Gebet

[537] Gebet – Wort und Begriff ist nach Herkunft und Inhalt merkwürdiger, als unser Sprachgefühl auf den ersten Blick oder auf das erste Hören zu glauben geneigt ist. Zunächst ist, was Jacob Grimm schon wußte, »Gebet« nicht von »beten« abgeleitet, sondern von »bitten«, wenn seine Vermutung richtig ist, auch die Körperhaltung des Flehenden, auf ein Sich-hinlegen, Sich-zu-Boden werfen; so daß die andre Vermutung, daß »Bett« aus der gleichen Wurzel herkomme, Unterstützung findet. »Das Gebet« wäre also eine Bezeichnung für den ganzen Apparat, der einen Bittsteller mindestens auf die Knie sinken läßt; als ob ein Fürst oder gar ein Gott verächtlich von einem »Gebet« oder »Geliege« reden wollte. Mit dieser Herkunft des Wortes hängt es zusammen, daß »Gebet« jedes Bitten bedeutet, zu weltlichen wie zu himmlischen Mächten; wie denn auch fr. prier, it. pregare zur[537] Übersetzung sowohl von Beten als von Bitten dienen muß1. Es widerspricht also weder der Herkunft des Wortes noch sonst der menschlichen Niedrigkeit, wenn der Fetischdienst aller Volksreligionen das Gebet mit der Vorstellung einer Bitte verbindet, einer Bitte um ein Wunder, das die zwar allmächtige, aber dem Gebetworte dennoch dienstbare Gottheit zugunsten des Betenden oder (»Fürbitte«) seiner Angehörigen ausführen soll. Dieses Gebet der Volksreligion ist ein Zauberspruch, seine fromm erwartete Wirkung ein Zauberwerk. Der Zauber steckt in den überlieferten Worten des Gebets; sonst würden die Juden nicht solchen Wert darauf legen, daß die Gebete in der toten hebräischen Sprache aufgesagt würden; sonst würde die katholische Kirche nicht an der toten lateinischen Sprache festhalten, sonst hätte da und dort nicht der Skandal aufkommen können, daß man den Zauber schon von der mechanischen Wiederholung der Gebetformel erhofft, wie das bei den zumeist verrufenen Gebetmühlen der Tibetaner geschieht, vielleicht auch bei den in den Gebetriemen der Juden eingenähten Sprüchen, endlich aber überall da, wo die Wiederholung der Formel (man denke an den sicherlich aus Asien eingeführten Rosenkranz) nach psychologischen Gesetzen mechanisiert wird.

Diese Auffassung des Gebets mußte der abendländischen Theologie endlich unerträglich erscheinen; in der Vorstellung (weil sie eigentlich beglaubigten Herrenworten widersprach, wo vor dem Beten gewarnt wird) und in der Auswirkung (weil der Fetisch, der kein Wunder tat, leicht verflucht oder verprügelt oder abgesetzt werden konnte). Man begann einzusehen, daß das Gebet der Volksreligion, die Bitte um ein Wunder, die Religion auf den Zauberglauben der afrikanischen Medizinmänner hinabdrückte. Nicht nur die protestantischen,[538] auch die katholischen Theologen2 sannen auf Abhilfe; zunächst durch eine Umdeutung des Begriffs »Gebet«. Jeder Dank an die Gottheit, jede Hinwendung des Ich zu dem großen Du, dem Nicht-Ich, außer der Welt, endlich jede Erhebung der Seele zu Gott, also jede Andacht, sollte für ein Gebet gelten. Wodurch sich dann das christliche Gebet von den Zaubersprüchen der Juden, der Moslemin und der Heiden vorteilhaft unterschieden hätte. So wurde das Vaterunser, in seinem Hauptteil eher ein Bekenntnis als zu einem Gebete; wie der Gruß an Maria. Niemand schien sich bei diesem Bedeutungswandel, von dem nur die Gebildeten etwas erfuhren, darum zu kümmern, daß das Volk bei seinem uralten Zauber- und Wunderglauben beharrte und nach wie vor den Fetisch prügelte oder doch schmähte, der sich nicht willig zeigte.

So ist nun das Volk. Was aber ist das Gebet dem wissenschaftlich gebildeten Menschen, sagen wir einmal: dem Deisten, der noch an einen Gott glaubt und sich ehrlich zu erheben vermeint, wenn er in Andacht seine Worte an den Schöpfer richtet. Eine Bitte kann es nicht mehr sein; denn der Deist ist tief durchdrungen von der unentrinnbaren Notwendigkeit alles Geschehens, von dem Nichtdasein irgend eines Wunders, also von der Unerfüllbarkeit eines Bittgebets; aber auch eine Zwiesprache zwischen dem Einzelmenschen und einer sprachlosen, unpersönlichen, tauben und stummen Gottheit kennt er nicht. Die Gottheit kann ihn nicht hören, kann ihm nicht antworten. Es geht ihm, ohne daß er ein Brudermörder[539] zu sein braucht, mit seinem Gebetsversuche wie dem Könige im »Hamlet«: »Die Worte fliegen auf, der Sinn hat keine Schwingen; Wort ohne Sinn kann nicht zum Himmel dringen.«

Wenn aber weder eine Erhörung des Gebetes stattfindet (Stufe des Fetischdienstes) noch eine Verbindung zwischen dem Beter und der Gottheit (Stufe einer geläuterten Religion), so ist wirklich nicht abzusehen, was es mit dem Begriffe »Gebet« noch auf sich habe. Es ist nur noch ein psychologischer Akt, durch welchen oder bei welchem der Betende wärmer wird, als er ohne die Gebetanstalten gewesen wäre. Ich will lieber nicht aussprechen, womit sich so ein Gebet vergleichen ließe. Und diesen Bedeutungswandel von dem Worte »Gebet« hätte schon Schleiermacher vollziehen müssen, wenn er ehrlich gewesen wäre und tapfer. Denn ein Gebet, das keine erfüllbare Bitte mehr enthält, ist so unnützlich wie das Wort des Predigers in der Wüste, wie ein Hineinsprechen in ein Telephon, das mit niemand verbunden ist. Es ist höchstens noch eine Entladung des von Sorgen gespannten Gemüts, etwa so viel wie ein kräftiger Fluch. Ich kann aber nicht leugnen, daß diese religions-psychologische Gleichsetzung von Gebet und Fluch – als innrer »Erwärmung« – doch anders klingt, als was ein protestantischer Theologe vom Range Révilles über das Gebet zu sagen hatte: »L'homme est un être adorant; d' il faut conclure immédiatement, qu'il existe un être adorable.« Man achte auf jedes Wort dieser irrsinnigen Schlußfolgerung, um zu ermessen, was man den Gläubigen in einer scheinwissenschaftlichen Sprache vorzusetzen wagt. In gefälligen Worten. Der Mensch ist ein betendes Wesen; daraus folgt – immédiatement - , daß es einen Gott gibt. Der Mensch lügt, also gibt es einen Teufel. Der Mensch hat die Gewohnheit, sich zu waschen; also ist die Erzählung von einer Sintflut nicht zu bestreiten.

1

Zu beachten ist, daß das Stammwort der romanischen Sprache (lat. precari) von einer »Wurzel« prak herzukommen scheint, die auch plak lauten könnte, und daß supplicare eigentlich »in die Knie fallen« heißt.

2

Nur muß man da die geistigeren französischen Katholiken lesen, nicht etwa das in Deutschland unendlich verbreitete, populäre, pöbelhafte »Unterrichts- und Erbauungsbuch« von Goffine, das auch noch in seinen neuen, von Georg Ott besorgten, Auflagen eine Zauberkraft des Gebetes annimmt. Nur ein Beispiel (S. 261): »Warum erhöret Gott manchmal unser Gebet nicht? 1. Weil wir oft um Dinge bitten, die uns schädlich wären, und deswegen verweigert uns Gott dieselben, wie ein guter Vater, um uns etwas Besseres und Nützlicheres dafür zu geben. 2. Um unsre Geduld und Beharrlichkeit im Gebete zu prüfen. 3. Weil wir gemeiniglich nicht beten, wie wir sollen.« usw. usw.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. 537-540.
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