Gebet [1]

[26] Gebet, 1) im weitern Sinne die mit Ernst, Andacht u. wirklicher Bewegung des Gemüths verbundene Erhebung der Gedanken zu einem höhern Wesen, u. im engern Sinne 2) die aus dieser Stimmung hervorgehende Anrede od. Anrufung des höchsten Wesens. Man unterscheidet das Lobgebet, das es mit Bewunderung der Größe u. Herrlichkeit Gottes zu thun hat; das Dankgebet, welches sich an empfangene Wohlthaten anknüpft; das Bittgebet, welches Gotte Wünsche u. Anliegen mit Vertrauen u. Ergebenheit vorträgt; u. die Fürbitte, welche ein G. für das leibliche od. geistige Wohl anderer Menschen ausspricht. Der höhere Grad des G-s ist die Anbetung (s.d.), welche nur Gott gebührt, meist mit äußern Zeichen, z.B. Händefalten, Kniebeugen etc. verbunden ist u. hauptsächlich bei der öffentlichen Gottesverehrung stattfindet. Schon bei den heidnischen Moralisten war es Regel, jede wichtige Thätigkeit mit den Göttern anzufangen, so bei Sokrates, Plato, bei den Römern etc. Über das G. bei den verschiedenen alten u. neuern Völkern s. die besondern, der Darstellung ihrer Religion gewidmeten Artikel, so bes. Parsismus, Indische Religion, Griechische Religion, Römische Religion, Judenthum, Muhammedanische Religion etc., od. überhaupt die ethnographischen Artikel. Hier nur vom christlichen G. Wie im Alten Testament schon bei den Patriarchen, später bei Moses, David, Salomo u. den Propheten das G. eine wichtige Stelle einnahm, so gibt die Lehre Jesu im Neuen Testament den trefflichsten Unterricht über das G., namentlich über das stille G., über die Gebetserhörung, über den Inhalt des G-s etc., u. den Christen wird es bes. empfohlen durch Jesu u. der Apostel Lehre u. Beispiel u. als Pflicht gegen Gott. Daher schon bei den ersten Christen das G. eins ihrer Haupthandlungen war, wodurch sie den Gottesdienst heiligten. Auch behielten sie Anfangs die Sitte, beim G. die Hände auszubreiten, bei, veränderten aber, als die Staurodulie einriß, diese Haltung, indem sie, um die Kreuzigung des Heilandes zu versinnbilden, die Arme gleichweit ausspreizten, wobei sie bei langen G-en die der Unterstützung bedürftigen Arme durch Diener stemmen u. halten ließen. Später legte man auch die Arme kreuzweis über einander, die orientalische Sitte der Unterthänigkeit u. Demuth nachahmend; dann hob man blos die über einander gelegten halb hohlen Hände, bis es endlich zu dem jetzt üblichen Händefalten kam, welches im Alterthum sowohl ein [26] Zeichen des tiefsten Schmerzes als der Demuth war. Die G-e in den ersten Christengemeinden schlossen sich meist dem jüdischen Cultus u. den in der Synagoge gewöhnlichen Gebräuchen an. Man betete am öftersten das Vaterunser (s.d.) u. die Collecte, später auch an hohen Festen besondere Litaneien, u. verrichtete sein G. meist stehend, od. abwechselnd zwischen Stehen u. Knieen, mit erhobenen Augen u. Händen u. mit dem Gesicht nach Morgen dreimal des Tages, nachdem man sich vor dem G. die Hände gewaschen hatte, gewöhnlich an dem Versammlungsorte der Gemeinde od. auch im Hause. Bei Tertullian u. Origenes finden sich sehr ausführliche Vorschriften über das G. Indeß vermischte sich bald mit dem G. viel Abergläubisches, man schrieb demselben eine übernatürliche Kraft zu, betete darum für die Märtyrer, für die Todten, um ihnen die Seligkeit von Gott zu erbitten, richtete sich dabei an die Märtyrer selbst od. an die Jungfrau Maria, legte auf die Zahl der G-e einen großen Werth, so daß oft von den Mönchen täglich über 300 G-e gesprochen wurden, empfahl die nächtlichen G-e innerhalb u. außerhalb der Kirchen etc. Übrigens gab es vielleicht schon im 2., jedenfalls aber im 3. Jahrh. bestimmte Gebetsformeln, u. je mehr sich im 4. Jahrh. der öffentliche Gottesdienst ausbildete, desto mehr erstrebte man in den G-en eine gewisse Übereinstimmung. In der scholastischen Zeit warf man über das G. eine Menge einzelner Fragen auf, u. namentlich beschäftigte sich Alexander von Hales mit der Untersuchung, ob das G. eine Tugend sei, ob die Seligen, die im Fegfeuer Befindlichen u. die Verdammten beten dürfen, ob man zu Gott allein beten müsse, ob man für Excommunicirte, Verdammte u. Selige beten solle, was in Bezug auf Zeit, Ort u. Geberden zu beobachten sei etc. In der Reformation hielt die Protestantische Kirche in ihren Bekenntnißschriften an dem Grundsatz fest, daß man nur zu dem dreieinigen Gotte zu beten habe, u. bezeichnete jede Anrufung anderer Wesen um Hülfe als Abgötterei, während die Katholische Kirche neben der nur Gott gebührenden Anbetung auch eine Anrufung der Heiligen, der Engel u. der Mutter Gottes, Maria, festhielt. In neuerer Zeit (1840) entstand in Magdeburg ein Streit darüber, ob man zu Christo beten dürfe, was von rationalistischer Seite verneint, von orthodoxer Seite bejaht wurde (s.u. Protestantische Kirche).

Die christliche Moral bezeichnet das G. als eine Religionspflicht u. als ein wichtiges Tugendmittel u. schreibt demselben einen innern Werth zu, indem es den Geist über die irdischen Dinge erhebt, die Leidenschaften mäßigt, das Herz tröstet, das Gemüth erquickt u. den Willen zum Guten anspornt; aber auch einen äußern Werth, indem es mit der Änderung der menschlichen Schicksale in einem gewissen Zusammenhange steht, welcher sich freilich nicht immer begreifen läßt. Sie verlangt deshalb, daß man mit Andacht, Ergebung u. Beharrlichkeit betet, überläßt es aber dem Betenden, ob er aus dem Herzen od. nach Gebetsformularen mit Gott reden will. Eine besondere Art des G-s ist das G. im Namen Jesu (Joh. 14, 13 ff., 16, 26 ff.), womit man im Allgemeinen jede Bitte bezeichnet, welche nach ihrem Zweck wie nach ihrem Gegenstande ganz dem Geiste Christi entspricht, od. welche sich auf sein Reich u. seine Sache überhaupt bezieht. Zur Erleichterung des G-s hat man außer dem Vaterunser Gebetsformeln, Gebetsvorschriften, Formulargebete, d.h. G-e, welche Andere, entweder weil sie nicht mit eignen Worten zu beten vermögen, od. sich dadurch zum G. erwecken u. sich deshalb erleichtern wollen, beten od. nachbeten. Es gibt besondere Kirchengebete für verschiedene Feste, Veranlassungen etc., die entweder in der Agende, od. in besondern Kirchengebetbüchern enthalten sind u. die bei verschiedenen Confessionen u. an verschiedenen Orten entweder vor od. nach der Predigt verlesen werden. In ihnen wird gewöhnlich für den Landesherrn, auch wohl für den Kirchenpatron gebeten, u. im Orient war das Aufnehmen des Herrschers in das Kirchengebet ein Zeichen seiner Anerkennung, wenn er auch Usurpator war. Die Katholische, so wie auch die Englische Kirche hält streng auf den Gebrauch der vorgeschriebenen G-e (vgl. Liturgie, Sacramentaria, Psalteria, Brevier, Kanonische Stunden u. ähnl. Artikel), während die übrigen Protestanten den Predigern hierin mehr Freiheit gestatten. Die Quäker, Socinianer u. Arminianer verwerfen den Gebrauch der Gebetsformein als dem wahren Herzensgebet hinderlich u. weil weder Christus noch die Apostel Gebetsformeln gebraucht od. vorgeschrieben haben (das Vaterunser sei blos eine Gebetsanweisung). Spener suchte nur den Mißbrauch derselben einzuschränken. Obgleich nicht zu verkennen ist, daß das G. eigentlich der reine Erguß des Herzens ist, so sind doch nicht nur für das Volk, welches nicht aus eigner Kraft zu beten vermag, wie es soll, sondern auch für den Gebildeten, welcher nicht immer zu dieser Übung gestimmt ist u. der äußern Anregung seiner Gefühle bedarf, u. für die öffentlichen Andachtsübungen überhaupt vorgeschriebene G-e nothwendig, u. wenn dieselben ihrem Zweck entsprechen, sehr heilsam. Empfehlungswürdige Gebetbücher sind von Tobler, Sander, Rosenmüller, Hundeiker, Wolfrath, Zollikofer, Meister, Ewald, Thieß, Baur, Lpz. 1805, Dyckhoff, Münster, 2. A. 1820, Flatt, Stuttg. 1821, 2 Bde., Witschel (Morgen- u. Abendopfer), 11. A. Sulzb. 1848, u.a.; Jahrbuch der häuslichen Andacht, Gotha 1829–37. Vgl. Rehm, Historia precum biblica, Gött. 1814; Cramer, Vom G., Hamb. 1786; Die Lehre vom G. (in Predigten) von Velthusen, Lemgo 1770; von Leß, Gött. 1776 u. 1783; von Münter, Kopenh. 1789; Stäudlin, Geschichte der Vorstellungen u. Lehren vom G., Gött. 1824; Tauberth, Die christliche Lehre vom G. historisch-exegetisch bearbeitet, Wurzen 1855.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 7. Altenburg 1859, S. 26-27.
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