gehen, wo er (Seite 631) den Kantischen Begriff eines Gedankenwesens (ens rationis) dem Nichts gleichstellt. Aber Vaihinger ist ein viel zu gründlicher Kenner von Kant und seinen Widersprüchen, als daß er nicht wüßte, wie leicht bei Kant nicht etwa nur Hypothesen, sondern auch Fiktionen zu Dogmen erstarren. Vaihinger gibt zu, daß in der »Kritik der praktischen Vernunft« ein zunehmender Dogmatismus Platz greift und die Fiktionslehre ganz zurücktritt. Nicht einverstanden werden andere Kantforscher damit sein, daß Vaihinger, um seinen radikalen Kant zu retten, das Meisterwerk der »Prolegomena« schwächlich nennt.

Fast überflüssig mögen diese Einwürfe gegen das neue Kantbild erscheinen, wenn man die Stellen liest, an denen Vaihinger selbst sagt, er habe nur diejenigen Äußerungen herausgezogen und erörtert, welche für die Theorie der Fiktion sprechen. »Aber bei Kant finden sich in demselben Zusammenhang auch vielfach Stellen, welche eine entgegengesetzte Auslegung zulassen, ja fordern.« Man ist kein Philister und kein Schulmeister, wenn man immer wieder daran erinnert, daß Kant sich in seiner ungleichen, bald entzückend prägnanten und bald[35] seinem allumfassenden Gehirn schwer abgerungenen Sprache unzählige Male widersprochen habe. Hätte Vaihinger seinen neuen Kant nicht einen Atheisten, sondern bloß einen Symboliker oder einen Metaphoriker genannt (wie »Kantstudien« VI, 115 ff.), so wäre das auch nicht einfach zu unterschreiben; aber man müßte zugehen, daß diese Unterströmung in Kants ungeheurer Geistesarbeit vor Vaihinger nicht genügend beachtet worden ist.

Ich möchte noch ein einziges Beispiel dafür geben, wie Vaihinger sich auf seiner Als-ob-Jagd verführen ließ, ein Zufallswörtchen für tief und aufschlußreich zu halten. Er zitiert viele Sätze aus dem Opus Posthumum; und ich möchte nicht leugnen, daß ein orthodoxer Theologe an der Fassung dieser Sätze einigen Anstoß nehmen müßte. Kant nähert sich da in seiner Weise, vorsichtiger und vornehmer zugleich, der bekannten Feuerbachschen Parodie, daß der Mensch die Götter nach seinem Ebenbilde geschaffen habe. Kant wagt sogar schon den Gedanken, die Idee von einem solchen Wesen gehe aus dem kategorischen Imperativ hervor und nicht umgekehrt; ein Gott sei in der menschlichen praktischen Vernunft notwendig gedacht, subjektiv, obgleich nicht objektiv gegeben. Man könnte wirklich den Verfasser solcher Wortfolgen einen Atheisten nennen. Aber Kant fährt fort. »Hierauf gründet sich der Satz der Erkenntnis aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote.« Vaihinger erblickt dieses als, fängt es ein und spießt es auf. In der deutschen Sprache jedoch, auch in der Sprache Kants, ist das als an dieser Stelle durchaus kein Bekenntnis zur Unwirklichkeit eines Gottes, sondern im Gegenteil ein Rückzug auf den populären Standpunkt. »Erkenntnis der Menschenpflichten als göttlicher Gebote« heißt »Erkenntnis, daß Menschenpflichten göttliche Gebote sind«; nicht »die falsche Meinung, als ob Menschenpflichten göttliche Gebote seien«. Wenn ich sage, »Vaihinger hat seinen Kommentar geschrieben als ein Kenner Kants«, so will ich ganz ehrlich sagen: »Vaihinger ist bekanntlich ein Kenner Kants und hat seinen Kommentar als oder so[36] geschrieben«; nicht aber: »Vaihinger schrieb, als ob er ein Kenner Kants wäre«. (Näheres über Kant's »Opus postumum« und den Streit zwischen Vaihinger und Adickes siehe meine »Geschichte des Atheismus« B. IV, S. 30 ff.)

Nicht ganz überflüssig scheint es mir, Verwunderung darüber auszusprechen, daß dieser Kantkenner einmal (Seite 727) seine Darstellung des radikalen Kant wie eine esoterische Lehre aufgefaßt wissen will, der gegenüber der gläubige Kant »in den Schulbüchern für alle Zeiten stehen bleiben mag«, als exoterische Lehre also; das wahre Denken von Kant zu erforschen, ist eine rein historische Aufgabe, und Historie wenigstens sollte eine voraussetzungslose Wissenschaft sein.

Nun aber zurück zu der eigentlichen Frage: was ist eine Fiktion? Welche Idee verbirgt sich hinter der Lautfolge als ob?

Ich müßte weit ausholen, wollte ich die Unbestimmtheit dieser Idee oder ihres Sinnes an der Bedeutungsgeschichte der beiden Wörtchen als und ob darstellen; die Länge dieses Weges stünde in keinem erfreulichen Verhältnis zum Ziele, weil doch der Ausdruck in den verschiedenen Sprachen (trotz der Einwirkung der von mir oft hervorgehobenen Regel der Lehnübersetzung) nicht ganz der gleiche ist; englisch as if entspricht zwar genau unserem als ob, lateinisch quasi entspricht ziemlich genau dem französischen comme si, que si (lateinisch quodsi); aber die romanischen Sprachen decken sich nicht ganz mit den germanischen. Ich möchte also in den folgenden Ausführungen von der Zufallsform als ob absehen und den hinter der Partikel steckenden Gedanken allein behandeln, unbekümmert darum, ob er durch als ob oder durch wie wenn, as if, comme si, quasi ausgedrückt worden war. Überall werden wir die gleiche Unbestimmtheit des Sinnes finden; überall wird der Sinn der Partikel durch den Sinn des Satzes beeinflußt, und nicht umgekehrt; überall läßt sich der Sinn des Satzes erst von dem begreifen, der die Seelensituation des Sprechers kennt. Auf etwas Unwirkliches scheinen die Sätze, die durch eine der genannten Partikeln an den oft nur scheinbaren Hauptsatz angefügt[37] sind, auf etwas Unwirkliches scheint (richtiger gesagt) so ein konditionales Satzgefüge fast immer hinzuweisen. (Nicht immer, denn die grammatische Form des Konditionalsatzes kann zum Beispiel eine Behauptung unterstreichen.) Ob aber das Unwirkliche durch diese Sprachform für einen Irrtum, einen Aberglauben, eine mögliche Wahrheit (Hypothese) oder für einen Hilfsbegriff (Fiktion) erklärt werden soll, das sieht man der bloßen Sprachform wahrhaftig nicht an. Wir werden nachher besonders den Unterschied zwischen Hypothese und Fiktion zu betrachten haben.

Zunächst sehen wir uns die beiden Fälle näher an, die bei Vaihinger naturgemäß am häufigsten herangezogen werden: das als ob des Gottesbegriffes, das für die Fiktionslehre Kants entscheidend wäre, und das mathematische als ob, das offenbar zum besseren Verständnis theologischer und moralischer Fiktionen dienen soll.

»Der Mensch soll so leben und handeln, als ob es einen Gott gäbe.« Selbst eine geringe Aufmerksamkeit müßte zu der Feststellung führen, daß mit diesem Satze (sobald man die Seelensituation des Sprechers nicht anderswoher kennt) über die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit eines Gottes nichts ausgesagt wird. Der orthodoxe Katholik kann den Satz einem Epikureer entgegenhalten und hätte dann nur zu beweisen, daß eine solche Maxime unter allen Umständen nützlich wäre; der Atheist kann mit dem gleichen Satze den Grund seiner theoretischen und praktischen Moralität angeben wollen und hätte dann nur zu erzählen, wie er ohne göttliche Offenbarung zu seinem theologischen Sollbegriff gekommen ist. Nur soviel kann ich zugeben, daß sich in jenem jedenfalls logisch nicht zu rechtfertigenden Satze die Möglichkeit eines Zweifels an der Wirklichkeit Gottes auszusprechen pflegt.

Ganz anders, aber auch ganz anders steht es um das als ob mathematischer oder geometrischer Sätze. Das beste Beispiel wäre der Differentialbegriff; aber nicht jeder Philosoph ist mit diesem Begriffe auf du und du. Ein gutes Beispiel wären in diesem Zusammenhange die Koordinaten der analytischen Geometrie,[38] weil Vaihinger diese ausgesprochenen Hilfsbegriffe oder Hilfslinien mehrfach den Fiktionen zugerechnet hat (Seite 83 und Seite 568); aber ich möchte nicht einen Irrtum des verdienten Mannes zum Ausgangspunkte nehmen. So halte ich mich an das alltägliche Beispiel, das überaus häufig benützt wird. »Der Kreis ist so anzusehen, sein Umfang oder seine Fläche ist so zu berechnen, als ob der Kreis ein regelmäßiges Vieleck von unendlich vielen Seiten wäre.« Etwas von dem Hilfsbegriff des Infinitesimalen und etwas von den Hilfskonstruktionen der Koordinaten steckt ja auch in der Berechnung des Kreises aus seinem Radius. Diese Hilfsvorstellung nun, daß der Kreis ein Unendlicheck sei, ist nun ganz sicher kein Aberglaube und keine Hypothese; sie ist aber auch kein Irrtum, denn der Kreis ist sowohl für mathematisches Denken wie für die praktischen Aufgaben der Geometrie einem regelmäßigen Unendlicheck völlig gleich. Man wird also diese Hilfsvorstellung eine Fiktion nennen dürfen. Was heißt das?

Unbedingt nicht, daß die Hilfskonstruktion eines regelmäßigen Vielecks von zum Beispiel 6x2100 Seiten unausführbar oder gar unwirklich wäre; unwirklich sind nicht die Koordinaten, mit deren Hilfe der Mathematiker die Formel einer sonst unbestimmbaren Kurve der Rechnung unterwirft; so wenig als der herbstliche Kirschbaumzweig unwirklich ist, mit dessen Hilfe das Eichhörnchen, ohne den ihm gefährlichen Boden zu berühren, sich auf den nußtragenden Baum hinüberschwingt. So wenig als das hölzerne Gerüst unwirklich ist, mit dessen Hilfe der Baumeister auf dem Kirchturm die letzten Steine zusammenfügt und die Kreuzblume aufsetzt. Hilfskonstruktionen sind keine Fiktionen im Sinne Vaihingers. Die Gerüste werden freilich wieder abgetragen; sie würden den ästhetischen Zweck des Kirchturms nur stören. Die eingeschriebenen und umgeschriebenen regelmäßigen Vielecke werden vielleicht in den Papierkorb geworfen, nachdem es gelungen ist, den Wert von p bis auf die 9. oder gar nach modernen Methoden bis auf die 700. Dezimalstelle zu berechnen. Man mag die Zahl der Seiten eines solchen Vielecks unausdenkbar groß nennen aber eine Fiktion[39] ist ein Vieleck von einer solchen Seitenzahl ebensowenig wie ein Sechseck, einerlei ob Ludolf für seine Berechnungen und Zeichnungen viele Jahre brauchte oder ob die neuen Methoden eine wesentliche Abkürzung der Weiterarbeit gestatten. Für die Praxis gar, selbst für die genauesten Aufgaben der astronomischen Praxis, macht es keinen Unterschied, ob p eine rationale Zahl ist oder »nur« bis auf einige hundert Dezimalstellen errechnet; so ist auch für die menschliche Vorstellung, mag man über die irdischen Verhältnisse hinaus auch an die unseres Sonnensystems denken, kein Unterschied zwischen einem Kreise und etwa einem Milliardeneck, dessen Konstruktion oder Vorstellung für einen p-Wert von 35 Dezimalstellen schon nötig wäre. Mag man immerhin diese Gleichsetzung von Kreis und Milliardeneck eine optische Täuschung nennen; eine optische Täuschung ist es auch in metaphorischem Sinne, wenn die Einsetzung eines Undenklichecks in die Kreisberechnung eine Fiktion genannt wird. Jede, aber auch jede Annäherung an das Unendlicheck, jede, aber auch jede feinere Bestimmung des p-Wertes – und wäre es bis zu einer Million Dezimalstellen – beruht auf einer mathematischen Wirklichkeit, auf möglichen Hilfskonstruktionen. Einzig und allein der Grenzbegriff, der Begriff unendlich darf eine Fiktion genannt werden. Aber nicht anders als der Infinitesimalbegriff in der hohem Mathematik, der Atombegriff in der Chemie, der Ionbegriff in der modernen Physik, ja sogar nicht anders als der Idealbegriff in der Moral.

Ich erwähne den Idealbegriff in der Moral (ich hätte auch den der Ästhetik nennen können), um gefällig eine Verbindung mit der Fiktion des Gottesbegriffes herzustellen. Alle diese Begriffe haben nun das Gemeinsame, daß sie einen tief versteckten Widerspruch enthalten: sie wollen der adjektivischen Welt angehören, der sinnfälligen Welt des einseitigen Sensualismus, treten aber aus dieser Sinnenwelt dadurch heraus, daß sie unmögliche Superlative sind. Man soll bei ihnen bald an unaussprechlich kleinste Teile, bald an unaussprechlich beste Anthropomorphismen denken. In denjenigen Sprachen, in[40] denen es einen Superlativ nicht gibt, sind darum alle diese Fiktionen nur schwer auszudrücken; mit Hilfe von schlechten Lehnübersetzungen sind freilich alle diese Fiktionen von Sprache zu Sprache gewandert.

Ganz nebenbei möchte ich auf einen Unterschied der beiden Gruppen hinweisen, der eigentlich ein Unterschied des Gefühlswertes im Gebrauche der beiden Gruppen ist. Bei der Gruppe der minimalen Superlative (Infinitesimal, Atom, Ion) ist der Gefühlston so kühl, daß man die Hilfskonstruktionen beiseite wirft, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan haben, daß man das Gerüst wieder abträgt; bei der Gruppe der maximalen Superlative (Gott, Ideal) ist der begleitende Gefühlston so stark, daß man die Hilfskonstruktion, die Wörter, für heilig hält, daß man das Gerüst um den Kirchturm stehen läßt.

Diese beiden Gruppen der maximalen und der minimalen Fiktionen unterscheiden sich also durch ihren Gefühlston; da nun dergleichen absolute Superlative in einer streng logischen Sprache keinen Platz hätten, da die Fiktion darum keine gute sprachliche Definition zuläßt, außer etwa eine gefühlsmäßige, da endlich just im Gefühlston ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen den maximalen Fiktionen der Moral usw. und den minimalen Fiktionen der Naturwissenschaft: so werden wir es völlig aufgeben müssen, auch nur zu einer gefühlsmäßigen Definition der Fiktion zu gelangen, wenn diese Definition für alle Fiktionen zugleich gelten soll. Das ist aber offenbar eine Gefahr für die Fiktionsphilosophie.

Vaihinger bezeichnet es einmal als den Kern seiner ganzen Untersuchung: den methodologischen Gegensatz der Fiktion zur Hypothese klarzulegen. Gewiß hat er sehr viel dazu beigetragen, durch emsigste Zusammenstellung guter Gedanken sowie durch ein tiefes Eindringen in das Problem die Frage in ihr wahres Licht zu rücken; aber das letzte Wort hat er doch nicht gesprochen, weil er sich nicht davon überzeugen konnte oder wollte, trotz einiger Anläufe zu dieser Ansicht, daß es sich um eine sprachkritische Frage handelt, daß alle wichtigen Begriffe der Sprache, vielleicht alle Begriffe wesentlich Fiktionen[41] sind. Zitternd und schwebend sind die schwierigen Begriffe noch mehr als die alltäglichen, und darum wird es niemals gelingen, den Gegensatz zwischen Hypothese und Fiktion reinlich klarzulegen.

Selbst in moralisierenden, in theologischen und den verwandten juristischen Darlegungen wird es oft vorkommen, daß der Leser das für eine Hypothese nimmt, was der Schreiber in seinem Bewußtsein als eine Fiktion erfunden hat (oder umgekehrt); in den Naturwissenschaften gar verwischt sich die Grenze zwischen brauchbaren Fiktionen und möglichen Hypothesen viel leichter, als die redenden Menschen meinen. Das Ich war, seitdem Menschen auf der Erde leben, eine Wirklichkeit, ist jetzt für einige verwegene Denker eine Fiktion geworden; und sicherlich werden bald vorsichtige Philosophen es wieder als eine Hypothese zu retten suchen. Newton war trotz seines berühmten Wortes hypotheses non fingo (Hypothesen werden also fingiert!) doch wohl nicht ganz klar darüber, ob seine Gravitation ein Gesetz (Wirklichkeit) oder eine Hypothese oder eine Fiktion war. Eine Hypothese ist immer eine mögliche Erklärung; eine Fiktion kann zu einer Erklärung umgewandelt werden. Der Darwinismus war bei Goethe noch eine offenbare Fiktion; bei Darwin selbst sollte die Entstehung der Arten durch eine Hypothese erklärt werden, die für uns schon wieder zur Fiktion geworden ist. Der erste Satz der mechanischen Wärmelehre, der Satz von der Erhaltung der Energie, trat zuerst als eine geniale, höchst wahrscheinliche Hypothese auf, wurde dann zu einem erklärenden Gesetz erhoben, ist aber für uns, die wir das Metaphorische im Kraftbegriffe oder im Energiebegriffe durchschaut haben, doch wieder nur ein metaphorisches Gesetz, also eine Fiktion im Banne der Sprache. Ich muß ausdrücklich und noch einmal darauf hinweisen, daß Vaihinger gerade den Wandel zwischen fiktiven und hypothetischen Annahmen vorzüglich dargestellt hat: nur das obere Stockwerk, von welchem aus gesehen Hypothesen und Fiktionen ungefähr in der gleichen Niederung der Sprache liegen, hat Vaihinger nur ein- oder zweimal für kurze Augenblicke erreicht.[42]

Wenn wir uns nur an die Naturwissenschaften halten, so werden wir selbst da sehen, daß der Unterschied zwischen Fiktionen und Hypothesen mehr ein psychologischer ist als ein objektiver. Auch sonst trifft das zu; in der historischen Sprachwissenschaft zum Beispiel kommt es auf das Bewußtsein des Forschers an, ob er die sogenannten Sprachwurzeln als Hypothesen ansieht oder als Fiktionen; arbeiten kann er auf seinem Gebiet in beiden Fällen. Aber in den Naturwissenschaften wird der psychologische Charakter der Frage viel deutlicher.

Was soll das heißen: eine Hypothese erklärt, nicht eine Fiktion? »Erblichkeit und Anpassung erklären die Entstehung der Arten.« Nein. Ein Mensch, ich oder du, oder Darwin sieht in Erblichkeit und Anpassung die Erklärung; wer diese Erklärung nicht ausreichend findet, der erblickt im Darwinismus nur eine Fiktion. Nun aber: »Ich kann den Kreis ausrechnen, wenn ich ihn so betrachte, als ob er ein regelmäßiges Unendlicheck wäre.« Nein. Wenn ich mir vorstelle, daß der Kreis aus der regelmäßigen Aneinanderfügung unendlich kleiner Seiten eines Unendlichecks entstanden ist, dann wird die Fiktion zu einem Grunde des Werdens, zu einer Erklärung. Ich brauche nicht auszuführen, daß es sich ebenso verhält bei der Annahme einer Anziehungskraft oder Gravitation zwischen den Weltkörpern; von der Seelensituation eines Newton hängt es ab, ob er eine Hypothese denkt oder eine Fiktion bei dem Satze: »Die Körper unsers Sonnensystems bewegen sich, als ob sie einander anzögen.«

Schon Lotze hat auf den von Vaihinger hervorgehobenen Unterschied hingewiesen zwischen der bewußt falschen, doch zweckmäßigen Fiktion und der vorläufigen, durch ihre Verifizierung Gesetzeskraft erlangenden Hypothese. Aber alle letzten Hypothesen führen auf metaphorische Sprachworte als Oberbegriffe zurück und werden so selbst zu Fiktionen im Bewußtsein derjenigen, die den metaphorischen Charakter der Sprache durchschaut haben.

Denn was von den Fiktionen gilt, das gilt von allen wichtigern und abstraktem Oberbegriffen der Sprache. Wie der [43] Begriff Baum etwa entstanden sein mag dadurch, daß die Menschen aus ungefähren Analogien oder Ähnlichkeiten oder Vergleichungen für vergleichbare Gewächse einen Allgemeinbegriff fanden, so sind auch die Fiktionen der Naturwissenschaft entstanden und die moralischen Fiktionen dazu. Nur der sprachliche Ausdruck ist etwas komplizierter, sobald es sich um vergleichbare Annahmen handelt, die sich nicht gut anders als durch einen hypothetischen Satz ausdrücken lassen. »Der Kreis ist eine Ellipse, deren Brennpunkte zusammenfallen.« Das sind metaphorische Allgemeinbegriffe, die nur nicht so alltäglich sind wie Baum. Es ist nur eine Pedanterie der Sprache, im zweiten Beispiel die Annahme durch ein fragendes ob oder durch ein bedingendes wenn auszudrücken, die bewußte Vergleichung oder das Bewußtsein der Vergleichung durch als oder wie. Die Fiktion ist eine vergleichende Verallgemeinerung in der Form eines hypothetischen Satzes, dem man es ansehen soll, daß er nur vergleichsweise gemeint ist.

Nur als Andeutung möchte ich hier hinzufügen, daß bei der schärfsten Einstellung des sprachkritischen Sehapparates die vermeintliche Erklärung von Naturerscheinungen mit deren Beschreibung durch Begriffe zusammenfällt. In jedem, auch in dem plansten Begriffe steckte bei seiner Entstehung eine vorläufige Hypothese und eine Vergleichung. (Baum.) In jedem Erklärungsversuche steckt die Annahme einer regelmäßigen Folge, die durch ein wenn ausgedrückt wird, durch ein zeitliches oder bedingendes wenn, und durch eine Vergleichung. Die Formel wie wenn oder als ob ist der allgemeinste oder populärste Ausdruck der sprachkritischen Idee. Alle Worte unserer Sprachen sind Hilfskonstruktionen, dem Abtragen geweihte Hilfsgerüste. Je reicher ein Wort ist an Begriffsumfang, je ärmer also an Begriffsinhalt, desto klarer trifft die Definition zu: Worte sind Hilfshypothesen.

1

Die Philosophie des Als ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Von H. Vaihinger. (Felix Meiner, 7. u. 8. Auflage 1922).

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. 25-44.
Lizenz:
Faksimiles:
25 | 26 | 27 | 28 | 29 | 30 | 31 | 32 | 33 | 34 | 35 | 36 | 37 | 38 | 39 | 40 | 41 | 42 | 43 | 44
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Frau Beate und ihr Sohn

Frau Beate und ihr Sohn

Beate Heinold lebt seit dem Tode ihres Mannes allein mit ihrem Sohn Hugo in einer Villa am See und versucht, ihn vor möglichen erotischen Abenteuern abzuschirmen. Indes gibt sie selbst dem Werben des jungen Fritz, einem Schulfreund von Hugo, nach und verliert sich zwischen erotischen Wunschvorstellungen, Schuld- und Schamgefühlen.

64 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon