[416] Wahrscheinlichkeit – Es ist nicht länger als 200 Jahre her, daß der Begriff Wahrscheinlichkeit, der eben damals eine ungenaue und nicht ganz gewisse Wahrheit zu bezeichnen angefangen hatte, scheinbar in die strenge Wissenschaft eingeführt wurde. Durch geniale Mathematiker, welche sich die Aufgabe stellten, die Chancen bei einer Wette genau zu berechnen. Man braucht bloß alle Glückspiele, besonders die Würfelspiele, als Wetten zu betrachten, um einzusehen, daß es ein bestimmtes Zahlenverhältnis gibt zwischen allen möglichen Fällen und dem einen, den der Spieler gern haben möchte. Ein Würfel zeigt sechs verschiedene Zahlen; der höchste Wurf ist nur einer von diesen sechs Fällen. Die Berechnung kann immer komplizierter werden, kann (in der Versicherungsmathematik) sogar mit Hilfe der Sterbetafeln auf eine unbestimmt große Zahl von Fällen ausgedehnt werden. Aber »die statistischen Wahrscheinlichkeiten erfüllen nie die für die mathematischen Wahrscheinlichkeiten zutreffenden Grundbedingungen«. (A. Loewy im Versicherungs-Lexikon von Manes, S. 1541.)
Als die Wahrscheinlichkeitsrechnung, von Pascal und Fermat begründet, durch Jacob Bernoulli und seine Nachfolger in ein strenges System gebracht worden war, knüpfte man an diese »allgemeine Logik des Ungewissen« bald ausschweifende Hoffnungen. Condorcet besonders erwartete von der Wahrscheinlichkeitsrechnung einen Sieg der Aufklärung; er sagt (Essai sur l'Application): »Si au lieu de juger par cette impression qui multiplie[416] ou axagède une partie des objets, tandis que'elle atténue ou empèche de voir les autres, on pouvait les compter ou les évaluer par le calcul, notre raison cesserait d'être l'esclave de nos impressions.« Und Laplace ruft am Ende seines sehr lesenswerten »Essai Philosophique sur les Probabilités« stolz aus: »Il est remarquable qu'une science qui a commencé par la considération des jeux, se soit élevée aux plus importants objets des connaissances humaines.«
Ich möchte gegenüber diesen unklaren Vorstellungen von einer Wahrscheinlichkeitswissenschaft nur an zwei Punkten einsetzen, um den Begriff der Wahrscheinlichkeit zu klären. Erstens möchte ich nachweisen, daß der mathematische, also wissenschaftliche Begriff der Wahrscheinlichkeit den populären Begriff nur in rechnerische Formeln des niedern oder höhern Kalküls bringt, den Begriff selbst aber nicht im mindesten verbessert hat; zweitens möchte ich zeigen, daß die Wahrscheinlichkeitsrechnung, welche für die Vorausberechnung der Zukunft (Wetten) erfunden worden ist, bei ihrer Anwendung auf die Vergangenheit historischer Tatsachen, wieder über den populärsten Begriff nicht hinausgelangt. Ich muß etwas über die Wortgeschichte vorausschicken.
Die deutschen Worte wahrscheinlich und Wahrscheinlichkeit sind noch nicht alt, sind erst durch Zesen und Thomasius, wahrscheinlich aus dem Niederländischen, bei uns eingeführt worden, ungefähr zu der gleichen Zeit, da Jacob Bernoulli die neue Disziplin der Wahrscheinlichkeitsrechnung begründete. Heute noch drückt das Adjektiv ausschließlich die populäre Wahrscheinlichkeit aus, nur mit dem Substantiv kann man etwa den Grad der Wahrscheinlichkeit bezeichnen. Wahrscheinlich heißt in der Gemeinsprache, was auch Kant in eine mathematische Form gebracht hat: »dasjenige was mehr als die Hälfte der Gewißheit auf seiner Seite hat... was einen Grund des für wahr halten für sich hat, der größer ist als die Hälfte des zureichenden Grundes«. Die scheinbar so genaue Definition erklärt doch nur den landläufigen Begriff. Die mathematische Wahrscheinlichkeit ist der genaue Quotient der interessanten Fälle durch die möglichen.[417]
Wahrscheinlich, vraisemblable sind Übersetzungen von verisimilis. Das deutsche Wort setzte sich nur langsam durch. Bis ins 17. Jahrhundert hinein versuchte man es genauer mit: der Wahrheit ähnlich, wahrähnlich. Probabilitas, la probabilité wurde zuerst genau übersetzt mit Schein der Wahrheit.
Das französische probable und probabilité ist für die Wahrscheinlichkeitsrechnung terminus technicus geworden. Das Wort ist – wie gesagt – glücklicher gewählt als das deutsche wahrscheinlich; aber es führt doch ein seltsamer Weg vom lateinischen probabilis (dokimastikos das Geprüfte, Taugliche, Beifallswerte) zu dem mathematischen Begriffe, der bei den Alten doch nur in seinem populären Nebensinne vorkommt. Offenbar gilt ein Satz dann für mathematisch probabel, wenn eine beifallswerte logische Schlußfolgerung auf ihn geführt hat. Enthielt diese Schlußfolgerung nur einen Bruchteil des zureichenden Grundes, so war der Schluß nur in gleichem Maße probabel, und endlich hießen dann alle die Fälle, die diesem Verhältnisse entsprachen, gleichfalls probabel, Ich habe schon auf die Möglichkeit hingewiesen (vgl. Art. Wahrheit), daß glauben einst lat. probare übersetzt haben konnte. Es war eine schlimme Ungenauigkeit, dieses probabel mit günstig zu übersetzen. Die neue Disziplin der Algebra der Logik, welche zuerst die Wahrscheinlichkeit in die alten, starren Schlußfiguren eingeführt hat, täte gut daran, einen neuen Terminus zu schaffen. Wenn probabel dem populären wahrscheinlich oder gar dem freundlichen Worte günstig entspräche, dann wäre der Probabilismus der Jesuiten, der bei Pflichtenkollisionen der Wahrscheinlichkeit der menschlichen Leidenschaften günstig entgegenkam, nicht so schlimm gewesen, wie Pascal und Voltaire meinten. Und er war nicht so schlimm, wenn man von den Konsequenzen absieht, welche die Kirche gezogen hat. Haben doch strenge Moralisten dem Probabilismus einen verständigeren Probabiliorismus entgegenstellen zu müssen geglaubt.
Ich brauche nicht noch einmal darauf aufmerksam zu machen, daß die deutsche Wortbildung wahrscheinlich dem Sinne des Begriffes nicht entspricht; mit einem Scheine, also mit einer falschen Wahrscheinlichkeit, hat weder der populäre[418] noch der mathematische Begriff der Wahrscheinlichkeit etwas zu tun.
Wahrscheinlich heißt in der Gemeinsprache ein Ereignis oder ein Satz, kurz etwas, das man ohne völlig zwingende Gründe dennoch für wahr oder für sicher hält. In der Gemeinsprache bezeichnet wahrscheinlich ein Gefühl, das wir der Vorstellung einer Tatsache, deren wir nicht unmittelbar gewiß sind, entgegenbringen: das Gefühl der Erwartung. Wir erwarten mit Sicherheit, ein vergangenes Ereignis bestätigt zu hören, das uns von vielen Zeugen berichtet worden ist. Wir erwarten mit der äußersten Sicherheit, daß auf den Sommer der Winter folgen, daß die Sonne morgen aufgehen werde. Wir erwarten mit abnehmender Sicherheit, daß der Würfel beim nächsten Wurfe nicht 6 zeigen werde, wenn er vorher dreimal hintereinander 6 gezeigt hat, daß ein Mann von 70 Jahren binnen der nächsten 10 Jahre sterben werde. Dieses Gefühl der Erwartung, das die Gemeinsprache durch den Begriff Wahrscheinlichkeit ausdrückt, gehört also einzig und allein der psychologischen Welt an. Der einfache Mann, aber auch der bewußt handelnde Gelehrte läßt sich bei diesem Gefühle nicht von logischen Erwägungen allein leiten. Der Spieler besonders, dessen neugierige Fragen die ganze Disziplin zuerst angeregt haben, folgt nur selten der Wahrscheinlichkeitsrechnung, auch wenn er sie kennen sollte. Die psychologischen Motive, die auf ihn wirken, sind ganz unlogischer und unmathematischer Art. Hoffnung oder Furcht bestimmen ihn je nach seinem bleibenden Temperament, je nach seiner augenblicklichen Stimmung; und zu manchem andern Aberglauben tritt beim leidenschaftlichen Spieler auch noch die Vorstellung, daß er nach seinen bisherigen sog. Erfahrungen immer Glück habe, beziehungsweise Unglück. Sein Interesse und seine Phantasie spiegeln ihm lebhaft (ohne Angabe von Gründen) einen günstigen Ausgang seiner Wette vor; und die Lebhaftigkeit der Phantasie erzeugt in ihm das Gefühl der Wahrscheinlichkeit, der frohen Erwartung, des Glaubens.
Ich kann es mir nicht versagen, hier auf die Beziehungen dieses Gefühls zu dem Wahrheitsbegriffe hinzudeuten. Wir[419] haben ja gesehen, daß Wahrheit und Glaube sehr nahe Begriffe sind, daß wir wahr nennen, was wir für wahr halten. Besonders: ein Urteil, das wir bejahen, das wir loben müssen. Hätten wir nicht das verunglückte Wort wahrscheinlich eingeführt, hätten wir eine gute Lehnübersetzung von probabel vorgezogen, – wie sie meines Erachtens in glaublich (Notker: geloublîh) schon vorlag – so klänge nicht so paradox, was ich jetzt zu sagen habe: das Wahrscheinliche ist wahr. Ce qui est probable est vrai.
Diesem populären, subjektiven Begriffe der Wahrscheinlichkeit glaubt die Mathematik einen wissenschaftlichen, einen objektiven Begriff der Wahrscheinlichkeit gegenüberstellen zu können. Dem psychologischen Begriffe der Erwartung einen gewissermaßen naturwissenschaftlichen Begriff, welcher (auf Gebieten wenigstens, die die Anwendung des Gesetzes größter Zahlen zulassen) Voraussicht der Zukunft gestattet. Es ist nun gegenüber dem einseitig mathematischen Standpunkt der Mathematiker und gegenüber dem Aberglauben der Leute, welche die sog. statistischen Gesetze mit sog. Naturgesetzen verwechseln, nützlich zu wiederholen, was ein ganz gesunder Menschenverstand von jeher begriffen hat: daß nämlich die Wahrscheinlichkeitsrechnung die Gründe für das Gefühl unserer psychologischen Erwartung nur systematisch ordnen kann, auf das Gefühl dieser Erwartung aber im einzelnen Falle wenig Einfluß nehmen soll. Die Sache ist am einfachsten Beispiel ganz deutlich zu machen. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Wurf mit zwei Würfeln eine Doppelsechs bringen werde, ist nach den Regeln genau gleich 1/36; die Wahrscheinlichkeit, daß eine solche Doppelsechs zehnmal hintereinander herauskommen werde, ist sehr, sehr viel kleiner. Trotzdem: wenn ein außerordentlicher Zufall neunmal hintereinander eine Doppelsechs gebracht hat, so entspricht zwar das psychologische Gefühl der Erwartung ungefähr dem kleinen Bruche, den die Rechnung für eine zehnmalige Wiederholung der Doppelsechs ergeben hat (man ist von dem Zufalle äußerst überrascht), aber im Grunde ist und bleibt die mathematische Wahrscheinlichkeit, daß nach neun aufeinanderfolgenden Doppelsechsen wieder eine Doppelsechs komme, um[420] nichts kleiner als das erstemal; die Wahrscheinlichkeit ist wieder 1/36. Um viel kompliziertere Fälle steht es ebenso. Das statistische Verhältnis zwischen Knaben- und Mädchengeburten, die Statistik der Sterbetafeln, der Eheschließungen, der Kriminalität usw. kann für große Zahlen merkwürdig feste Proportionen aufstellen; im einzelnen Falle aber bleibt die ursprüngliche Wahrscheinlichkeit bestehen; vor der Geburt eines Kindes ist die Wahrscheinlichkeit, es werde ein Knabe sein, beinahe gleich 1/2, einerlei, ob vorher zufällig hintereinander tausend Knabengeburten oder tausend Mädchengeburten im gleichen Zählungsgebiete stattgefunden hatten. Das Verhältnis aller möglichen Fälle zu den sog. günstigen Fällen wirkt gleicherweise auf das psychologische Gefühl der Erwartung und auf die mathematische Formulierung des Verhältnisses ein; es ist aber gleichwohl ein Sprachfehler, daß wir das Gefühl der Erwartung und die mathematische Formel des Verhältnisses mit dem gleichen Worte Wahrscheinlichkeit benennen. Selbst J. St. Mill, der doch ganz richtig erkannt hatte, daß Wahrscheinlichkeit das Gefühl der Erwartung ausdrücke, versah es darin, daß er in der Wahrscheinlichkeit einen Namen sah für die Stärke des Grundes einer Erwartung; wenn mit Stärke die Quantität der mathematischen Wahrscheinlichkeit gemeint ist, dann ist diese Stärke nicht identisch mit der Stärke des Erwartungsgefühls. Wir nennen ja auch die Töne und Farben nicht mit den Ziffern der Schall- und Lichtschwingungen. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß die Vergleichung hinkt. Die Besonderheit der sprachlichen Unklarheit, mit der wir die objektive Wahrscheinlichkeit und die subjektive Wahrscheinlichkeit mit dem gleichen Worte bezeichnen, ist höchst bemerkenswert: die Kenntnis der Akustik und der Optik hat fast keinen Einfluß auf unsere Ton- und Farbenempfindungen; die Kenntnis der objektiven Wahrscheinlichkeit dagegen beeinflußt die subjektive Wahrscheinlichkeit (unser Gefühl der Erwartung) sehr stark, trotzdem die Wahrscheinlichkeitsrechnung nur für große Zahlen richtig ist und auf den einzelnen Fall – wie gesagt – keine Anwendung findet.
Noch einmal: die Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung[421] ordnen nur systematisch nach dem niedern oder hohem Kalkül (entsprechend der Schwierigkeit der Aufgaben) die Proportion zwischen allen möglichen Fällen und den Fällen, auf welche wir unsere Aufmerksamkeit zu richten eine psychologische Ursache haben; Naturgesetze liefert die Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht, auch dort nicht, wo wir Naturerscheinungen nach Verhältnissen ordnen, die uns interessieren. Wo wir z.B. eine scheinbare Logik des Zufalls in den Ziffern der Wahrscheinlichkeitsrechnung ausdrücken, wie in den statistischen Unterlagen der Versicherungstechnik. Auch diese Betrachtung lehrt uns, einen wichtigen Begriff der Wahrscheinlichkeitslehre als irreführend zu verwerfen.
Wenn ein Planetendurchgang durch die Sonne auf den Bruchteil einer Sekunde genau trifft, so nennt der Mensch das gesetzlich. Wenn eine Kanone nach allen Gesetzen der Mechanik, Chemie und Ballistik konstruiert, geladen und gerichtet worden war und die Kugel nachher genau oder weniger genau das Ziel telos (Zweck) trifft, so sprechen wir, wie gesagt, von einem günstigen oder ungünstigen Zufall. Man sollte dabei nicht vergessen, daß wir beim Venusdurchgang ein Interesse an der Fehlergrenze von einem Kilometer nicht haben. Im Worte günstig ist das Interesse ausgedrückt. Der Artillerist begnügt sich mit einer Statistik, die beim Schießen eine Mehrzahl günstiger Fälle verspricht.
Und da ist es beachtenswert, daß dieses Werturteil sich sogar in die streng mathematische Behandlung des Zufallsbegriffs eingeschlichen hat. Auch Laplace kann die Wahrscheinlichkeit nicht anders formulieren als: das Verhältnis aller möglichen Fälle zu den günstigen. Die Wahrscheinlichkeit wird ausgedrückt durch einen Bruch, dessen Zähler von den günstigen Fällen, dessen Nenner von allen möglichen Fällen gegeben wird. Es ist erstaunlich, daß die Mathematiker da zu einer so menschlichen Sprache heruntergestiegen sind. Denn offenbar ist der Ausdruck günstig ganz falsch. Wenn in einen Beutel eine schwarze Kugel getan wird und 99 weiße, dann hundertmal eine Kugel herausgezogen und wieder zurückgelegt wird, so ist es an sich möglich, daß der günstige Fall hundertmal eintritt. Ebenso bei allen Karten- und Würfelspielen. Ebenso (nur daß da die Lebensdauer[422] des Menschen engere Grenzen zieht) bei statistischen Einzelfällen nach den Sterbetafeln. Man sollte den irreführenden Ausdruck günstige Fälle – der wohl aus kirchlicher Kasuistik stammt – doch ersetzen etwa durch interessierende oder erwartete Fälle. Denn nur dadurch unterscheiden sich die sog. günstigen Fälle von allen möglichen Fällen, daß die ersten von einem interessierten Menschen erwartet werden, daß er nach ihnen fragt; für die Wirklichkeit, für die Natur gibt es nur gleich mögliche Fälle, keine günstigen, weil die Natur oder die Wirklichkeitswelt kein Interesse und keine Erwartung kennt. Aber die Mathematiker hatten so unrecht nicht, wenn sie sich um die Vorstellungen der Gemeinsprache und auch um die Wahl des Terminus nicht sonderlich kümmerten. Sie hatten mit der Ausrechnung der neuen Disziplin genug zu tun. Sie wußten besser als Spieler und Wettende, daß die mathematische Disziplin der Wahrscheinlichkeitsrechnung für den einzelnen Fall nichts, aber auch gar nichts voraussagt, daß sie mit der mathematischen Bruchformel für den Spieler und den Wettenden wissenschaftlich nur die quantitative Wahrscheinlichkeit gibt, mit der er den Zufall bei jedem einzelnen Wurf usw. erwarten kann. Nicht erwarten darf oder soll. Und Erwartung ist doch ein recht menschliches Gefühl. Wenn Versicherungsgesellschaften und die Bank von Monaco auf Grund dieser wissenschaftlich errechneten Erwartung Geschäfte machen, und sogar recht gute Geschäfte, so liegt der Grund bekanntlich darin, daß das Gesetz der großen Zahlen die Erwartungen bestätigt. Der einzelne Spieler oder Wettende könnte bei ehrlichem Spiel (nicht ganz so in Monaco) ebenso gute Geschäfte machen, wenn sein Privatvermögen und seine Lebensdauer ihn befähigte, das Gesetz der großen Zahlen abzuwarten. Für den einzelnen Fall des Würfels, der Spielkarten der Lebensversicherung sagt die Wahrscheinlichkeitsrechnung nichts, herrscht der Zufall, den der Spieler darum besonders leicht zu personifizieren geneigt ist (vgl. Art. Zufall).
Ganz anders als um den Unterschied der objektiven Wahrscheinlichkeit oder der mathematischen Wahrscheinlichkeitsformel und der subjektiven Wahrscheinlichkeit oder dem Gefühle einer[423] Erwartung steht es um den zweiten Punkt, den ich etwas aufklären wollte: den Unterschied zwischen einem zukünftigen und einem vergangenen Ereignisse in bezug auf ihre Wahrscheinlichkeit. Die Wahrscheinlichkeitslehre ging, wie gesagt, von der Berechnung der Chancen aus, die ein Spieler seinem Risiko zugrunde legen dürfte; erst später wurde die Wahrscheinlichkeitsrechnung viel wichtiger, als sie in der Versicherungstechnik auf die durchschnittliche Voraussage andrer künftiger Ereignisse übertragen wurde. Wir werden gleich aus einem Beispiele sehen, wie unlogisch selbst ein Pascal zu denken begann, als er die ersten Wahrscheinlichkeitsregeln auch auf die Wahrscheinlichkeit vergangener Ereignisse, historischer Daten ausdehnen wollte. Es handelt sich dabei um nicht mehr und um nicht weniger als um die Wahrscheinlichkeit der Geschichte und ihrer Quellenangaben. Um es kurz zu sagen: hier wird der Begriff der Wahrscheinlichkeit ganz und gar gedankenlos mit dem Begriffe der Wahrheit identifiziert. Die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit hat für gewöhnlich mit dem Gefühle der Erwartung nichts zu tun.
Will man jedoch den Begriff der Wahrscheinlichkeit dennoch auf die Geschichte anwenden, so muß man sagen, daß es sich da immer um eine multiplikative Wahrscheinlichkeit handelt und der Quotient, der die Wahrscheinlichkeit ausdrückt, immer kleiner wird, je mehr psychologische Motive bei dem Ereignisse mitgewirkt haben müssen und je weiter die Ereignisse und ihre Quellen zurückliegen. Die Gefangennahme Napoleons III. ist mit allen Nebenumständen recht sicher bestimmt; die Gefangennahme Napoleons des Großen ist in den Nebenumständen unsicher. Der Ausgang der historischen Schlachten ist dem Geschichtsschreiber meistenteils gut bekannt, der Gang der Schlachten aus alter Zeit ganz ungewiß. Der Wert der Wahrscheinlichkeit verringert sich auch mit der Zahl ihrer Faktoren. Völkergeschichten sind immer recht unwahrscheinlich. Noch unwahrscheinlicher die Angaben z.B. über Sprachgeschichten oder gar über die Verwandtschaftsgeschichte der einzelnen Sprachstämme oder endlich gar über die gemeinsame Abstammung aller Menschensprachen. Wendet man die Wahrscheinlichkeitsrechnung[424] auf solche Angaben historischer Art an, so ergibt die Rechnung einen hohen Grad der Unwahrscheinlichkeit; wollte man gar die sogenannte Schöpfung der Welt auf ihre Wahrscheinlichkeit hin prüfen, so ergäbe der Quotient eine Unwahrscheinlichkeit, die hart an der Grenze der Unmöglichkeit stünde.
Bevor ich diese Rechnung in halbem Scherze ausführe, will ich zeigen, wie schwer es im Beginne der Disziplin der Wahrscheinlichkeitsrechnung war, die neuen Regeln auf vergangene Ereignisse auszudehnen. Selbst für einen Pascal.
Geistreich, scharfsinnig und fromm, kurz der ganze Pascal, ist sein Discours où l'on fait voir qu'il y a des Démonstrations d'une autre espèce, et aussi certaines que celles de la Géométrie. Pascal meint, die Gewißheit, daß die Nachricht von dem berühmten großen Brande Londons (2.9.1666) wahr gewesen sei, sei größer als irgendeine noch so große mathematische Wahrscheinlichkeit. Es wird die Wette vorgeschlagen: wenn du zwanzigmal nacheinander mit drei Würfeln drei Sechsen wirfst, wirst du umgebracht; kommen die drei Sechsen nicht zwanzigmal nacheinander, so wirst du Kaiser. Wer auch nur einen Augenblick zögerte, diese Wette anzunehmen, hieße ein Narr; so groß sei die Unwahrscheinlichkeit, zwanzigmal hintereinander 18 zu werfen. Und dennoch wäre es noch unendlich extravaganter oder verrückter, daran zu zweifeln, daß London gebrannt habe. Nous sentons fort bien cela est d'une autre nature, et que nous n'en sommes pas moins persuadés que des premiers principes.
Pascal hat ganz recht, wenn er die andre Natur betont. Er verwechselt aber ganz einfach die subjektive Überzeugung mit dem objektiven Grunde der Überzeugung; für den objektiven Grund gibt es eine Ziffer des Maßes, die nüchterne Wahrscheinlichkeitsrechnung, für das Gefühl der Sicherheit gibt es ein solches Maß nicht. Dafür, daß die Sonne morgen wieder aufgehen werde, gibt es (abgesehen von den Schlüssen der Astronomie, die doch wieder nur Analogieschlüsse sind) ziffernmäßig eine äußerst hohe Wahrscheinlichkeit, aber keine absolute; unsere Sicherheit aber ist absolut. Nicht weniger absolut übrigens, als unsere gewöhnliche Sicherheit, daß unser Schiff nicht scheitern,[425] unser Eisenbahnwagen nicht entgleisen werde; nur daß die Sicherheit auf dem Schiff, im Waggon sofort schwindet, ja einer im Verhältnis zur Statistik übertriebenen Unsicherheit Platz macht, sobald wir an die Möglichkeit eines Unfalls denken; die Möglichkeit, daß die Sonne morgen nicht aufgehen werde, wird aber niemals Furcht, wird eigentlich nicht einmal zu einer faßbaren Vorstellung, bleibt nur ein Spiel der Phantasie.
So jung waren damals die Begriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung, daß Pascal sofort den zweiten Fehler begeht, die Erwartung einer Tatsache und die Tatsache selbst nicht genau auseinander zu halten. Er trägt das alte Beispiel vor: welche Wahrscheinlichkeit liegt vor dafür, daß ein Blinder, der zusammengeworfene Buchstaben nacheinander aufgreift, zufällig eine Rede Ciceros zusammenstellen werde? das sei etwas ganz andres als die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Londoner Brandes. Auf den Brand sei eine Wette unmöglich (warum unmöglich?), ebenso auf den blinden Setzer, wenn ihm das Kunststück gelungen wäre. Pascal sieht nicht, daß in beiden Fällen darauf gewettet werden kann, ob die Behauptung sich bewahrheiten werde, nicht auf die Tatsache, die der Vergangenheit angehört, geht auch beim Brande die Wette, sondern auf die zukünftige Bewahrheitung.
Nun sagt Pascal: daß ein Blinder die Rede zufällig treffe, sei immer noch eher möglich, als daß ein ungebildeter, geistloser Mensch (selten mag selbst in der Akademie einem ein feineres Kompliment gemacht worden sein) die letzte Ansprache des Herrn Präsidenten gehalten hätte; trotzdem die Buchstaben in allen Sprachen weit mehr Kombinationen ergäben, als die Worte der französischen Sprache in dieser allein.
Leute, die Rom nie selbst gesehen haben, sind absolut davon überzeugt, daß Rom wirklich existiere; es sei ja ungereimt anzunehmen, die unzähligen Menschen, die von Rom als von einer wirklich existierenden Stadt berichteten, hätten sich zu einer Lüge verbunden; und niemand hätte je die Wahrheit gesagt. Pascal verwechselt wieder psychologische und mathematische Wahrscheinlichkeit; es ist, mathematisch gedacht, wirklich nicht absolut unmöglich, daß Rom niemals existiert habe,[426] daß ein Geisteskranker einmal Worte lalle, die genau mit einem akademischen Vortrage übereinstimmen. Nur daß wir mit einer solchen minimalen Möglichkeit nicht rechnen, daß wir Narren wären, wollten wir mit ihr rechnen.
Pascal hat aber all diese Schnitzer gemacht, um schließen zu können: »Il s'ensuit qu' il y a des choses non démontrées, plus certaines, pour ainsi dire, que des démonstrations. La Religion Chrétienne assurément est de ce genre.« Pascal hat also im vollen 17. Jahrhundert noch leugnen dürfen, daß die Wahrheit des Christentums schon oft angezweifelt worden war, hat nicht geahnt, daß die Wahrheit des Christentums bald darauf von allen Intellektuellen unter seinen Landsleuten angezweifelt werden würde; Pascal hätte es für absolut unmöglich gehalten, daß man zweihundert Jahre später die historische Existenz Jesu Christi anzweifeln würde, so ernsthaft, wie niemals einem Menschen eingefallen ist, die Existenz von Rom oder die historische Existenz von Julius Cäsar anzuzweifeln.
Nun aber zu dem Versuche, eine Wahrscheinlichkeitsrechnung darüber anzustellen, ob die Welt, was wir so Welt nennen, durch eine höchste menschenähnliche Intelligenz oder durch einen blinden Zufall entstanden sei. Zufall oder Absicht, dieser Gegensatz spielt natürlich auch in das uralte, eben schon zweimal angeführte Gleichnis hinein, das wahrscheinlich von Epikuros erfunden und von Lucretius umgedichtet, gewiß aber von Cicero abgeschrieben worden ist. Ich will es in einer heute verständlicheren Fassung vortragen.
Das Dasein Gottes soll daraus bewiesen werden, daß die Schönheit und Ordnung der Welt ohne absichtsvollen Schöpfer, durch reinen Zufall also ebenso höchst unwahrscheinlich sei, wie die Herstellung der Faustdichtung etwa dadurch, daß ein ungeheurer Setzerkasten umgeworfen würde und die Lettern und andre Satzzeichen sich zufällig in der Reihenfolge von Goethes Faust geordnet hätten. Die Unwahrscheinlichkeit für eine solche Herstellung des Faust ist wirklich ungeheuer groß. Größer, als die Phantasie sie vorstellen kann. Auch wenn man die übertolle Annahme, die Lettern könnten sich im Raume auch noch[427] zu Zeilen ordnen, beiseite läßt und an die Wahrscheinlichkeit eines unendlich günstiger liegenden Extrazufalls denkt. So etwa: eine deutsche Schreibmaschine oder Setzmaschine gelangt in die Hände eines Chinesen, der von der deutschen Sprache und von deutschen Buchstaben keine Ahnung hat, der aber unverdrossen auf den Tasten herumtippt, wochenlang oder monatelang, und die Maschine auch sonst richtig bedient. Ich habe mir nun den Spaß gemacht, die Wahrscheinlichkeit für den Zufall näherungsweise zu berechnen, daß bei diesem blinden Herumtippen just Goethes Faust herauskomme. Auf einige Dezimalstellen in der Mantisse des Logarithmus kommt es nicht an. Auch habe ich großmütig die Wahrscheinlichkeit dadurch erhöht, daß ich einen Faust mit 100 Druckfehlern noch als Faust anerkannte, also überaus zahlreiche günstige Fälle anstatt eines einzigen theoretisch geforderten annahm. Zum Faust sind etwa 300000 Buchstaben nötig. Die Wahrscheinlichkeit nun, bei jedesmaligem Tippen gerade den richtigen Buchstaben zufällig zu treffen, ist nicht ganz klein, fast 1/100, weil gegen 100 verschiedene Zeichen im ganzen vorhanden sind. Da aber nach elementaren Regeln die Wahrscheinlichkeit, so zufällig den ganzen Faust herzustellen, bei 300000 Buchstaben gleich ist dem Produkte von 300000 Partialwahrscheinlichkeiten, so berechnet sich die Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Entstehung des Faust auf 1/100 ³°°°°°, das ist auf einen Bruch, dessen Zähler 1 ist, dessen Nenner eine ganze Zahl von 600000 Ziffern. Auch die Einbildungskraft der Inder, auch das mathematische Genie des Archimedes könnte diesen Nenner nicht fassen. Seine Zahl ist namenlos. Also waren die Griechen und Römer im Recht, wenn sie die zufällige Herstellung eines wohlgeordneten Ganzen für äußerst unwahrscheinlich erklärten. Die Grenze der Unmöglichkeit ist erreicht. Und die Griechen und Römer hätten auch den Schluß, daß also die sinnreiche Herstellung des Faust durch einen Schöpfer höchstwahrscheinlich oder so gut wie gewiß sei, mit dem gleichen Rechte auf die Existenz eines Weltschöpfers übertragen können, wenn nur diese Übertragung oder Metapher, wenn nur die ganze Fragestellung nicht so unsäglich[428] albern wäre. Nichts liegt mir ja ferner als der Glaube an die zufällige Entstehung auch nur des Wunderbaues einer Mücke im Sinne des Materialismus. Durch materiellen Zufall ist die Entstehung einer Mücke ebenso unwahrscheinlich, wie die des Faust. Der Darwinismus hat an den Unbegreiflichkeiten wirklich nicht viel geändert. Aber die Kopfarbeit des lieben Gottes, der nicht dreimalhunderttausend Elemente oder Buchstaben (mit Wiederholungen), sondern die Elemente der Welt unendlich mal (mit Wiederholungen) zu ordnen gehabt hätte, ist für Menschenvorstellung – wir haben wirklich keine andre – doch womöglich noch unwahrscheinlicher als eine zufällige Entstehung des Faust. Ich mag meine Rechnerei nicht auf den Grad der Unwahrscheinlichkeit einer Weltregierung und einer Vorsehung ausdehnen. Als man den einfachen Satz der Zahlentheorie entdeckte, daß die Quersumme eines Mehrfachen von 9 wieder durch 9 teilbar ist, da stand man starr vor dieser reizvollen Tatsache und verglich sie mit den Geheimnissen der Weltordnung. Die Zahlentheorie ist kein Geheimnis, ist auch kein Zufall, ist eine einfache Folge des Zahlensystems, das von Intelligenzen geschaffen worden ist. Was wir menschlich aber die Ordnung in der Welt nennen, das ist gewiß kein Zufall, das ist aber ein Geheimnis und wird ein Geheimnis bleiben für die Menschensprache, weil die Welt ebenso unmöglicherweise eine Intelligenz wie einen Zufall zur Ursache haben kann. Und hätten wir in unserer Sprache nicht Worte wie Gott, Welt, Schöpfung, schaffen usw., wir könnten so dumme Fragen gar nicht stellen.
Unter allen angenommenen Ereignissen der fable convenue, die Weltgeschichte heißt, ist der Anfang, der doch auch dazu gehört, der unklarste Begriff; der Anfang durch eine Schöpfung, durch eine intelligente Absicht, die allerunwahrscheinlichste Hypothese. Die sich aber sinnvoll der sinnlosen Zufallshypothese gegenüber durch Jahrtausende gehalten hat, weil die Menschensprache ein taugliches Werkzeug der Poesie ist.
Buchempfehlung
Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.
62 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro